
(Buenos Aires, 5. Februar 2025, Página12).- Seit der antifaschistischen und antirassistischen LGBTIQ+ Pride-Demonstration am 1. Februar weht ein Wind von Demokratie und Empathie durch die Straßen Argentiniens. Mehr als zwei Millionen Menschen [red. Anm.: LGBTIQ steht für lesbisch-schwul-bi-trans-intersexuell und queer, die Zahl der Teilnehmenden der Proteste wurde mit Hilfe eines Mapchecking-Werkzeugs von der LGBTIQ+ Versammlung ermittelt] demonstrierten im südamerikanischen Land und auf der ganzen Welt unter dem Motto „Milei – es reicht!“. Die argentinische Gesellschaft sagte damit „Nie wieder“ zu Faschismus, Rassismus und dem Verstecken der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität.
Gabriela Mitidieri ist Historikerin, Dozentin und arbeitet bei der Menschenrechtsorganisation CELS. Sie ist Mitarbeiterin des Instituts für Gender der Fakultät für Philosophie und Literatur der Universidad de Buenos Aires (UBA) und war an der Organisation der ersten antifaschistischen, antirassistischen LGBTIQ+ Versammlung beteiligt. Im Interview gibt Mitidieri Perspektiven auf Antifaschismus, die Geschichte der LGBTIQ+ Kämpfe in Argentinien und die Stimmung nach der eindrucksvollen antifaschistischen und antirassistischen Pride-Demo am 1. Februar. Das Interview führte Lía Ghara, es erschien im spanischen Original im Format SOY der argentinischen Tageszeitung Página12, mit deren freundlicher Genehmigung wir es übernehmen..
Wie habt ihr es geschafft, innerhalb von weniger als zehn Tagen ein so starkes Netzwerk aufzubauen, dass am Ende zwei Millionen Menschen in Argentinien und auf der ganzen Welt demonstrierten?
Das kam alles etwas unerwartet. Wir hatten noch kaum verstanden, welche Bedeutung die Rede von Milei in Davos hatte [red. Anm.: Beim Weltwirtschaftsforum in Davos hetzte Milei gegen soziale Bewegungen und Queer-Feminismus und setzte LGBTIQ+ Personen mit sexualisierter Gewalt gegen Kinder gleich]. Dann haben wir überlegt, welche tatsächlichen Möglichkeiten es gibt, als Schwule, Lesben, Travestis und nicht-binäre Personen unsere Community und unsere Netzwerke ein erstes Treffen an einem öffentlichen Ort einzuberufen. So haben wir uns eines Abends mit gerade einmal 40 Leuten im Lezama-Park getroffen und beschlossen, dass wir etwas tun müssen. Dass zur nächsten Versammlung auf einmal 5.000 Leute kamen, überraschte uns. Viele von uns waren schon zu Macri-Zeiten [red. Anm.: Mauricio Macri war von 2015 bis 2019 argentinischer Präsident] in LGBTIQ+ Vernetzungen politisch aktiv, es kamen aber auch Genoss*innen aus Gewerkschaften, feministischen Bewegungen, Künstler*innen, aus politischen Parteien, sozialen und Menschenrechtsbewegungen, Community-Medien, Nachbarschaftsversammlungen und Umweltkämpfen. In der zweiten Versammlung haben wir Arbeitsgruppen gebildet, ich zum Beispiel war in der zu Care-Arbeit. Nach einer harten Woche Arbeit haben wir uns dann auf der Straße wiedergesehen.
Der Auslöser war also Mileis Rede in Davos? Welchen Einfluss hatte sie auf dich?
Sein Diskurs in Davos ist etwas völlig neues, was das Niveau der sprachlichen Gewalt angeht. Milei hat uns mit Krebsgeschwüren verglichen, mit Missbrauch… das überlagert sich natürlich mit der heftigen symbolischen und körperlichen Gewalt, die es gegen unsere Communities gibt. Diese Regierung kann keine langfristige wirtschaftliche Lösung für die Krise anbieten, also konstruiert sie einen mächtigen Feind, um ihre Basis aufzustacheln und an sich zu binden. Auf der anderen Seite hat die konservative Rechte noch nie eine Gelegenheit ausgelassen, uns wie den letzten Dreck zu behandeln.
