(Mexiko-Stadt, 03. Juni 2024, Agencia Presentes).- Claudia Sheinbaum ist die erste Präsidentin Mexikos und die meistgewählte Kandidatin in der Geschichte des Landes. Woher sie kommt und wieso ihr Verhältnis zur feministischen, Menschenrechts- und diversitätsorientierten Bewegung angespannt ist. „Wir haben es geschafft! Wir haben fast 35 Millionen Stimmen erreicht!”, jubelt Claudia Sheinbaum Pardo nachts um 1:08 Uhr auf dem Zócalo, dem zentralen Platz in Mexiko City. In ihrem Rücken steht der Palacio Nacional, der Regierungssitz, vor ihr jubeln Tausende Anhänger*innen. Am Ende des Wahltags bestätigten die vorläufigen Ergebnisse des Nationalen Wahlinstitut (Instituto Nacional Electoral, INE) sie als Mexikos erste Präsidentin. Mit 46 bis 51 Prozent der Stimmen ist sie nicht nur die erste Frau, sondern auch die mit den meisten Stimmen in dieses Amt gewählte Person in der Geschichte des Landes. Wenn sie am 1. Oktober ihr Amt antritt, wird die 62-jährige ehemalige Bürgermeisterin von Mexiko City (2018-2023) an der Spitze eines Landes stehen, das von zahlreichen Krisen, großen Ungleichheiten und großem Veränderungsbedarf geprägt ist. Sie verspricht, die unter der laufenden Regierung von Andrés Manuel López Obrador eingeführten Sozialprogramme zu vertiefen, die Armut zu verringern und die Ursachen der Gewalt zu bekämpfen. Das nennt sie „das zweite Stockwerk der Transformation“. Sie wird ihr Amt auch unter der skeptischen Beobachtung parteiunabhängiger linker Gruppen antreten. Diese betrachten die Bilanz des scheidenden Präsidenten kritisch: zunehmende Militarisierung des öffentlichen Raums, krisenhafte Entwicklungen in den Bereichen Menschenrechte, innere Sicherheit und Rechtsschutz sowie ein Stillstand bei den wichtigsten progressiven Forderungen der Linken, etwa der landesweiten Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und der Drogenlegalisierung.
Mehrere Faktoren erklären den Erfolg Sheinbaums. Wie schon ihr Vorgänger López Obrador 2018 führte sie einen flächendeckenden Wahlkampf. „Unseren Schätzungen nach sind zu unseren Versammlungen im ganzen Land insgesamt fast 3 Millionen Menschen zusammengekommen (…). Wir haben die 31 Bundesstaaten und Mexiko City fast fünfmal besucht und sind 110.000 Kilometer gereist“, erklärte Sheinbaum am Ende ihrer Kampagne. Auch die Idee der Kontinuität ist ein Grund für Sheinbaums Wahlerfolg. López Obradors unterstützte seine Parteifreundin über seine gesamte Amtszeit hinweg. Für ihren Sieg war wohl auch die Oppositionskandidatin Xóchitl Gálvez Ruiz verantwortlich. In ihrer Kampagne konzentrierte sie sich auf Angriffe auf die derzeitige Regierung und den Präsidenten. Dieser genießt allerdings mit einer Zustimmungsrate von 60 Prozent großen Rückhalt in der Bevölkerung.
