LGBTQ 2022 – Erfolge und Rückschläge

(Buenos Aires, 01. Januar 2023, ANRed).- 2022 war für die LGBTQ-Gemeinschaft Argentiniens ein sehr bewegtes Jahr. Immer stärker wird der Ruf nach einer „transfeministischen Justiz“ – einem Rechtssystem, das die Genderperspektive mitberücksichtigt sowie Transvestit*innen und trans* Personen stärker beachtet. Trotz kleiner und großer Erfolge sind jedoch Gewalt und Hass nicht zurückgegangen. Hier einige der wichtigsten (guten und schlechten) Nachrichten, die 2022 das Land bewegten:

Freispruch von Higui

Drei Monate nach Jahresbeginn versetzte der Freispruch von Higui de Jesús die feministische LGBTQ-Bewegung in Freudentaumel. Im Oktober 2016 war Higui im Westen von Buenos Aires von einer Gruppe Männer lesbenfeindlich angegriffen worden. Sie setzte sich erfolgreich zur Wehr, und die versuchte Gruppenvergewaltigung endete für einen der Angreifer tödlich. Higui wurde wegen Totschlags angeklagt, saß acht Monate lang im Gefängnis und stand bis zum Tag ihres Freispruchs jahrelang unter Hausarrest.

Transfeminizide und Travestizide

Im letzten Jahr gab es vier Verurteilungen wegen wegen Trasvestiziden (Ermordung von trans* Personen) in vier Städten: Chaco, Misiones, Mendoza und Buenos Aires. Im März fiel in der Provinz Misiones im äußersten Norden Argentiniens das allererste Urteil wegen eines Hassverbrechens: Der 1. Strafgerichtshof von Posadas warf dem 33-jährigen Ramón Da Silva Mord, Feminizid und geschlechtsspezifisches Hassverbrechen vor und verurteilte ihn wegen der Ermordung seiner ehemaligen Partnerin Evelyn Rojas zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. „Das ist ein sehr wichtiger Präzedenzfall, besonders für non-binäre Menschen. Jetzt gibt es ein Vorher und ein Nachher hier in Misiones”, sagte der Strafrichter Martín Rau gegenüber der queeren Zeitung Presentes.

Ein weiterer historischer Fall ereignete sich im argentinischen Mendoza nahe Santiago de Chile: Wegen Transfeminizids der Kategorie heimtückischer Mord wurde ein ehemaliger Polizist zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Täter Darío Jesús Chaves Rubio hatte im Jahr 2020 die 27-jährige Melody Barrera umgebracht.

Gerechtigkeit für Fabiola Ramírez und Alejandra Salazar: Im Mai verurteilte ein Gericht in Chaco im nördlichen Argentinien Ramiro und Hernán Rodríguez zu 16 bzw. 19 Jahren Haft. Die Männer wurden des Mordes an Fabiola Ramírez schuldig gesprochen, einer jungen trans* Person, die sich besonders für die Rechte der LGBTQ-Community einsetzte. Ebenfalls lebenslang in Haft sitzt nun Rodrigo Keilis. Das hat ein Gericht in Buenos Aires entschieden und ihn damit des Mordes an Alejandra Salazar schuldig gesprochen. Trotzdem wurden die Morde an Alejandra und Fabiola verhandelt, ohne dass ein einziges Mal das Wort „Transvestizid“ fiel. Auch wurde in beiden Fällen kein Hassverbrechen und damit keine besondere Schwere der Schuld festgestellt.

Endlich neue Gesetze zu HIV, Hepatitis, Tuberkulose und anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen

Nach fünf Anläufen in sechs Jahren wurde nun ein neues Gesetz zu sexuell übertragbaren Krankheiten wie HIV, Hepatitis und Tuberkulose verabschiedet. „Dieses Gesetz wird definitiv mein Leben verändern”, freut sich Manuel Ferreiro, Koordinator für Buenos Aires des Netzwerks für positive Jugendliche und Heranwachsende (RAJAP). „Von der Diagnose HIV habe ich nur durch Zufall erfahren, durch einen Test, den ich für einen neuen Job machen musste und den ich dann auch nicht bekommen habe. Genau so geht es vielen Leuten immer wieder, das weiß ich. Und jetzt haben wir einen Gesetzesrahmen, der uns schützt.”

