(Buenos Aires, 23. März 2020, redeco/poonal).- Seit dem 22. März 0:00 Uhr gilt in Bolivien für alle Bürger*innen eine zunächst 14-tägige Ausgangssperre, die im gesamten Land zu einer massiven Militarisierung geführt hat. Besonders präsent sind die Streitkräfte in den Teilen des Landes, die mehrheitlich mit der Partei Movimiento al Socialismo (MAS) sympathisieren. Vom 10. März 2020 bis zum 30. März wurden in Bolivien 107 mit dem Coronavirus Infizierte registriert. Sechs Personen sind gestorben, drei davon in Santa Cruz und drei im Department La Paz.
Hartes Durchgreifen der staatlichen Sicherheitskräfte
„Und was sollen wir in diesen 14 Tagen essen?“, fragen die Menschen an der bolivianischen Grenze den Verteidigungsminister Fernando López. Statt eine verständliche Erklärung abzugeben, reagierte dieser wütend und aggressiv auf die Fragen der Händler*innen. Dabei beschäftigt genau diese Frage derzeit viele Bolivianer*innen: Anders als beispielsweise in Argentinien ist die Mehrheit der bolivianischen Bevölkerung in informellen Arbeitsverhältnissen tätig, es gibt viele fliegende Händler*innen; etliche Menschen verdienen ihren täglichen Lebensunterhalt auf Märkten. Schon vor Ausrufung der Ausgangssperre hatten Sicherheitskräfte begonnen, Menschen von den Straßen fernzuhalten. Am 19. März wurden in Cochabamba 56 Arbeiter*innen festgenommen, die zu Fuß auf dem Nachhauseweg waren, weil es keine öffentlichen Verkehrsmittel gibt. Zahlreiche Videos in den sozialen Medien dokumentieren das gewalttätige Vorgehen der Polizei gegen sozial Schwache, die sich auf der Straße befinden. Zuletzt wurde in Huanuni, Oruro der Fall eines Polizisten bekannt, der mit ungebremster Brutalität auf einen Mann einschlug, der die Auflagen der Ausgangssperre nicht eingehalten hatte. Gleichzeitig werden immer neue Videos hochgeladen, in denen Ärzt*innen aus unterschiedlichen Departamentos die Regierung verzweifelt um Unterstützung bitten. Fast könnte man meinen, dass die Regierung nicht in erster Linie um Vorsichtsmaßnahmen angesichts einer Pandemie bedacht ist, sondern die Lage nutzt, um Sicherheitskräfte gegen die Bevölkerung einzusetzen.
Gesundheitsexpert*innen beklagen Materialknappheit und Fachkräftemangel
Am 21. März erklärten die Leiter der acht Krankenhäuser des Klinikkomplexes Miraflores in La Paz den Ausnahmezustand und teilten mit Besorgnis mit, dass keine Maßnahmenpläne für den Umgang mit Covid-19 vorlägen, außerdem fehle es an Material und Ausrüstung: „Unseren Mundschutz müssen wir uns selbst basteln“. Alle beklagten sich über die Anweisungen der Regierung und die Kündigungs- und Strafandrohungen, falls diese nicht umgesetzt würden. „Der Punkt ist, dass wir gar nicht die Mittel haben, um diese Auflagen einzuhalten“, so die Klinikleiter. Wenige Tage zuvor hatte Fernando Romero, selbst Arzt und Generalsekretär der Gewerkschaft für medizinische Berufe (Sindicato de Ramas Médicas de Salud Pública – Sirmes) berichtet, das renommierte Krankenhaus Hospital de Clínica in La Paz könne aufgrund von Personalmangel keine intensivmedizinischen Dienste anbieten. Es gehe um 310 Stellen, die nicht besetzt würden. Verantwortlich seien Weimar Arancibia, Leiter des Gesundheitsamts, und Luis Larrea, Präsident der Ärztekammer La Paz. Sie verzögerten die Besetzung der Stellen mit dem Argument, es fehlten die beruflichen Examen. „Mein Krankenhaus braucht 21 Fachkräfte für die Intensivmedizin. Die fehlt uns hier derzeit komplett. Es gibt sechsmal die notwendige Ausstattung, aber wir haben keine Leute.“ Mit seiner Entscheidung nehme „der Sedes-Direktor den Tod Tausender Menschen in La Paz in Kauf“.
De-Facto-Regierung weist Unterstützung kubanischer Ärzt*innen zurück
Die kubanischen Ärzt*innen wurden des Landes verwiesen. Auch das Angebot Havannas, Medikamente und Ausrüstung zu senden, wurde trotz der Intervention des MAS-Kandidaten Luis Arce Catacora abgelehnt. „Hier zeigt sich, dass Stolz immer noch eine größere Rolle spielt als die Gesundheit der Bolivianer*innen“, so Gesundheitsexpertin María Bolivia Rothe Caba, unter der Regierung Morales 14 Jahre lang Mitarbeiterin des Gesundheitsministeriums, im Gespräch mit Radiosender FM La Boca. […]
Müssen wir also davon ausgehen, dass sich die Regierung zur Eindämmung der Epidemie einzig auf Repression in Form der militärischen Durchsetzung der Ausgangssperre beschränkt?
Gesundheit und Politik dürfen nicht vermischt werden. Die Regierung muss sich um das Wohl der gesamten Bevölkerung kümmern, nicht nur um ihre Anhänger*innen. Die verfassungsmäßig garantierten Rechte müssen allen Menschen gleichermaßen zukommen. Das gilt auch für das Recht auf Gesundheitsversorgung. Aber wie von einer neoliberalen Regierung nicht anders zu erwarten, gibt es hier nun wieder Menschen erster und zweiter Klasse. Für sie ist Gesundheitsversorgung kein Allgemeingut, sondern eine individuelle Leistung.