Gewalt in Mexiko hält unvermindert an
Eine bemerkenswerte Episode im Zusammenhang mit diesen Wahlen: Am zweiten Juni, dem Wahltag, zirkulierten Wahlscheine mit den Namen dutzender Verschwundener in den sozialen Medien. Suchtrupps, die sich für die Aufklärung der Verschwundenen, häufig ihre Angehörigen, engagieren, hatten die Initiative gestartet. Sie wollten die Gruppe der ungültig Wählenden animieren, mit ihrer Wahl den mehr als 110000 offiziell registrierten Vermissten eine Stimme zu geben. Dieses Jahr zählte bisher im Schnitt 79 Morde pro Tag. Zwar beruft sich der Präsident darauf, dass die Verbrechen seit Beginn seiner sechsjährigen Amtszeit um 22 Prozent zurückgegangen sind: Im Jahr 2018 wurden durchschnittlich 101 Opfer pro Tag gemeldet. Gleichzeitig weist das Land hohe Feminizid-Raten auf. Das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen hat nicht aufgehört, ebenso wenig die Hassverbrechen gegen die LGBTIQA+- Gemeinschaft. Allein in den ersten fünf Monaten dieses Jahres wurden mindestens 26 Transfrauen Opfer von Transfeminizididen, so die Daten der Nationale Verband trans und nichtbinärer Menschen (Asamblea Nacional Trans y no Binarie).
Vom studentischen Kampf ins Präsidentschaftsamt
„Wir sind heute alle zusammen hier: mit unseren Großmüttern, Müttern, Töchtern und unseren Enkeltöchtern”, erklärte Sheinbaum bei einer an Frauen gerichtete Wahlkampfveranstaltung in Mexiko City im Januar. Im Anschluss nannte sie eine Reihe von Frauen, die prägend für die Geschichte des Landes waren. In versöhnlichem Ton, wie schon in ihrer Abschlussrede zum Wahlkampf, versicherte sie allerdings, dass sie für alle Mexikanerinnen und Mexikaner regieren werde, ob sie ihr Projekt unterstützten oder nicht.
Sheinbaum ist die Tochter des Chemikers Carlos Sheinbaum Yoselevitz und der Biologin Annie Pardo Cemo; beide waren Teil der Studierendenbewegung von 1968. In ihrer Zeit an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM) schloss sie sich ebenfalls studentischen Gruppen an. Dort studierte sie Physik und war Mitglied des Studierendenrates der Universität (CEU). 1995 erhielt sie als erste Frau an der Fakultät für Ingenieurwesen der UNAM einen Doktortitel im Bereich Energie; zu dem Zeitpunkt war sie bereits Mutter. Als erste weibliche Abgeordnete wurde sie 2015 zur Bürgermeisterin von Tlalpan, einem Bezirk in Mexiko City, ernannt. Zuvor hatte sie unter dem damaligen Bürgermeister López Obrador (2000-2005) als Umweltsekretärin von Mexiko City gearbeitet. Nachdem sie ihrem Parteifreund schon in den vergangenen drei Präsidentschaftswahlkämpfen nahe stand, konnte sie die diesjährige Wahl für sich entscheiden.
Für sie ist das Vordringen in historisch von Männern besetzte Bereiche ein eindeutiger Sieg für die feministische Bewegung, zu der sie sich zählt. Aber es gibt auch einige Stimmen, die bezweifeln, dass eine Frau in der höchsten Machtposition für strukturelle Veränderungen im Leben von Tausenden von Frauen stehen kann, deren Leben von vielfältigen Entbehrungen und Gewalt geprägt ist.
Auch wenn Sheinbaum sich gelegentlich als Feministin bezeichnet hat, versteht sie die Umsetzung feministischer Forderungen als natürliches Ergebnis sozialer Gerechtigkeit: Wenn man sich um den armen Teil der Bevölkerung kümmert, kommt das auch den schwächsten Frauen in diesen Sektoren zugute.