Überregionales Lesbentreffen in Córdoba

Am 26. und 27. Februar fand in La Bolsa in Córdoba der Tortazo statt. Die feministische Organisation Alerta Torta organisierte ein Lesbentreffen, bei dem die wichtigsten Themen und Forderungen in einer Agenda Tortx zusammengefasst werden sollen. Es war ein Wochenende voll mit Diskussionen, Workshops, Essen und Party.

Hassverbrechen und Transvestizide in Zahlen

Die trans*-Organisation La Rosa Naranja verzeichnet für 2022 mehr Tote als im Vorjahr: Sie zählte 67 soziale Travestizide, das heißt: vorzeitige und vermeidbare Todesfälle von Transfrauen, Travestis und Trans*-Personen. Hinzu kommen drei Morde an trans* Männern und mindestens sieben Fälle von Gewalt mit Todesfolge gegen trans* Personen.

  • Gleich zu Beginn des Jahres starb Aldana Lorenz, die am 22. Dezember 2021 attackiert worden war. Drei Tage später begab sie sich mit einem gebrochenen Schädel ins Krankenhaus Cullen in Santa Fe, wo sie am 3. Januar verstarb. Monate später identifizierte die Justiz ihren Bruder als Täter und steckte ihn in U-Haft. Zudem untersuchen Beamt*innen die Beteiligung ihrer Mutter– ihr wird Vernachlässigung vorgeworfen – und des Krankenhauspersonals, das erst zehn Tage nach der Einlieferung Aldanas die Polizei informierte.
  • Eine Woche nach Aldanas Tod entdeckte die Polizei die Leiche einer trans* Frau, die mit Messerstichen ermordet worden war. Nachbar*innen fanden die 46-jährige mit dem Nachnamen Giacobbi in Beccar im Norden der Hauptstadt.
  • Auch Fernanda López wurde Ende März Opfer eines Messerangriffs. Die 33-jährige trans* Person lebte in Concordia im Nordosten Argentiniens. Wieder waren es Nachbar*innen, die die Polizei über die verletzte Person am Boden verständigten. Fernanda erlag auf dem Weg ins Krankenhaus ihren Verletzungen.

 

Mehr Gewalt gegen die LGBTQ-Community im Winter

Besonders Mitte des Jahres stieg die Gewalt gegen trans* Personen. Im August wurde La Pancha Quebracho, ein Urgestein der Crossdresser-Bewegung, in ihrer Heimatstadt Mar del Plata ermordet. Im selben Monat wurde Alejandra Ironici, Pionierin im Kampf für trans* Rechte, in Santa Fe umgebracht. Alejandra Ironici war 43 Jahre alt und arbeitete als Koordinatorin der Bewegung für soziale, ethnische und religiöse Integration (Movimiento por la Integración Social, Étnica y Religiosa). Außerdem stieß sie wichtige Fortschritte in Sachen Menschenrechte für die trans* Community an. Sie war die erste, die einen Personalausweis mit geändertem Geschlecht erhielt. Sie arbeitete als Lehrerin im Bundesstaat Santa Fe. In Río Negro wurde die trans* Frau Sofía Vera erschossen. In der Berichterstattung nutzten Medienschaffende oft die falschen Pronomen und ihr altes Geschlecht. “Wir sehen den Vorfall als Hassverbrechen an. Wir lehnen es ab, wie über den Fall berichtet wird. Es ist mir zuwider, dass man unsere Selbstbestimmung überhaupt nicht anerkennt und uns noch immer mit dem männlichen Geschlecht anspricht”, empört sich Amira Cerca, Aktivistin und Mitglied der Assoziation für Trans* Personen und Sexarbeiter*innen gegenüber Presentes. In Salta im Nordwesten Argentiniens fiel Carina Guzmán einem Verbrechen zum Opfer. Zudem wurde Anfang September die trans* Person Nicol Ruiz in La Plata von ihrem Schwager auf den Kopf geschlagen und getötet. Niederschmetternde Nachrichten auch im Winter: In einem Gefängnis in Mar del Plata starb eine trans* Frau, weil ihr die medizinische Versorgung verwehrt wurde. Als man Sasha schließlich auf einer Krankenbahre aus dem Gefängnis trug, damit sie außerhalb medizinisch versorgt werden konnte, hatte sie in kürzester Zeit 30 Kilogramm Gewicht, ihr Augenlicht und viel Mobilität verloren. Ein Gedenkkomitee vor Ort beobachtete den Vorfall, forderte die genaue Aufklärung ihrer Todesumstände und der Frage, wieso ihr die gesundheitliche Versorgung vorenthalten wurde.

