Abschied von Ilse Fuskova, Pionierin für lesbische Sichtbarkeit

Lesben
Ilse Fuskova, 2016
Foto: Ire Ocampo via flickr
CC BY-NC-SA 2.0

(Buenos Aires, 2. Juli 2024, Agencia Presentes).- Ilse Fuskova war die erste Frau, die sich im argentinischen Fernsehen als Lesbe outete, und sie war Mitorganisatorin des ersten CSD in Argentinien. Sie verstarb am 27. Juni im Alter von 95 Jahren.

Outing in der Talkshow

Wie viel Ilse Fuskova passt in ein knappes Jahrhundert? Ilse wurde 1929 als Tochter eines deutschen Vaters und einer tschechoslowakischen Mutter in Buenos Aires geboren. Sie arbeitete als Fotojournalistin, Dichterin, Fotografin und Stewardess und war Mutter von drei Kindern. Nicht so einfach, sich Ilse in einer heterosexuellen Ehe vorzustellen, wenn man das Bild einer kurzhaarigen Ilse im gelbem Pullover vor Augen hat, die bei „Almorzando con Mirtha Legrand“ sitzt und sich vor laufender Kamera voller Stolz als Lesbe outet. „Almorzando…“ war damals die meistgesehene Mittagssendung im argentinischen Fernsehen. Und Ilse durchbrach die Matrix: „Ich empfinde es als sehr schmerzhaft, es nicht offen sagen zu können, denn es ist, als hätte man ein geteiltes Leben: eins nach außen und eins nach innen, dort lebt man dann den intimen Teil. Ich halte es für sehr schädlich, unter diesen Bedingungen leben zu müssen.“ Die Bekräftigung ihres unerschütterlichen Engagements für die lesbisch-feministische Bewegung und ihr Outing als Lesbe in einer Zeit, in der andere eher zu Geheimhaltung tendierten, war eine folgenschwere Entscheidung, nicht nur für sie persönlich: Ilses Worte provozierten ein Massen-Outing. Von diesem Tag an trauten sich etliche „Schrank-Lesben“ aus ihrer Tarnung. Unter ihnen war Claudina Marek, eine Lehrerin aus Entre Ríos, die beschloss, Ilse einen Brief zu schreiben. So begann eine Liebesgeschichte, die 22 Jahre lang, bis zu Mareks Tod, andauern sollte.

Lesbisch aus Leidenschaft

In dieser Fernsehshow waren schon etliche Prominente, aber keine offenen Lesben zu Gast gewesen. Und auch bis zu Ilses Auftritt musste erst noch einiges geschehen. Zunächst musste sie sich von ihrem Mann trennen, sich dann in der feministischen Bewegung engagieren und zu guter Letzt der lesbisch-feministischen Bewegung werden. Ilse war über 50, als sie erkannte, dass es möglich ist, alles zu wollen. Vielleicht bewahrte sie sich deshalb bis in ihre letzten Lebensjahre Ihre Tatkraft und ihre Neugier. Mitte 1985 lernte Ilse Adriana Carrasco kennen, die damals in der ATEM (Asociación de Trabajo y Estudio de la Mujer) aktiv war, und gemeinsam mit ihr begann sie sich politisch und mit Poesie für die Sichtbarkeit von Lesben in der argentinischen Gesellschaft einzusetzen. Als 1987 die Demokratie erneut Einzug in Argentinien hielt, begannen sie, zusammen mit anderen Frauen die Cuadernos de Existencia Lesbiana herauszugeben, in denen sie die Lebensgeschichten von sechs lesbischen Genossinnen veröffentlichten. Ein Jahr später, am 8. März 1988, traten Ilse und Adriana zusammen mit acht anderen Lesben mitten in den Feierlichkeiten zum Internationalen Frauentag auf der Plaza Congreso mit einem rosafarbenen Banner mit Cuadernos, einer Blume auf dem Hemd und einer Schleife im Haar mit der Aufschrift „Apasionadamente lesbiana“ (Leidenschaftlich lesbisch) auf. Zu diesem Zeitpunkt war die Zeitschrift bereits in ihrer vierten Ausgabe. „Es war schön, diese Dinge zu tun, die sich sonst niemand zu tun traute“, schrieb Carrasco zum Abschied von Ilse in den sozialen Netzwerken.

„Ich bin mit dem Menschen zusammen, den ich liebe und möchte meine Gefühle nicht verbergen“

In den 1990er Jahren schloss sich Ilse der Organisation Gays por los Derechos Civiles an, die von Carlos Jáuregui, dem ersten Präsidenten der Comunidad Sexual Argentina (CHA), geleitet wurde. Carlos sollte eine bedeutende Rolle in ihrem Leben spielen. Gemeinsam organisierten sie 1992 den ersten schwul-lesbischen CSD. Rund 300 Menschen kamen in jenem Winter zusammen, die meisten liefen maskiert mit aus Angst, erkannt zu werden und ihren Arbeitsplatz zu verlieren.