Ein angespanntes Verhältnis zu Feminismen und Diversität
„Wir werden die politische, soziale, kulturelle, geschlechtliche und sexuelle Vielfalt respektieren und für ihren Schutz sorgen. Wir werden weiterhin gegen jede Form der Diskriminierung kämpfen“, sagte sie im Hotel Hilton in Mexiko City, wo sie die Wahlergebnisse verfolgte und ihre erste Ansprache an die Medien hielt. In Abgrenzung zu feministischen Forderungen und der LGBTIQA+-Bewegung versuchte Sheinbaum, genderspezifische Interessen mit ihrer eigenen Bewegung in Einklang zu bringen. Es war dieser Teil der politischen Linken, mit dem sie während ihrer Zeit in der Hauptstadtpolitik große Meinungsverschiedenheiten, Kämpfe und ihre kritischsten Momente erlebte. Feministinnen äußerten sich in den sozialen Netzwerken kritisch zur Abschlussveranstaltung der Kampagne am 29. Mai auf dem Zócalo. Hier erklärte Sheinbaum. „Es ist Zeit für die Frauen und den Wandel, und ich möchte es auch hier sagen: Das bedeutet, ohne Angst und frei von Gewalt zu leben“. Hinter ihr und den Vorsitzenden der Parteien, die sie unterstützen, stand Senator Félix Salgado Macedonio. Der Mann wurde mehrfach des sexuellen Missbrauchs beschuldigt, genießt aber trotzdem die Unterstützung von Claudias Partei Morena, der heute wichtigsten politischen Kraft des Landes. „Nun, es gibt Anschuldigungen, aber meines Wissens kein Urteil“, reagierte Sheinbaum im Februar 2021 auf die Nachfrage, ob sie als Feministin die Kandidatur Macedonios für das Amt des Gouverneurs des Bundesstaates Guerrero bei den Zwischenwahlen des Landes unterstütze.
Die Distanz zur feministischen Bewegung begann fast zeitgleich mit Sheinbaums Regierungszeit in Mexiko City: 2019 beschuldigte ein 17-jähriges Mädchen vier Polizisten der Stadt, sie vergewaltigt zu haben. Die Empörung über die Entscheidung, die beschuldigten Beamten nicht aus dem Dienst zu entlassen, führte zu Massendemonstrationen gegen Polizeigewalt. „Wir lassen uns nicht auf Provokationen ein, sie wollten, dass wir gewaltsam reagieren. Das war kein Protest, das war eine Provokation“, so die jetzt zukünftige Präsidentin.
Sheinbaums Verwaltung reagierte in den folgenden Monaten mit der Vorladung von elf Feministinnen und zwei trans Personen, die sich an den Forderungen zur Klärung des Falles beteiligt hatten, vor die Generalstaatsanwaltschaft von Mexiko City (FGJ-CdMx). Feministinnen bezeichneten die Vorladung als Versuch der Einschüchterung und der politischen Verfolgung. In der Zwischenzeit wuchs die feministische Bewegung, die sich angesichts staatlicher Gewalt und der steigenden Zahl von Feminiziden zunehmend organisiert, weiter an.
Repression von sozialen Bewegungen
Sheinbaum wird politisch verantwortlich gemacht für die Festnahme eines Kollektivs von trans Kindern und trans Jugendlichen am 20. November 2021. Auch für die Festnahme eines Kollektivs von Frauen der indigenen Gemeinschaft der Triqui am 25. April 2022, die Opfer einer Zwangsvertreibung aus der Gemeinde Tierra Blanca Copala in Oaxaca wurden, sehen Kritiker*innen Sheinbaums in der Verantwortung. Beide Fälle, nur zwei von vielen aus ihrer Amtszeit, sind mit einem Namen verbunden: Omar García Harfuch, ehemaliger Sekretär für Öffentliche Sicherheit von Mexiko City und Schlüsselperson in der Sicherheitsstrategie für die Stadt, mit der sich Sheinbaum in ihren Präsidentschaftsdebatten brüstete. Harfuch gehört zum Kreis engster Mitarbeitenden der zukünftigen Präsidentin. Er wird einen Sitz im Senat erhalten, könnte aber auch Teil von Sheinbaums Sicherheitskabinett werden.