Angriffe auf LGBTQ-Personen auf der Straße, in sozialen Medien und in Clubs

2022 gab es in allen möglichen Orten des Landes Hassangriffe auf den Straßen und in Clubs. Außerdem brannte der legendäre Travesti-Treffpunkt Gotel Gondolín. Darüber hinaus wurde im April eine trans* Frau in einer Polizeistation während Unruhen in Buenos Aires missbraucht. Im Oktober wurde eine trans* Sexarbeiterin in San Martín nahe Buenos Aires angegriffen. Einen Monat erstatteten mehrere trans* Frauen in Catamarca an der Westgrenze Argentiniens Anzeigen wegen gewalttätiger Angriffe.

Hass über Datingplattformen

In den letzten Monaten des Jahres häuften sich außerdem Angriffe auf Datingplattformen wie Grindr: In Buenos Aires griffen zwei Männer den 34-jährigen Pablo Delía in seinem Haus an. Die drei hatten sich ebenfalls auf einer solchen App kennengelernt. Die Täter würgten ihn, wollten ihm Drogen verabreichen und schlagen. Es ist nicht der einzige Fall, in dem die beiden Männer als Täter gelten. “Sie machen Dates in den Sozialen Medien aus, nur um jemandem zu schaden: Oft führen sie ihren Opfern Drogen zu und verletzen sie”, so der Theaterdirektor, Dramaturg und Dozent Delía gegenüber Presentes. In seinen Instagram-Stories erzählte er, es gebe „mehr als fünf Fälle, in denen genau diese Person jemandem Drogen zuführt, sie bestiehlt oder Gewalt antut”.

Versuchter Mord an einer Lesbe in der Hauptstadt

Ebenfalls in Buenos Aires im Viertel Almagro ereignete sich nur wenig später ein Fall eines versuchten Lesbizid – ein Mord an einer lesbischen Person. Marta und Josefina hatten schon zuvor mehrere Fälle von Belästigung angezeigt: Anschreien, Beschimpfungen und physische Gewalt. Ihre früheren Beschwerden waren jedoch abgewiesen worden. Am 30. Oktober drang ein Mann in ihr Haus ein, schlug Marta Zelaya bewusstlos und übergoss sie mit Acrylfarbe, so dass sie fast erstickte. Sie wurde von ihrer Partnerin Josefina Flores gefunden. Sie erstatteten Anzeige bei der Polizeistation 3A. Die Polizei bezeichnete den Vorfall als „leichte Verletzungen“.

2022er Volkszählung berücksichtigt non-binäre Identitäten

Einer der größten Fortschritte der 11. Volkszählung Argentiniens war die Einführung einer neuen Frage zum Geschlecht. So wurde zunächst nach dem zugeteilten Geschlecht nach der Geburt gefragt. Die drei Antwortmöglichkeiten lauteten:

  • Frau/weiblich
  • Mann/maskulin
  • x/keine der Vorangegangenen

Eine zweite Frage erörterte dann, als welches Geschlecht sich eine Person selbst identifizieren könnte. Die acht Optionen lauteten:

  • Frau
  • trans* Frau
  • Mann
  • trans* Mann
  • Nicht-binär
  • eine andere/keine der Vorangegangenen
  • Ich möchte lieber nicht antworten
  • Frage überspringen

Beide Fragen wurden der gesamten, zensierten Bevölkerung gestellt.

Höhen und Tiefen der Justiz

Der Freispruch von Higui de Jesús war ein gerichtlicher Meilenstein in 2022. Aber es gab auch schlechte Zeiten in der argentinischen Rechtsprechung im Bezug auf die LGBTQ-Rechte – mit Festnahmen und Klageabweisungen:

