(Guayaquil, 5. April 2020, ANRed/El Salto).- Leichen liegen überall auf den Straßen verstreut, Menschen ringen mit dem Tod und werden zum Sterben zurückgelassen. Das sind nur einige der Folge der Ausbreitung des Coronavirus, das inzwischen auch Guayaquil erreicht hat. Wir beleuchten die kolonialen Hintergründe, die sich hinter der humanitären Katastrophe in der ecuadorianischen Stadt verbergen.
Alarmstufe 14. Ursprünglich komme ich aus Quito, aber meine Großeltern Raúl und Eugenia lebten in Guayaquil. Als Kind verbrachte ich viele Sommer dort, bin Hand in Hand mit ihnen durch diese chaotische Stadt gelaufen, in der es immer feucht und warm ist. Dort habe ich gelernt, Reis mit Linsen, Spiegeleiern und Patacones zu essen. Gemeinsam mit Raúl habe ich im Fernsehen Tres Patines y el tremendo juez en la tremenda corte angeschaut. Aus schmerzhafter Ferne stelle ich mir nun vor, wie die Straßen, durch die wir so viele Male gelaufen sind, jetzt aussehen. Heute liegen dort überall Menschen, die aufgrund der COVID-19-Pandemie ohne medizinische Versorgung dem Tode geweiht sind. Dutzende Leichen ruhen für jeden sichtbar auf diesen Straßen, zurückgelassen, aber nicht vergessen. Niemals werden wir das vergessen.
Ecuador hat nach Brasilien die höchsten Fallzahlen Südamerikas – ist aber deutlich kleiner
Im Januar landete ein Flugzeug aus Madrid in Guayaquil. In diesem Flugzeug reiste die Patientin 0, eine 71-jährige Frau, die in der Stadt Torrejón de Ardoz in der Region Madrid wohnt. Gemeinsam mit ihren zwei Kindern lebt sie in Spanien. Am 13. März verstarb die Frau, zwei Tage später starb auch ihre Schwester. Kurz drauf wurde in der Stadt der Ausnahmezustand ausgerufen, da mehr Infizierte und Todesfälle durch COVID-19 verzeichnet wurden als in den meisten anderen lateinamerikanischen Ländern wie Peru, Argentinien, Kolumbien, Uruguay, Venezuela, Bolivien oder Paraguay.
Ecuador ist das drittkleinste Land Südamerikas. Betrachtet man jedoch die Anzahl der mit dem Coronavirus infizierten Menschen und die so verursachten Todesfälle, so steht das kleine Land hinter Brasilien bereits an zweiter Stelle. Dies ist keineswegs ein Zufall. Verschiedene Faktoren stehen im Zusammenhang mit der rasanten Ausbreitung des Virus. Einer der wichtigsten ist der mangelhafte Umgang der Regierung mit der Pandemie, sowohl auf nationaler als auch auf lokaler Ebene.
Die Folgen kolonialistischer Politik
Ende der 90er Jahre, als Spanien in einer tiefen Wirtschaftskrise steckte, wurden auf dem Arbeitsmarkt Frauen aus dem Globalen Süden gebraucht, die bereit waren, für niedrige Löhne zu arbeiten. Damit die spanischen Frauen tagsüber arbeiten und das Haus verlassen konnten, brauchten sie Haushaltshilfen. Zahlreiche Frauen, vor allem aus Lateinamerika, haben für sie das Putzen und die Hausarbeiten übernommen. Die kolonialistische Politik, auferlegt durch die Länder des Globalen Nordens (USA und Europa), veränderte unsere Länder durch industriellen Rohstoffabbau, Freihandelsabkommen, die Dominanz internationaler Unternehmen auf dem Markt, Entwicklungszusammenarbeit, Lehrstühle an den Universitäten usw..