Die Ideen, die Ilse in diesen Jahren der Militanz und des lesbischen Aktivismus entwickelte, veröffentlichte sie später in dem Buch „Amor de mujeres. El lesbianismo en Argentina hoy“ („Frauenliebe. Lesbischsein im heutigen Argentinien“), das sie gemeinsam mit Claudia Marek verfasst hatte. In dem 1994 erschienenen Buch erklärt sie, der Kuss einer anderen Frau im öffentlichen Raum bedeute ein tiefes Gefühl der Selbstbestätigung, ein Herauskommen aus dem Versteck. „Ich bin mit der Person zusammen, die ich liebe, und ich will meine Gefühle nicht verstecken. Es sind wunderschöne Gefühle, und niemand wird mir weismachen, dass sie es nicht wert sind, in der Öffentlichkeit ausgedrückt zu werden“, schreibt sie. Es war damals nicht üblich, dass Heterofrauen die Normsetzung der Heterosexualität hinterfragen, obwohl es doch in allen historischen Epochen und auf allen Kontinenten Anziehung zwischen Frauen gab. Oder sich die Frage zu stellen, „wie das Patriarchat von unserem blinden Gehorsam profitiert.“ Ich glaube, das ist auch heute nicht üblich, auch wenn seither einiges passiert ist. Ilses Buch schließt mit den Worten: „Es gibt uns, und wir Lesben sind überall. Wer denkt, dass mir das Probleme bereitet hat, dem versichere ich, dass das nicht der Fall war. Ganz im Gegenteil. Sich nicht verstecken oder verstellen zu müssen, ist eine Hymne auf die Freiheit.“

Hasta siempre, Ilse Fuskova

In dem Wissen, dass eines Tages geschehen würde, was an diesem kalten Tag im Juni geschah, haben Liliana Furió und Lucas Santa Ana im Jahr 2021 Ilse Fuskova in einem Film portraitiert. Der Film erzählt das Leben der lesbischen Aktivistin und Pionierin im Kampf für LGBTI+-Rechte in Argentinien. Sie wollten, dass ihr Vermächtnis von allen wahrgenommen wird. „Ilse zu treffen war für mich eine absolute Offenbarung und eine Lernreise. Kurz nach meinem Coming-out, nachdem ich viele Jahre lang verheiratet war, hatte ich das Privileg und das Glück, sie persönlich kennenzulernen“, schwärmt Lili Furió. Ihre Freundschaft vertiefte sich 2015, als der Vorschlag aufkam, einen Film über ihr Leben zu drehen. „Diese letzten Jahre mit ihr zu teilen war eine weitere schöne und lehrreiche Erfahrung. Sie hat uns vieles als Werkzeug für den Kampf hinterlassen, darunter auch das Buch, das sie mit Claudina geschrieben hat, und ich hatte das große Glück, ihr in diesen letzten Jahren sehr nahe zu sein“, sagt die Regisseurin des Dokumentarfilms. In dem Film ist eine völlig weißhaarige Ilse zu sehen, die die Stationen ihres Lebens, gebannt auf Fotopapier, durchgeht. Szenen aus ihrer Kindheit, aus ihren Jahren als Stewardess, Ilse mit ihren Kindern – all die Ilses, die sie in den 95 Jahren ihres Lebens gesucht, gefunden und zu sein gewagt hat. „Heute sind wir in Trauer, denn gestern ist Ilse von uns gegangen, Ilse, der wir Lesben, lesbische Frauen, lesbische Männer, lesbische Trans*personen und alle lesbisch-feministischen kämpferischen Identitäten so viel zu verdanken haben. Ilse verstand es, aus dem Lesbischsein ein Handbuch des Widerstands, aus der Sichtbarkeit ein Werkzeug des Überlebens, aus der Fotografie ein Manifest und aus der Literatur ein Feld zu machen, um andere Lebensoptionen zu säen“, schrieb die Schriftstellerin und Forscherin Vir Cano zum Abschied auf ihrem Instagram-Account.

Ilses Vermächtnis

Ich frage mich, wie vielen von uns Ilses Mut als Trampolin gedient hat, um den Sprung in unser eigenes Leben zu wagen. Und wie viele sie davor bewahrt hat, ein einsames Dasein zu fristen. Etliche sind nach Ilses Fernsehauftritt aus ihrem Versteck ins Licht getreten, haben sich getraut, mit ihrer Geliebten öffentlich Hand in Hand zu laufen, die Angst vor Repressalien zu überwinden und ihr Leben offen zu führen. Auch ich, eine Lesbe ihrer Generation, aufgewachsen in einer Provinz im Nordwesten Argentiniens, verdanke ihr einiges. Ich erinnere mich gut an diesen Tag in den 90er Jahren. Es war um die Mittagsstunde. Ich saß in einem Internetcafe vor einem langsamen Computer, verfolgte Ilses Auftritt in diesem Interview, hörte, wie sie das Wort ergriff und fühlte mich weniger allein. Endlich konnte ich denken: „Es gibt andere wie mich“. Und endlich, endlich hatte ich den Mut zu leben.

 

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