Das war also keine sehr originelle Reaktion von Milei …
Im aktuellen Kontext ist die LGBTIQ+ Community ein offensichtlicher Gegenspieler Mileis. Denn der Kapitalismus reprivatisiert Care-Arbeit , macht den Markt wieder zum einzigen regulierenden Faktor und zum Ausdruck eines ungebremsten Wettbewerbs und stärkt die traditionelle Kernfamilie als Schutzraum. Aber sie haben sich verkalkuliert. Die Regierung probiert gerade aus, wie weit sie gehen kann – doch sie hat nicht mit einer solchen Antwort gerechnet. Sie haben unsere Bündnisse unterschätzt, unsere Stärke, eine Demonstration zu organisieren – sie haben nicht einmal damit gerechnet, dass der Gemeinsinn in der Gesellschaft deutlich weniger faschistisch ist, als sie denken.
Wo genau lag die Fehleinschätzung?
Milei glaubte, dass er nach einem Angriff auf unsere Community einen Gegner weniger hätte. Aber unsere Community vereint viele verschiedene, miteinander vernetzte aktivistische Erfahrungen. Wir sind also auf die Straße gegangen, aber sie wussten nicht, dass unsere Kämpfe längst miteinander verschwistert waren. Dazu kam, dass es jetzt ein gesellschaftliches Klima gab, mit dem das „Es reicht!“ zusammenfiel. Die Grenze der Grausamkeit, der Entmenschlichung, der Kürzungen als Opfer darstellt, die immer mehr Leben ihren Wert absprechen, war erreicht.
Denkst du, dass eure Mobilisierung ein Vorbild für die traditionelle Politik ist, die in letzter Zeit nicht so viele Menschen überzeugen konnte?
Ich weiß nicht, ob ich es so ausdrücken würde. Aber ich denke, wir durchleben einen Moment der Krise der politischen Repräsentation. Das Schweigen relevanter Personen hat die Chance eröffnet, eine Wette einzugehen: Wir setzen unsere Körper im Protest ein, und gucken dann, was passiert. Wir haben uns nicht ausgemalt, dass sich in Buenos Aires und anderen Städten im ganzen Land je Hunderttausende Menschen an dieser Wette beteiligen würden. Zweifellos haben wir damit einen Wendepunkt überschritten – gerade, als viele schon eine Niederlage erklärt hatten. Etwas an alledem fühlt sich nach etwas Neuem an. Wir wollen uns dazu ermutigen, neue Wege auszuprobieren. Denn die, die wir schon kennen, haben uns in die jetzige Situation gebracht.
Die Wette hat funktioniert… Welche Emotionen bleiben danach?
Wir sind immer noch dabei, auszukosten, was am 1. Februar passiert ist: Die Stimmung ist gestiegen, das Vertrauen in unsere Leute und in die Geschichte unserer Kämpfe auch. Die Straßen mit einem riesigen Volksfest zu füllen, war eine riesige gemeinschaftliche Freude, war Schwindel und Adrenalin zugleich. Mir bleiben tausend Bilder davon im Gedächtnis: Genoss*innen aus den Gewerkschaften, die uns zuzwinkerten, Umarmungen mit Rentner*innen, viele Einzelpersonen, die sich bei uns dafür bedankten, dass wir ihnen und uns diesen Kick gegeben haben, um mit vielen anderen zusammen auf die Straße zu gehen. Entlassene Genoss*innen aus dem Bonaparte-Krankenhaus, aus dem Posadas-Krankenhaus und den Gedenkstätten [red. Anm.: Dort waren jeweils viele Personen entlassen worden]. Es war ein Blitzlichtgewitter, wir fühlten uns gut begleitet von Menschenrechtsorganisationen wie den Müttern und Großmüttern der Plaza de Mayo und ihren Enkel*innen [red. Anm.: Organisationen, die Aufklärung über die in der Diktatur verschwundenen politischen Gefangenen fordern].
Warum der Zusatz „antifaschistisch“?
In Argentinien hat der Antifaschismus eine lange Tradition. Dabei konzentriere ich mich gern auf drei Meilensteine: erstens den Kampf von exilierten Aktivist*innen der europäischen Faschismen und die Geschichte antifaschistischer Solidarität in den 20er, 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts. Zweitens muss man unbedingt den Kampf gegen den Faschismus der Militärdiktaturen im Globalen Süden neu verorten. Da haben unsere älteren Geschwister der Punk-Bewegungen in den 80er und 90er Jahren mit ihrer Mischung aus Straßenkampf gegen lokale Neonazis und Militärunterstützer*innen einerseits und ihrer geselligen, anarchischen, fanzine-artigen Art, Bildung zu schaffen, wichtige Vorarbeit geleistet. Sie haben die ersten Materialien über Feminismus, Selbstverteidigung und radikale Formen der Autonomie produziert, die viele von uns in die Hände bekamen. Ich begreife uns als Teil dieser Tradition. Drittens bringen wir – weil wir aus dem Feminismus kommen – außerdem intensive Erfahrungen mit, wenn es darum geht, gegen reaktionäre, konservative, frauenfeindliche Teile der Gesellschaft zu kämpfen, die uns unsere Rechte absprechen wollen. Alle diese Sektoren der Gesellschaft finden sich heute unter dem Schirm der Regierung zusammen – und das ist kein Zufall.
