Gorillas – Keine Super-Arbeitsbedingungen im Super-Start-up

(Berlin, 17. Januar 2022, npla).- Die Corona-Pandemie hat die Bewältigung des Alltags vor neue Probleme gestellt; entsprechend wurden Lösungsansätze geschaffen, um auf diese Herausforderungen zu reagieren. Dass ein Lieferdienst die Einkäufe vom Supermarkt bringt, wenn man selbst zu Hause bleiben muss, klingt zunächst ziemlich gut. In Berlin hat sich jedoch gezeigt, dass dieses Geschäftsmodell nur durch die Ausbeutung der Arbeitnehmer*innen rentabel ist, und das betrifft zumeist Migrant*innen. Radio Matraca hat sich die Arbeitsbedingungen des Lieferdiensts „Gorillas“ genauer angesehen und mit einigen Riders gesprochen; das sind die Menschen, die auf Fahrrädern durch die Stadt rasen und die Lebensmittel ausliefern. Die Namen der Befragten wurden zu ihrem Schutz geändert.

Gorillas: ein Überflieger unter den Start-ups

Das Unternehmen Gorillas wurde im Mai 2020 gegründet und entwickelte sich in einer Rekordzeit von nur neun Monaten zum sogenannten Einhorn-Start-up. Es ist das erste Unternehmen in Deutschland, dem es innerhalb so kurzer Zeit gelungen ist, hinsichtlich seiner Marktbewertungen die Eine-Milliarde-Dollar-Hürde zu knacken. Der Kundenservice des Unternehmens funktioniert folgendermaßen: Im Stadtbezirk Berlin wurden 17 Lokale angemietet, die als Lagerräume fungieren und wie kleine Supermärkte ausgestattet sind. Dort stellen die so genannten Picker die Bestellungen zusammen und geben sie weiter an die Rider, die bereits im Lager stehen und auf ihre Bestellung warten, um sie dann per E-Bike auszuliefern. Die Räder werden vom Unternehmen bereitgestellt. Für Migrant*innen, die kein Deutsch sprechen, bietet diese Art der Plattform-Arbeit  eine schnelle und unkomplizierte Möglichkeit, Geld zu verdienen. Matteo, Rider in Berlin-Kreuzberg, erzählt uns von seinen Erfahrungen: „Vor einem Monat haben alle Lagerstationen in Berlin neue Fahrräder bekommen. Leider mussten wir sehr schnell feststellen, dass es sehr gefährlich ist, mit diesen Fahrrädern unterwegs zu sein, vor allem bei Nässe, aber auch, wenn die Fahrbahn trocken ist. Die Bremsen sind sehr schlecht. Viele meiner Kolleg*innen sind schon am ersten Tag mit diesen neuen Rädern gestürzt“.

Sicherheitsstandards: von Anfang an ein Streitpunkt

Die Sicherheitsstandards führten bei Gorillas von Anfang an zu Kontroversen. Viele Rider berichten, dass technische Defekte und mangelnde Wartung, vor allem aber die ungeeignete Konstruktion der Fahrräder gefährliche Situationen hervorrufen. Knochenbrüche, chronische Schäden und Gefährdung durch leicht entzündliche Stoffe sind nur einige der gemeldeten Fälle. Auf dem Akku der E-Bikes klebt ein Etikett, und darauf steht: „Der Akku darf nicht mit Salzwasser in Berührung kommen. Lassen Sie das Fahrrad nicht für längere Zeit im Regen stehen“. Dass ein E-Bike durch den Kontakt mit Wasser anfangen könnte zu brennen, darauf würde vermutlich niemand so schnell kommen. Doch als an einem regnerischen Arbeitstag mehrere Rider qualmende Akkus meldeten, blieben ihre Bedenken ungehört, und die Lieferungen wurden fortgesetzt. Dazu Matteo: Deshalb hatte ich vorgeschlagen, dass ich ja ohne die Batterie fahren könnte, wegen der Geschwindigkeit und vor allem wegen der Brandgefahr, und dann hieß es, ja, das könnte eine Lösung sein, aber in Wirklichkeit ist das keine Lösung. Ich habe mich zwar sicherer gefühlt, aber der Aufwand ist viel größer, und so ein E-Bike wiegt viel mehr. Dazu kommt dann noch das Gewicht der Bestellung. Aber so wie ich das sehe, ist das die einzige Möglichkeit, wenn du auf Sicherheit wertlegst.“ Gorillas hat im Laufe seiner kurzen Geschichte mehrere verschiedene Fahrradmodelle ausprobiert. Logisch wäre eigentlich, dass von Mal zu Mal Verbesserungen vorgenommen werden, die die Arbeit erleichtern und garantieren, dass die Rider sicher und im Rahmen der geltenden Straßenverkehrsvorschriften arbeiten.

