Debatte über die Entkriminalisierung der Abtreibung in Brasilien

(São Paulo, 7. August 2018, Brasil de Fato).- Der Oberste Gerichtshof von Brasilien hat am 6. August 2018 die zweite und letzte öffentliche Anhörung zur Entkriminalisierung der Abtreibung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche zu Ende gebracht. Die Anhörungen sind Teil des Prozesses zur Urteilsfindung. Die Partei Sozialismus und Freiheit PSOL (Partido Socialismo e Liberdade ) hat 2017 einen Antrag eingereicht, der darauf abzielt die Artikel 124 und 126 aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Diese kriminalisieren Frauen, die eine Abtreibung durchführen und auch jene, die dabei helfen den Schwangerschaftsabbruch durchzuführen. Die öffentlichen Anhörungen wurden von der Richterin Rosa Weber einberufen. Die Oberstaatsanwältin Raquel Dodge muss sich nun innerhalb der nächsten zehn Tage zu dem Thema äußern. Im Anschluss daran muss Rosa Weber den Antrag in die Plenumssitzung des Obersten Gerichtshofes einbringen. Für die endgültige Abstimmung gibt es jedoch keine Frist. In Brasilien steht der Schwangerschaftsabbruch nur bei Vergewaltigung, Gefahr für die Gesundheit der Schwangeren oder bei schweren Fehlbildungen, nicht unter Strafe.

Diskussion

Während der Anhörungen wurden wissenschaftliche, medizinische, politische, philosophische und religiöse Argumente ausgetauscht. Neben den verfassungsrechtlichen Prämissen, die von den Befürworter*innen der Entkriminalisierung vorgetragen wurden, war die Diskussion von theologischen Reflexionen bestimmt. Insgesamt gab es 52 Vorträge von verschiedenen Organisation, wovon elf religiösen Ursprungs waren.

Die Argumentation der Pastorin Lusmarina Garcia, die sich für eine Entkriminalisierung aussprach, erntete Beifall. Die Repräsentantin des Instituts für Religionsstudien verteidigte den laizistischen Staat und sagte, dass die Argumente gegen die Entkriminalisierung der Abtreibung auf stark patriarchal geprägte Begründungen zurückzuführen sind. „Seit Jahrhunderten ist das patriarchale Christentum verantwortlich für die Bestrafung von Frauen und legitimiert deren Tod“, stellte Lusmarina klar und fügte hinzu, dass es sich bei den Frauen, die abtreiben, um ganz normale und auch gläubige Frauen handele, die unter keinen Umständen bestraft werden sollten. „Ein laizistischer Staat ist kein atheistischer Staat, sondern einer, der die Konzepte von Verbrechen und von Sünde unterscheidet und sich nicht an religiösen Sanktionen orientiert“, sagte sie.

Zahlen

Die Daten stärken die Argumentation der Pastorin. Nach Angaben der Nationalen Studie über Abtreibung, die 2016 vom Institut Anis durchgeführt wurde, sind 56 Prozent der Frauen, die abgetrieben haben, katholisch und 25 Prozent evangelisch oder evangelikal. 67 Prozent der Frauen, die abgetrieben haben, haben Kinder. Die Studie zeigte außerdem, dass schwarze Frauen überdurchschnittlich häufig durch selbst durchgeführte Abtreibungen sterben.

Unter den den dutzenden Vortragenden waren u.a. die Nationale Ombudsstelle (Defensoria Pública da União) und die des Bundesstaates São Paulo (Defensoria Pública do Estado de São Paulo), der Nationalrat für Menschenrechte (Conselho Nacional de Direitos Humanos), die Brasilianische Gesellschaft für wissenschaftlichen Fortschritt (Sociedade Brasileira para o Progresso da Ciência), die internationale Organisation Human Rights Watch, die Gruppe Katholikinnen für das Recht zu Entscheiden (Católicas pelo Direito de Decidir) und das Brasilianische Institut für Kriminalwissenschaft IBCCRIM (Instituto Brasileiro de Ciências Criminais) vertreten.