Diese gezielte Ausbeutung wird von der kreolischen Elite auf lokale Ebene fortgeführt. Seit Jahrzehnten vertreiben sie die Menschen aus ihren Dörfern, von ihrem Land und von ihren Familien. Ende der 1990er Jahre haben sie sich neu organisiert und eine Art globale Versorgungskette geschaffen, indem tausende ecuadorianische Frauen nach Spanien reisten, um dort zu arbeiten. Dort wurden wir zu einer der größten Gemeinschaft von Migrantinnen des Landes. Damals, als es noch Arbeit in Spanien gab, war der Markt jedoch durch eine starke ethnische und geschlechterspezifische Segregation geprägt: Frauen, die nach Spanien kamen, arbeiteten in der Regel in Jobs, die schlecht angesehen waren und nicht ihren Qualifikationen, ihrem Studium oder ihren bisherigen beruflichen Erfahrungen entsprachen. Ihre Arbeit war unsichtbar und wenig geschätzt. Dennoch haben sie jahrelang die spanische Wirtschaft am Leben gehalten und genauso die ecuadorianische Wirtschaft unterstützt. Im Verlauf der Krise zu Beginn des neuen Jahrtausends kehrten viele Migrantinnen zurück, zahlreiche blieben jedoch in Spanien.
Ecuadorianerinnen brachten möglicherweise, ohne es zu wissen, auch das Virus aus Spanien nach Ecuador
Der Zusammenhang zwischen der Verbreitung des Virus und der Zahl derer, die abgeschoben wurden und in ihre Heimat zurückkehrten, ist offensichtlich. Ursache davon waren unter anderem die Expansion und Verfestigung der kolonialen Politik des Nordens im Globalen Süden.
Ich kenne die Patientin 0 nicht und weiß auch ihren Namen nicht. Aber ich weiß, dass sie Teil unserer Gemeinschaft in der Diaspora war und sie wahrscheinlich zu den Migrantinnen gehörte, die das spanische Wirtschaftssystem während der letzten Jahrzehnte am Laufen hielten. Doch inmitten der verheerenden Krise, die sich in Spanien abzeichnet, wurde die Diaspora, wieder einmal, von den Hilfen der spanischen Regierung ausgeschlossen.
Im Januar 2020 reiste die Patientin 0 nach Ecuador, so wie auch ich es tat, denn dies ist ein guter Zeitpunkt: So kann man die Feiertage nutzen und dem kalten europäischen Winter entfliehen. „Sie ging, um zurückzugehen“ (ein Ausdruck, den wir in der Andenregion Ecuadors benutzen). Unglücklicherweise konnte sie nicht mehr zurückkehren. Genauso wie sie reisten hunderte Ecuadorianerinnen, die in Spanien leben, hier her und brachten möglicherweise, ohne es zu wissen, auch das Virus nach Ecuador.
Die Oberschicht feiert und macht Witze
Einige Tage nachdem der Notstand ausgerufen wurde, fand in Guayaquil eine große Hochzeit statt. Die Quarantänevorschriften wurden dabei völlig außer Acht gelassen, da sich die gesellschaftliche Oberschicht scheinbar nicht an die Regeln halten muss und auch keine Rücksicht auf das Leben „anderer“ nimmt. Stattdessen machen sie darüber Witze. Die Oberschicht hat sich schon immer gleichgültig gegenüber dem Leid anderer gezeigt. Und so ist dieses Leid zur grausamen Normalität geworden. Das Land ist ihr Grundbesitz, denn seit Jahrhunderten gehören ihnen die landwirtschaftlichen Betrieben und Kakao-Plantagen.
Die erwähnte Hochzeit wurde in großem Stil gefeiert und von den Medien wesentlich weniger thematisiert als die Flugbahn der Patientin 0. Angeblichen nahmen der Bürgermeister von Guayaquil, Miss Ecuador (so etwas gibt es noch?) und weitere Persönlichkeiten der Stadt an der Hochzeit teil. Auch aus Italien reisten Gäste an, obwohl man wusste, dass dort bereits tausende Menschen an COVID-19 erkrankt waren. Doch das war scheinbar egal. Viel wichtiger waren das pompöse Fest der Eheschließung, die Ringe, das private Vermögen, das Abendessen, das weiße Brautkleid, die Braut und der Bräutigam, der Luxus, der Whiskey und das Essen. Alles war schön, weiß und romantisch, teuer, modern und makellos. Und damit alles so schön und makellos war, brauchte es Menschen, die die unsichtbaren Arbeiten leisteten. Ohne diese Menschen hätte, wie so oft, das Fest nicht stattfinden können. Augenscheinlich waren viele der Gäste und auch des Personals bereits mit dem Virus infiziert. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass die Hochzeit der zweiter Infektionsherd in Guayaquil war.