Fortschritte für trans Menschen in Mexiko City
Dem Widerstand seitens der Behörden gegen die Anerkennung ihrer Rechte zum Trotz haben trans Gemeinschaften und feministische Gruppen in Mexiko City und in einigen Teilen des Landes wichtige Fortschritte erzielt. Bis heute wurden in 22 Bundesstaaten Gesetze zur Geschlechtsidentität verabschiedet. In 13 Staaten wurden Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisiert. Diese Kämpfe wurden lokal geführt, ohne staatliche Unterstützung. Im Jahr 2021 ging Sheinbaum auf eine Forderung von zivilgesellschaftlichen Gruppen ein und gründete in Mexiko City ein Gesundheitszentrum für trans Personen (Unidad Integral de Salud para Personas Trans, USIPT). Bis 2023 wurden hier 719 trans Frauen, 474 trans Männer und 119 nicht-binäre Menschen in ihrer Transition betreut. Das Zentrum bietet neben einer kostenlosen allgemeinen medizinischen Versorgung auch die Fachgebiete Endokrinologie, Dermatologie, Gynäkologie, Ernährung, psychische Gesundheit und Psychiatrie an. Außerdem schloss Sheinbaum angesichts des diesbezüglichen gesetzgeberischen Versäumnisses des Kongresses von Mexiko City eine Gesetzeslücke: Durch ein Dekret ermöglichte sie die Änderung des Geschlechtseintrags für Jugendliche über zwölf Jahren, womit Kinder ausgenommen sind.
Sheinbaum genießt jedoch wegen anhaltender Repression von Protesten für sexuelle Vielfalt und wegen transphober Äußerungen seitens ihrer engsten Mitarbeitenden wenig Vertrauen [in queer-feministischen Kreisen]. Auf die Frage während der zweiten Präsidentschaftsdebatte, wie sie gegen die Ermordung von trans Frauen vorgehen wolle, sagte sie: „Wir sind gegen jegliche Form von Diskriminierung, wir müssen sie sogar in das Strafgesetzbuch aufnehmen. Wir sprechen dabei nicht nur über die trans Gemeinschaft, sondern über alles, was mit Diskriminierung zu tun hat. Frühere Regierungen handelten selbst diskriminierend. Zum ersten Mal gibt es eine Regierung, die ihr Handeln auf diejenigen richtet, die am wenigsten haben“.
Der ambitionierte Plan C
Sheinbaum, Gründungsmitglied der Partei Morena, wurde von einem Bündnis aus ihrer Partei, der Arbeiterpartei (Partido del Trabajo, PT) und der Grünen Ökologischen Partei Mexikos (Verde Ecologista de México, PVEM) zur Präsidentschaftskandidatin aufgestellt. Ihr Sieg ist auch mit einem ambitionierten Plan C des Präsidenten verbunden: eine große Mehrheit im Bundeskongress zu erlangen, die es Sheinbaum ermöglicht, die Verfassung zu ändern – ein wichtiger Schritt, der López Obrador noch nicht möglich war. Zivilgesellschaftliche Organisationen warnen vor Einbußen in der gegenseitigen Kontrolle der Gewaltenteilung, die mit der Mehrheit von Morena einher gehen könnte. Manche befürchten, dass die Regierung beabsichtigt, den Obersten Gerichtshof (Suprema Corte de Justicia de la Nación, SCJN) zu reformieren und autonome Einrichtungen wie das Nationale Institut für Transparenz und Zugang zu Informationen (Instituto Nacional de Transparencia y Acceso a la Información, INAI) aufzulösen. Die Regierung und Morena wiederum argumentieren, dass eine tiefgreifende Reformierung des Gerichtshofs notwendig ist, um Frieden im Land zu fördern und die Ausgaben für überflüssige Institutionen zu stoppen.
Sheinbaum verfügt über alle Voraussetzungen, um ehrgeizige Reformen zu erreichen. Die Opposition wurde auf eine Randposition reduziert. „Wir schreiben weiter Geschichte“, sagte Sheinbaum auf dem Zócalo in Mexiko City.
Übersetzung: Angela Herz
Claudia Sheinbaums Positionen zu Feminismus und Diversität von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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