Ein Knochenjob

Sobald der Kunde die Bestellung bestätigt, beginnt ein Picker, die Ware zusammenzustellen, während die Rider mit ihren vom Unternehmen gestellten Rucksäcken auf der anderen Seite des Tresens warten. Was die Rider überhaupt nicht gut finden, ist, dass es keine Obergrenzen für Bestellungen gibt. Das durchschnittliche Gewicht pro Bestellung liegt bei acht bis 15 kg. Es wird empfohlen, schwerere Bestellungen auf mehrere Rider aufzuteilen. „Praktisch wird das aber kaum gemacht, weil oft einfach nicht genug Leute da sind. Und weil die die Räder nicht wirklich so gebaut sind, dass man mit ihnen gut Gewicht transportieren kann, schnallen wir uns das Gewicht meist auf den Rücken…“ Beim Sicherheitstraining der Dekra wird die maximale Last, die bei Kurierfahrten  auf dem Rücken transportiert werden sollte, mit zehn Kilo angegeben. Wird das Maximalgewicht überschritten, benötigen die Fahrer*innen eine angemessene Ausrüstung, um Verletzungen zu vermeiden. Dazu Camilo: „Was die Arbeit für dieses Unternehmen besonders problematisch macht, ist das Equipment, das sie uns zur Verfügung stellen. Ich spreche da für uns als Rider, und unser wichtigstes Arbeitsgerät ist nun mal das Fahrrad. Ich hatte zum Beispiel vor etwa zwei Jahren einen Bandscheibenvorfall, der meinen Alltag nicht weiter beeinträchtigt hat. Ich konnte ganz gut damit leben. Seit ich hier arbeite, hat sich der Vorfall verschlimmert, weil wir nicht die notwendige Ausrüstung bekommen, um zehn Kilo schwere Bestellungen zu transportieren. Deshalb brauche ich mittlerweile schmerzlindernde Spritzen, so genannte spinale Infiltrationen, damit die Schmerzen nach der Schicht erträglich sind. Ich denke, das hätte man ganz einfach lösen können, zum Beispiel durch einen einfachen Fahrradkorb. Wenn es irgendeinen Behälter gäbe, müsste ich die Waren während der zehn Minuten, die wir für die Lieferung brauchen sollten, nicht auf dem Rücken tragen. Zehn oder zwanzig Mal am Tag so ein Gewicht, das ist nicht gesund für den Rücken. Es ist ein Teufelskreis: Wenn die Bedingungen nicht angemessen sind und die notwendige Ausrüstung nicht vorhanden ist, bekommen die Rider gesundheitliche Probleme und können nicht fahren und dann wird die ganze Arbeit auf die Leute abgewälzt, die noch da sind, und ich denke, das ist denen gegenüber nicht fair.“