Die Stadt hat sich in ein Leichenfeld verwandelt
Der Zusammenhang zwischen der Ausbreitung des Virus und der Zahl der Abgeschobenen, die nach Hause zurückkehrten, um sich zu erholen und ihre Familien zu besuchen, die sie in Ecuador zurücklassen mussten, lässt sich auch auf die Expansion der Kolonialpolitik des Nordens im Globalen Süden zurückführen. Diese koloniale Struktur und Denkweise werden noch heute weitergeführt und aufrechterhalten und die Folgen sind deutlich sichtbar. Das Ergebnis ist eine Stadt, die sich inzwischen in ein Feld aus Leichen verwandelt hat. Schon bald werden es Tausende sein, doch begraben werden können sie nicht.
Vielleicht braucht es eine Katastrophe inmitten dieser kolonialen Zerstörung. Vielleicht kann man dadurch lernen, dem Tod zu begegnen und das Recht auf einen würdevollen Tod einzufordern, den Tod und den Verlust zu akzeptieren und mit den Verbliebenen weiterzuleben.
Die Trauer ist ein geteilter Schmerz, der es den Angehörigen erlaubt, gemeinsam damit umzugehen. Das gemeinsame Trauern öffnet einen Weg, die Veränderung anzunehmen. Doch wenn der Leichnam nicht Teil der Trauerfeier sein kann, ist es schwer für die Familien damit abzuschließen. Leider ist dies jedoch immer häufiger der Fall, denn seit Jahren ertrinken Flüchtlinge wegen der europäischen Migrationspolitik im Mittelmeer. So gibt es keinen Raum für Trauer und ohne Trauer können weder die Toten noch die Lebenden ihren Frieden finden. Jedes Wesen, das lebendig ist und eine Seele hat, ob menschlich oder nicht, verdient ein Leben in Würde, einen Tod in Würde und verdient es auch in Würde zu trauern. In Guayaquil gibt es bereits hunderte von Toten und es werden noch hunderte folgen. Und dennoch kann keine Trauerfeier für sie stattfinden, da die leblosen Körper auf den Straßen liegen bleiben und es keine Möglichkeit gibt, sie zu begraben. Schuld daran sind das Versagen des Staates und das kolonialen System, dass auch dann noch seine soziale Hierarchie aufrechterhält, wenn die Menschen bereits aufgehört haben zu atmen.
Vielleicht braucht es eine Katastrophe
Vor dem Hintergrund dieser Situation fordern verschiedene Organisationen, trotz der Ausgangssperre, eine würdevolle Beisetzung für alle Verstorbenen. Sie fordern, dass die ecuadorianische Regierung auch im Rahmen der Bestattung an gewissen Mindeststandards festhält, trotz der aktuellen Notlage aufgrund der Corona-Pandemie. Wenn der Staat schon nicht in der Lage ist das Leben der Bürger*innen zu schützen, so muss er sich zumindest um die Toten kümmern.
Vielleicht braucht es im Angesicht dieser kolonialen Zerstörung eine Katastrophe, damit wir uns nicht nur auf geistiger, politischer und epistemischer Ebene fragen, was für ein Leben wir in Zukunft wollen. Genauso müssen wir lernen, jeder für sich selbst und auch zusammen als Gemeinschaft, mit dem Verlust umzugehen und das Recht auf einen würdevollen Tod einzufordern. Wir müssen weiterleben, mit den Lebenden und mit den Toten. Jeder Menschen bekommt Rechte zu Beginn seines Lebens und behält diese bis zum Ende seines Lebens. Wir haben ein Recht, die Toten zu verabschieden und uns auch selbst von ihnen zu verabschieden. Wir haben das Recht, uns zu erinnern.
Wenn unsere Trauerrituale Erinnerungen wachrufen, schenkt das Hoffnung, dass dort wo Erinnerungen sind auch neues Leben entstehen und blühen kann. Erinnerungen an die Migration, an die Fürsorge, an das Leben und an den Tod. Sie sind wie Blumen, die eines Tages vielleicht zu wilden Gärten werden. Gärten, in denen die Lebenden zu Hause sind und auch die Toten ihren Platz haben.
Übersetzung: Claudia Bothe
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