Was sagst du zu dem Vorwurf, die MAS-Regierung hätte sich nicht genug um die Pflege des Gesundheitswesens gekümmert?
In 14 Jahren MAS-Regierung wurden 1032 neue Einrichtungen geschaffen, es gab in Bolivien 2870 Krankenhäuser. Es wurden mehrere Kliniken mit verschiedenen Spezialisierungsstufen errichtet. Das Gesundheitsministerium plante den Bau von 49 Spezialkliniken, von denen 30 % fertiggestellt werden konnten. Der Rest der Bauvorhaben wurde gestoppt, so wie alle Arbeiten zum Ausbau der Infrastruktur. Bis 2005 gab es im ganzen Land nur 558 Krankenwagen. Zwischen 2008 und 2014 wurden 1514 neue angeschafft, dazu kommen die, die von den Landkreisen aus eigenen Mitteln finanziert wurden. Zusätzlich zu den 17.175 Stellen im Gesundheitswesen zu Beginn der MAS-Regierung wurden 18.550 neue Arbeitsplätze für Ärzt*innen und andere Fachkräfte im Gesundheitswesen geschaffen. Erst letztes Jahr hatten wir mit dem Programm SUS (sistema único de salud) die kostenlose Gesundheitsversorgung für alle eingeführt. Für die nächsten Jahre war die Einrichtung von 10.000 neuen Stellen geplant. Soweit ich weiß, ist auch dieses Vorhaben zum Erliegen gekommen.
Wie beurteilst du den aktuellen Umgang mit COVID-19?
Wie uns mitgeteilt wurde, gibt es kein koordiniertes Vorgehen so wie hier in Argentinien. Der bolivianische Gesundheitsminister Aníbal Cruz tritt nicht jeden Tag auf, um den aktuellen Stand zu verkünden. An den Flughäfen gibt es keine Spezialkräfte, die die Einreise kontrollieren. An den Landesgrenzen steht das Militär, hält aber auch keine Sicherheitsvorschriften ein. Dementsprechend sind wir ziemlich besorgt und haben von hier aus an die Regierung appelliert, dass sie zur Vernunft kommen soll, hier gelte es, jenseits aller politischen Differenzen zusammenzuarbeiten. Die Regierung trägt Verantwortung gegenüber der Bevölkerung, und diese Aufgabe gilt es zu erfüllen.
Wie betrachtest du die Maßnahmen gegen das Dengue-Fieber, dem derzeit besonders die bolivianischen Kinder zum Opfer fallen?
Leider passiert da überhaupt nichts. An der Spitze des Gesundheitsministeriums steht die Ärztekammer. Diese hatte sich besonders gegen die Einführung der generellen Gesundheitsversorgung gestemmt, für unter der Morales-Regierung ein wichtiges Ziel war.
Es ist nicht so, als sei Bolivien überhaupt nicht vorbereitet. Wir haben zwei große Epidemien erfolgreich überstanden. Am Ende unserer Regierungszeit gab es im Gesundheitsministerium erfahrene und geeignete Kräfte, und wir hatten den Ausschuss für Notfallvorsorge. Diese Leute sind mittlerweile alle entlassen. Inzwischen gibt es auch keine Leute mehr, die über die nötige Erfahrung verfügen, um das Zentrum für Notfallmaßnahmen zu leiten. Derzeit macht das der Verteidigungsminister, die Vorschrift lautet jedoch, dass der/die Gesundheitsminister/in dieses Amt übernehmen muss. Es wäre sehr wichtig, dass dieses Gremium die weltweit tätigen Fachkräfte zu einer Beratung zusammenruft und darüber redet, wie es weitergehen soll. In Bolivien leben außerdem viele Fachkräfte, die aus dem Ministerium entlassen wurden und jetzt gebraucht werden.
Der Expert*innenmangel wird derzeit regelrecht forciert, und wir wissen nicht, warum. Zum Beispiel wurde unmittelbar nach dem Ausbruch von COVID-19 die Epidemiologin aus dem Gesundheitsministerium entlassen. Dabei wäre es doch jenseits aller politischen Gräben Teil der Regierungsverantwortung, eine Expertin zu haben, die alle notwendigen Maßnahmen koordinieren kann. Solche Entscheidungen wirken sich unmittelbar verschärfend auf das Übertragungsrisiko aus. In China ist die Epidemie fast überwunden. Wir Gesundheitsexpert*innen wissen, dass sich aus den Entwicklungen in China wichtige Erfahrungswerte gewinnen lassen. Bei dem großen Dengue-Ausbruch in Bolivien 2008 konnten wir auf die Erfahrungen Kubas zurückgreifen, wo es im Jahr 1981 eine Dengue-Epidemie gegeben hatte. Wenn es um die Gesundheit geht, müssen politische Differenzen zurückstehen.
PODEMOS im Wahlkampf – trotz Quarantäne
Die ersten, die die Quarantäne-Auflagen missachteten, waren jedenfalls die PODEMOS-Anhänger*innen. Santa Cruz, die Stadt mit den meisten Infizierten, wurde über Nacht in giftgrün getaucht – die Farbe der Partei von Jeanine Añez. Im Netz tauchten Videos auf, die Sympathisant*innen beim Plakateaufhängen und Bemalen von Wänden zeigen –ungeachtet der Sperrstunde. Die für den 3. Mai angesetzten Präsidentschaftswahlen wurden bereits verschoben.
Übersetzung: Lui Lüdicke
Keine Medikamente, aber Tränengas für alle von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
Schreibe einen Kommentar