„Ich hatte noch nie eine Gehaltsabrechnung, die gestimmt hat“

Ab April 2021 häuften sich Beschwerden über Probleme bei der Bezahlung: unvollständige Löhne, nicht abgerechnete Stunden oder nicht überwiesenes Krankengeld. Rebecca erzählt: Ich hatte noch nie eine Gehaltsabrechnung, die gestimmt hat. Jedes Mal, also, wirklich jedes Mal musste ich Geld nachfordern, weil sie mir zu wenig gezahlt oder irgendwelche Stunden nicht abgerechnet hatten. Ich musste jeden Monat hinter meinem Geld hertelefonieren, bis ich irgendwann einfach keinen Bock mehr hatte.“ Was Bezahlung, Kommunikation und Transparenz angeht, hat auch Felo mit Gorillas keine guten Erfahrungen gemacht: „Schon als ich bei Gorillas angefangen habe, gab es Probleme mit der Bezahlung. Gleich im ersten Monat haben sie mich in die falsche Steuerklasse eingestuft, obwohl alle Informationen vorlagen. Deshalb musste ich mehr Steuern zahlen, die ich bis heute nicht erstattet bekommen habe. Es sind etwa 500 Euro. Im Juli 2021 fing ich als Rider an, und seitdem hatte ich jeden Monat irgendein Problem. Meistens bekam ich mein Geld viel später als meine Kolleg*innen. Oft war es auch zu wenig, und ich konnte nie richtig überprüfen, wie viel fehlte, weil ich keinen Zugang zu meinen Gehaltsabrechnungen bekam. Inzwischen arbeite ich nicht mehr für Gorillas, und ich komme immer noch nicht an meine Gehaltsabrechnungen und weiß auch nicht, was mit dem Geld ist, das sie mir noch schulden. Irgendwann war ich das ganze Theater leid, deshalb habe ich mich an die Chefetage gewandt, um mich zu beschweren. Das endete damit, dass sie mich genau deswegen gefeuert haben: Weil ich verlangt habe, was mir zusteht: das Geld, für das ich gearbeitet hatte. Bis heute habe ich keine Antwort bekommen, und jetzt, wo ich nicht mehr Teil des Unternehmens bin, ist es noch schwieriger, meine Beschwerde weiter zu verfolgen“.

Chaos auch bei den Hygienestandards

Am 24. November 2021 führte das Landesamt für Arbeitsschutz eine Inspektion beim Warehouse am Standort Muskauerstr. 48 in Kreuzberg durch. Aufgrund gravierender Sicherheitsmängel wurde die dauerhafte Schließung des Lagers angeordnet. „Im Lager herrscht ein totales Chaos, von Sicherheit und Hygiene kann hier keine Rede sein“, erzählt ein Mitarbeiter.

Unrechtmäßige Kündigungen haben vor Gericht keinen Bestand

„Die Kommunikation mit der Unternehmensleitung ist echt kompliziert. Wenn man sich über irgendwas beschweren will, kann man eigentlich nur vor Gericht gehen, was natürlich auch nicht so einfach ist, wenn man kein Deutsch spricht“, so die resignierte Bilanz eines Riders. Nach monatelangen erfolglosen Beschwerden ergriffen einige Arbeitnehmer*innen Anfang Oktober die Initiative und legten ihre Arbeit nieder, um die Erfüllung ihrer grundlegenden Forderungen zu erzwingen. Das Unternehmen reagierte darauf mit der sofortigen Kündigung ihrer Verträge mit der Begründung, ein solches Vorgehen sei illegal. Darauf beschlossen mehrere Arbeitnehmer*innen, das umstrittene Vorgehen vor Gericht zu bringen. Seither steigt mit jeder Anhörung die Zahl der gewonnenen Fälle. Die Plattformunternehmen schlagen einen Paradigmenwechsel bei der Nutzung der Dienstleistungen, der Einbeziehung von Technologie sowie in Sachen Kundenfreundlichkeit, Innovation und Spitzenleistungen vor.

Mit Demos und Mobilisierungen in den sozialen Netzwerken versuchen heute verschiedene Gruppen organisierter Arbeitnehmer*innen, ihre Situation in der Öffentlichkeit und gegenüber den Behörden sichtbar zu machen und sich Gehör zu verschaffen, trotz aller Erschwernisse, auf die insbesondere Migrant*innen dabei stoßen. An der Schwelle zu einem neuen Lockdown muss garantiert sein, dass die mit der Pandemie entstandenen Arbeitsmodelle nicht nur vorteilhaft für Unternehmen und Endverbraucher*innen sind, sondern auch fair und sicher für die Arbeitnehmer*innen.

Diesen Artikel auf Spanisch findest du hier. Und hier gehts zu dem Audiobeitrag zum Thema auf Spanisch.

Zum deutschen Audiobeitrag gehts hier lang.

Wer auf dem Laufenden bleiben will, was die Probleme und Forderungen der Gorillas-Fahrer*innen betrifft, folgt dem Gorillas Workers Collective auf twitter und GorillasRiderLife auf instagram.

Über die Streiks der Riders von Gorillas im Sommer 2021 gabs hier bereits einen spanischen Audiobeitrag von Radio Matraca.

CC BY-SA 4.0 Gorillas – Keine Super-Arbeitsbedingungen im Super-Start-up von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

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