Stehen wir einem aufstrebenden Faschismus gegenüber? Ist die Regierung Milei faschistisch?
Zweifellos ist die Kombination aus einem Projekt für dieses Land, das den Interessen des Kapitalismus in die Hände spielt und den Feindbildkonstruktionen, die eine Andersartigkeit erzeugt, gegen die man vorgehen kann, faschistisch. Ich denke, es gibt immer noch Leute, die es lieber beschönigen und das Rechtspopulismus, Autoritarismus oder neue Rechte nennen. Aber wir haben ein Niveau erreicht, das wir Faschismus nennen, auch um zu sagen: bis hierhin und nicht weiter. Die anhaltenden Angriffe und Versuche der Normalisierung von Homofeindlichkeit, diesen Hass auf alle Linken und den rasenden Rassismus gegen die indigenen Communities, besonders die Mapuche. Wir sind nicht bereit, uns daran zu gewöhnen und gefügig hinzunehmen, dass das die herrschende Form der Politik ist.
Du arbeitest viel in Archiven. Welche Gemeinsamkeiten gibt es mit Kämpfen der Community in der Vergangenheit?
Es gibt Kämpfe aus der Vergangenheit, die reflektiert werden und nachklingen. Mir schwebt immer dieser Satz vor, den ich sehr mag: „Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich“. So tauchen Texte von der Frente de Liberación Homosexual („Front der homosexuellen Befreiung“) auf, die im Jahr 1975 den Faschismus öffentlich verurteilen. Auf der Demonstration am 1. Februar habe ich mich an unserem Lautsprecherwagen der antifaschistischen LGBTIQ+ Versammlung wiedergefunden. Inmitten von Tanz und Musik haben viele von uns an die Kämpfe der Bevölkerung gegen die englischen Invasionen Anfang des 19. Jahrhinderts in dieser Ecke der Stadt gedacht. Genauso klingen die Straßenkämpfe im Dezember 2002 nach, die Bündnisse von Versammlungen und Bewegungen von [red. Anm.: in der Finanzkrise] entlassenen Arbeiter*innen. Natürlich beziehen wir uns auch auf die Mütter der Plaza de Mayo, die bis heute ihre Runden drehen. Wir tragen auch ein Foto von Lohana Berkins mit Laura Bonaparte [red. Anm.: Lohana Berkins war travesti-Aktivistin und gilt als Schlüsselperson der queeren Bewegung in Argentinien und Lateinamerika, Laura Bonaparte war eine der Mütter der Plaza de Mayo]. Dass das Ganze im Februar passiert ist, reimt sich auch ein bisschen auf den Streik, den wir 2016 gegen Macri organisiert haben. Dort gab es einen eigenen Block innerhalb der organisierten Arbeiter*innenbewegung mit einem Banner des neu gegründeten Lohana-Berkins-Kollektivs.
Zuletzt: Was denkst du, wie all das weitergeht?
Ich habe keine Ahnung. Aber dieses Nicht-Wissen beunruhigt mich nicht. Ich vertraue auf unsere Fähigkeit, zu kämpfen und uns zu organisieren – und dem, was hier entstanden ist, Raum zu geben. Es wäre eine wunderbare Vorstellung, all diese Kämpfe für ein würdevolles Leben in einer Vernetzung und Koordination zu vereinen. Was hier begonnen hat, öffnet ein Fenster der Möglichkeiten und der politischen Vorstellungskraft. Und schon allein die Tatsache, dass dieses Fenster geöffnet ist, bringt ein wenig Luft, Hoffnung und Enthusiasmus mit sich.
Übersetzung: Susanne Brust und Ute Löhning – Diese Übersetzung entstand im Rahmen des Projekts „Linea B – Researching authoritarian politics between Latin America and Europe“ und erscheint im ReGA-Newsletter, zu abonnieren unter: http://tinyurl.com/3c6h83ny
LGBTIQ+ Proteste gegen Milei: „Sie haben nicht mit uns gerechnet“ von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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