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(Berlin, 8. Juni 2025, npla).- Jedes Jahr entscheiden sich tausende junge Menschen aus dem Globalen Süden für ein Au-pair-Programm in Deutschland – motiviert durch den Wunsch, eine neue Kultur kennenzulernen, eine neue Sprache zu lernen und berufliche Perspektiven im Ausland zu erkunden. Gemäß § 19c Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes dürfen Personen zwischen 18 und 26 Jahren bei einer Gastfamilie leben, Kinder betreuen und bis zu 30 Stunden pro Woche im Haushalt helfen – im Gegenzug erhalten sie Unterkunft, Verpflegung und ein monatliches Taschengeld von 280 Euro. Auf dem Papier erscheint dies als fairer und bereichernder Austausch – in der Praxis jedoch offenbaren viele Au-pair-Erfahrungen prekäre Arbeitsbedingungen, Machtmissbrauch und Ausbeutung, getarnt als kultureller Austausch.
Theoretisch gut geregelt, praktisch keine Überprüfung
Zwei Erfahrungsberichte lateinamerikanischer Jugendlicher – Melisa und Camilo – zeigen Licht- und Schattenseiten des Programms. Melisa aus Mexiko sah im Au-pair-Visum einen einfachen Weg zur Migration nach dem Studienabschluss: „Ich wollte mich beruflich im Ausland weiterentwickeln und herausfinden, ob mir Deutschland gefällt, um vielleicht zu bleiben.“ Camilo aus Kolumbien betrachtete es als Möglichkeit zur sprachlichen und kulturellen Immersion: „Ich wollte in einem deutschen Umfeld leben, in dem täglich Deutsch gesprochen wird – in der Hoffnung auf bessere Integration.“ Ein wesentlicher Bestandteil des Programms ist der Vertrag mit der Gastfamilie, der Arbeitszeiten, Aufgaben und Bedingungen festlegt. Doch was auf dem Papier steht, löst sich oft im Alltag auf. Melisas und Camilos Erlebnisse zeigen, wie fragil diese Vereinbarungen sind – oft geprägt von kulturellen Unterschieden, Vertrauensmissbrauch und übermäßigen Arbeitszeiten. Camilo berichtet, dass er praktisch Vollzeit arbeitete – 7 bis 8 Stunden täglich – obwohl er die Aufnahme durch seine Gastfamilie als positiv empfand. „Sie haben mir eine kleine Wohnung zur Verfügung gestellt. Natürlich gab es schwierige Tage – man lebt schließlich mit einer Familie, die nicht die eigene ist, und betreut kleine Kinder.“
„Reine Glückssache“
Melisas Erfahrung war turbulenter: In eineinhalb Jahren lebte sie bei vier Familien. „Die erste und dritte Familie suchten im Grunde eine Haushaltshilfe. Es gab kein wirkliches Interesse an mir, die Interaktionen waren oft feindselig.“ Bei der zweiten und vierten Familie erlebte sie einen authentischeren Austausch und konnte emotionale Bindungen zu den Kindern aufbauen. Laut Programmrichtlinien sollen Gastfamilien die Kosten für Deutschkurse, Transport und eine integrative Umgebung übernehmen. Doch mangels Kontrolle hängt dies weitgehend vom guten Willen der Familien ab. Camilo betont, wie wichtig es sei, sich vorab gründlich zu informieren: „Ich habe viele Geschichten über problematische Familien gehört. Es ist eine Frage von Glück und guter Vorbereitung.“ Melisa berichtet, dass nur einige Familien ihre Transportkosten übernahmen. Oft musste sie diese Ausgaben von ihrem ohnehin geringen Taschengeld bestreiten.
Die unsichtbare Seite des Austauschs: Ausbeutung und Ungleichheit
Neben den logistischen Herausforderungen gibt es strukturelle Probleme, die die Situation vieler Au-pairs zusätzlich erschweren. Da sie an ein temporäres Visum gebunden sind und keinen Zugang zu Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld haben, befinden sie sich in einer sehr verletzlichen Position. Scheitert das Verhältnis zur Gastfamilie, droht ihnen der Verlust der rechtlichen Absicherung ihres Aufenthalts– ohne Einkommen, ohne Absicherung. Dies ist nicht nur ein bürokratisches Problem, sondern Ausdruck moderner Arbeitsausbeutung unter dem Deckmantel kultureller Erfahrung. In vielen Fällen reproduzieren sich dadurch neokoloniale Strukturen: Junge Menschen, vor allem Frauen aus dem Globalen Süden, kommen mit der Hoffnung auf Austausch und Integration – und landen in schlecht bezahlten, rechtlich ungeschützten Arbeitsverhältnissen ohne Mitspracherecht.
Eine neue Rolle in einer fremden Gesellschaft
„Am schwersten fiel es mir, meine neue Rolle in der deutschen Gesellschaft zu akzeptieren“, sagt Camilo. „In Kolumbien war ich ein frisch graduierter Ingenieur. Plötzlich betreute ich Kinder und lernte die Sprache.“ Zwar erlebte er keine offene Diskriminierung, doch viele Au-pairs haben nicht so viel Glück. Melisa hingegen berichtet von Diskriminierung und Klassismus, vor allem bei den ersten Gastfamilien. „Es gab verletzende Kommentare, Mikroaggressionen – etwa, dass wir aus Ländern kämen, in denen es nichts zu essen gäbe. Ich wurde auch wegen meines Sprachlevels diskriminiert, weil ich mich nicht so ausdrücken konnte, wie sie es erwarteten.“ Die wohlhabendste Familie war zugleich die feindseligste.
Wachsende Paradoxie
Solche Erfahrungen sind keine Einzelfälle und werden von Organisationen, die sich für Migrant*innenrechte einsetzen, regelmäßig angeprangert. Fehlender rechtlicher Schutz, finanzielle Abhängigkeit und soziale Isolation setzen Au-pairs einem hohen Risiko aus – an der Grenze zwischen familiärem Zusammenleben und versteckter Ausbeutung. Das Au-pair-Programm in Deutschland steht exemplarisch für eine wachsende Paradoxie: Während die internationale Mobilität junger Menschen unter dem Ideal von Austausch gefördert wird, bleiben ungleiche Arbeitsstrukturen bestehen, die Diskriminierung, Stereotype und Prekarität weiter verfestigen. Ohne strenge Regulierung, ein globales Bewusstsein für Machtverhältnisse und echte Schutzmechanismen kann der sogenannte „kulturelle Austausch“ leicht zur modernen Form der Ausbeutung werden.
Zu diesem Beitrag gibt es auch ein Audio in spanischer und deutscher Sprache.
Au-pair in Deutschland: Kulturaustausch oder prekäre Arbeit? von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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