Die Argentinierin Juana Magdalena Kweitel, Leiterin der NGO Conectas Derechos Humanos, bekräftigte, dass die Entkriminalisierung zu einem Rückgang der Todesfälle durch unsachgemäße Abtreibungen führe. Sie verwies auch auf den Fortschritt in der Abtreibungsdebatte in ihrem Heimatland. Im Juni 2018 hat die Mehrheit der argentinischen Abgeordneten im Parlament der Legalisierung der Abtreibung bis zur 14. Schwangerschaftswoche zugestimmt. Begleitet wurde dieser Prozess von einer Massenmobilisierung der Frauen. Der Senat hat am 8. August 2018 allerdings gegen den Gesetzesentwurf gestimmt. „Ja, wir sprechen vom Schutz des Lebens. Vom Leben und der Freiheit dieser Frauen; der marginalisiertesten Frauen, denn die Frauen, die am häufigsten an einer unsicheren Abtreibung sterben, sind schwarze, junge und arme Frauen“, versicherte Magdalena.

Positive Debatte

Für Ana Lúcia Keunecke, Anwältin für Menschenrechte und Mitglied des feministischen Netzwerks der Juristinnen DeFEMde (Rede Feminista de Juristas) ist das Ergebnis der Anhörungen ein positives Signal für die Frauen und die Gesellschaft, da eine öffentliche Debatte stattgefunden hat. „Eine von fünf Frauen im Alter von bis zu 40 Jahren hat abgetrieben. Jeder kennt zumindest eine Frau, die abgetrieben hat. Worüber wir hier diskutieren, ist die Möglichkeit einer sicheren Abtreibung, um zu vermeiden, dass die Frauen sterben“, bekräftigte Keunecke in einem Interview mit Brasil de Fato. Sie kritisiert auch die Argumente, die während der Anhörung, gegen die Entkriminalisierung genannt wurden: „Wir haben Performances, Spektakel gesehen. Wir haben Personen gesehen, die ohne wissenschaftlich basierte Argumente allem widersprochen haben, was zuvor dargestellt wurde, nämlich, dass die Abtreibungsfrage ein Problem der öffentlichen Gesundheit und der Sterblichkeit der Frauen ist“, fügt Keunecke hinzu. „Es wird von Moral und Kontrolle des weiblichen Körpers gesprochen. Eine Rednerin sagte sogar, dass wenn die Abtreibung legal durchgeführt werde, es zu einem Einbruch der Sozialversicherungssysteme käme, da Brasilien dadurch einen Geburtenrückgang erleben würde. Die Frauen haben nicht das Recht zu entscheiden. Sie müssen gebären und Kinder haben, um das Sozialversicherungssystem zu erhalten. Es gab Argumente, die weder durch juristische Begründungen, wissenschaftliche oder statistische Daten belegt wurden“, sagt die Anwältin.

Internationale Abkommen

Sie erwähnt auch, dass unabhängig davon, wie der Obersten Gerichtshof entscheiden wird, Brasilien bereits internationale Abkommen unterschrieben habe, in denen die Autonomie der Frauen und ihr Rechte hinsichtlich der Reproduktion festlegt sind. So wurde beispielsweise auf der Internationalen Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung, die 1994 in Kairo stattgefunden hat, entschieden, dass „die Menschenrechte der Frauen und Mädchen integraler und untrennbarer Bestandteil der universellen Menschenrechte sind“. Ein weiteres Beispiel ist die Interamerikanische Konvention zur Vorbeugung, Sanktion und Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, die auch als Konvention von Belem do Pará bekannt ist und von Brasilien ratifiziert wurde. Danach „stellt Gewalt gegen die Frau eine Verletzung der Menschenrechte und der grundlegenden Freiheiten dar und verhindert ganz oder teilweise die Anerkennung, den Genuss und die Ausübung dieser Rechte und Freiheiten.“

Der Artikel 1 des Abkommens definiert Gewalt gegen die Frau, als jedweden Akt oder Verhalten, das aufgrund ihres Geschlechts zum Tod, zu Verletzung oder physischem, sexuellem, psychischem Leid der Frau führt. Das gilt sowohl für den privaten wie den öffentlichen Bereich. Artikel 2 bezieht sich auf die Gewalt in den Gesundheitseinrichtungen – ein wiederkehrendes Phänomen bei geheimen Abtreibungen. „Es muss nur dafür gesorgt werden, dass die Menschenrechte eingehalten werden. Das war ein wichtiger Schritt für das Land. Wir hoffen, dass der Oberste Gerichtshof es als seine Pflicht ansieht, die internationalen Abkommen zu erfüllen“, schließt Keunecke.

 

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