  • Moderatorin Praxedes Candelmo hatte den ehemaligen Fußballspieler „El Bambino“ Veira in mehreren Instanzen angeklagt, sie in den 1980er-Jahren vergewaltigt zu haben. Im Juni 2022 stellte die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte fest, dass der argentinische Staat es in mindestens zwei der unzähligen Fälle versäumt hatte, das Opfer zu schützen und so ihre Rechte verletzt hatte. Dadurch sei es quasi amtlich, dass das Auftreten der argentinischen Justiz gegenüber Candelmo sich auf dem selben Niveau bewegt wie irgendwelche Gestalten in der Eckkneipe oder die Radio- und Fernsehsender, die die „Eskapaden“ von Veira bis heute lustig finden, erklärte dazu der Journalist Franco Torchia.
  • Im Juli wurden 20 trans* Frauen und der Ehemann einer von ihnen in einem historischen Urteil freigesprochen. Ihnen wurde Drogenhandel vorgeworfen. Das Urteil war deshalb historisch, weil es aus der Geschlechterperspektive und nach einem intersektionellen Ansatz getroffen wurde.
  • Ebenfalls im Juli gewann die trans* Schauspielerin Zulma Lobato einen Fall gegen den Fernsehsender Crónica TV. Während eines Interviews im Jahr 2011 war sie ohne ihre Zustimmung gefilmt worden, während sie einen Zusammenbruch erlitt.
  • Im Oktober entschied ein Gericht in Misiones, dass ein Dozent, der wegen seiner sexuellen Orientierung diskriminiert worden war, eine Entschädigungszahlung erhalten soll. Der junge Mann war von seinem Arbeitsplatz an einer Uni entlassen worden, als er von seiner bevorstehenden Heirat mit einem Mann erzählte. Das Geld soll nun einer Organisation für LGBT-Rechte zugute kommen.

Offene Rechnungen

Trotz aller Erfolge ist die Justiz der LGBTQ-Community einiges schuldig geblieben:

  • Die Polizei sucht noch immer nach Tehuel De la Torre. Der trans* Mann war schon im März 2021 verschwunden, von seinem Verbleib fehlt bis heute jede Spur. Im März 2022 beschloss der Richter in Garantías de Cañuelas, Martín Rizzo, den Fall wegen schweren Mordes aus Hass gegen die sexuelle Ausrichtung und die Geschlechtsidentität vor Gericht zu bringen. Noch gibt es aber keinen Gerichtstermin. Die beiden Tatverdächtigen heißen Luis Alberto Ramos und Oscar Alfredo Montes. Beide sind schon festgenommen und angeklagt.
  • Im September wurde der einzige Tatverdächtige im Transfeminizid von Cynthia Moreira in Tucumán freigesprochen. Wegen schlechter Ermittlungsarbeit ist der Mordfall aus 2018 an der jungen Frau aus Tucumán nun noch immer straflos.
  • Auch freigesprochen wurde ein Richter, der 2019 angeklagt und vom Dienst suspendiert wurde. Er hatte einer trans* Frau eine höhere Strafe gegeben, weil sie Ausländerin ist.

 

Kämpfen lohnt sich

Schulen in Buenos Aires haben die Kategorien trans*, Trasvesti und Nicht-Binär in ihren Einschreibeformularen aufgenommen.

2022 fand die erste internationale Pride-Parade an der Grenze Argentiniens zu Bolivien statt. Es war außerdem der erste plurinationale LGBT-March in den Tälern von Calchaquíes.

Im vergangenen Jahr kam das Archiv für trans* Erinnerungen mit einer brandneuen Ausstellung ins Museo Bicentenario.

Der argentinische Staat bekannte sich darüber hinaus zu seiner Verantwortung in der Nichteinhaltung internationaler Standards bei der Untersuchung des Verbrechens des Beamten Octavio Romero vor elf Jahren. 2022 unterzeichnete Argentinien ein historisches Abkommen, in dem das Land zum ersten Mal in seiner Geschichte wegen eines Hassverbrechens mit der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte zusammenarbeitet. „Wir wollen erreichen, dass sich das nicht wiederholt. Es soll nicht nochmal einen Fall wie den von Octavio Romero geben, genauso wie es keine Diskriminierung mehr geben soll. Dadurch eröffnen sich neue Wege, und es lindert ein wenig den Schmerz, der seit vielen Jahren besteht”, so Octavios Partner Gabriel, der anlässlich der Veranstaltung die Kleider des Getöteten trug.

Argentinien hat eine Finanzhilfe für Travestis und trans* Personen über 50 Jahren eingeführt; außerdem hat mit Karina Pintarelli das erste Mal eine trans* Person eine staatliche Reparationszahlung als Überlebende der Diktatur bekommen.

Im vergangenen Jahr wurde zudem Alba Rueda zur Sonderbeauftragten für sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität im Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, internationalen Handel und Kultur ernannt. Nur fünf Länder der Welt haben eine solche Rolle geschaffen – neben Argentinien sind das Großbritannien, Italien, die USA und Deutschland. Das Time Magazine würdigte Rueda im Zuge dessen als eine der 100 Next Generation Leaders.

Übersetzung: Patricia Haensel

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