von Graciela Cristina Gómez
(Quito, 07. Mai 2010, alai).- Die Provinz Santiago de Estero weist eine beängstigende Häufung von Krebserkrankungen bei Kindern auf. Zwar erkranken auch in den übrigen Teilen des Landes Kinder an Krebs, das Besondere an Santiago de Estero ist jedoch, dass der Anstieg der Erkrankungen in der Öffentlichkeit genauso wenig thematisiert wird wie die Nachlässigkeit der Gesundheitsbehörden, der Gesetzgebung und der Polizei. So allgegenwärtig ist die Macht der wirtschaftlichen Kontrolle, dass niemand den Versuch unternimmt, das Schweigen zu brechen. Wo das Bruttosozialprodukt regiert, wird die Gesundheit bedeutungslos. Hier wird alles im Pestizidnebel vernichtet. Die einzige Überlebende ist die Sojapflanze, „weil sie einen eigenen Kopf hat“, wie es Dr. Jorge Kaczawer ironisch ausdrückt.
Das Kinderkrankenhaus der Provinz Santiago de Estero behandelt jedes Jahr 30 neue Kinder, die an den Pestizidbesprühungen der Felder erkrankt sind. „Die meisten Patienten, die hier eingeliefert werden, leiden an Blut- oder an Lymphkrebs. Feste Tumore werden am häufigsten im Gehirn oder in einem der inneren Organe, Nieren, Leber oder Darm, festgestellt. Auch Brustkrebs ist keine Seltenheit. Das Alter unserer Patientinnen und Patienten liegt zwischen null und 15 Jahren“, erklärte Alba Ruiz, Leiterin der hämatologischen und der onkologischen Abteilung, im März gegenüber der lokalen Tageszeitung „Nuevo Diario“.
Die Kinderärztin Silvina Morales erzählte vergangenes Jahr in einem Interview: „Ich habe hier Kinder mit zahlreichen Missbildungen gesehen. Kinder mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und einem angeborenen Herzfehler, Kinder mit Polydaktilie, also einem sechsten Zeh, fehlerhaft ausgebildeten Genitalien und anderen Auffälligkeiten, die normalerweise unter 300 oder 500 Fällen einmal vorkommen.“
Einmal habe sie den Fall eines Jungen erlebt, der eine ganze Reihe von Fehlbildung aufwies: „Eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, einen Fuß mit sechs Zehen, einen Herzfehler, einen zu kleinen Penis, sowie einen Defekt in der behaarten Kopfhaut, der vermuten lässt, dass die Chromosomenstörung Trisomie 13 (Pätau-Syndrom) vorliegt.“
Auch der Präsident der Landwirtschaftsschule von Santiago de Estero, Juan Tula Peralta, erklärte öffentlich: „Aufgrund des Einsatzes von Chemikalien in der Landwirtschaft werden in unserer Provinz jährlich über hundert Kinder mit körperlichen Missbildungen geboren.“ In Santiago del Estero und in den Nachbarprovinzen sei es üblich, dass die Flugzeuge, die die Felder mit Pestiziden besprühen, von Kindern eingewunken werden. Dass Kinder als lebende Begrenzungsmarkierungen für die zu besprühenden Felder verwendet würden, sei eine einseitige Polemik, die wichtige Details unerwähnt lasse, erklärten dagegen die Befürworter des Besprühungsverfahrens. So stünden diese Kinder zum Beispiel unter medizinischer Betreuung. Tatsache ist jedoch, dass die Krebserkrankungen der Kinder von der Agrarindustrie als Kollateralschäden in Kauf genommen werden. Nach Angaben der Hochschule sind etwa 350 Agraringenieure in Santiago del Estero tätig, davon sind aber nur 140 bei der Ingenieurkammer registriert.
Diese Gift-Befürworter sammeln sicher kein Wasser in den leeren Chemikalien, und sie sind auch nicht auf Regenwasser zum Kochen oder zum Trinken angewiesen, denn sie gehören nicht zu den Armen der Bevölkerung. Mit Schädlingsbekämpfungsmitteln besprenkelte Metallplatten sind das einzige und natürlich unzureichende Schutzschild gegen die Flugzeuge, die beim Versprühen ihrer Giftladungen weder die Abstände einhalten noch den Wind berücksichtigen.
Mitglieder des argentinischen Landschaftsverbands Sociedad Rural betrachten die Beschwerden als haltlos – aus ökonomischen Gründen: Das Schädlingsgift sei zu teuer, um es zu vergeuden. Es gebe allerdings Landwirte, die die Besprühung der Felder nicht ausreichend überwachten.
Die Nationale Kommission zur Untersuchung von Agrochemikalien (Comisión Nacional de Investigaciones por Agroquímicos) hat die eingegangenen Beschwerden in einem Informationsbericht zusammengefasst, der von der Anthropologin Maria Leticia Lahitte in Bandera, Santiago del Estero, vom 27. bis 29. Mai 2009 erstellt wurde.
Dazu wurden Gespräche mit dem Leiter des Krankenhauses, mit dem Ortsvorsteher und mit den Beschäftigten der Erste-Hilfe-Station Santa Rita geführt und die Angehörigen von sieben Kindern und einem Erwachsenen befragt, die beim Unfall eines Pflanzenschutz-Sprühflugzeugs zu Schaden gekommen waren.
Einer ist der elfjährige Cristian Collado, bei dem kürzlich eine Knochenmarktransplantation im Hospital Garraham durchgeführt wurde. Selena Lemos Gauna, sechs Monate alt, leidet vermutlich an Epilepsie, hypochronischer und mikrozytischer Anämie und offenem Rücken ohne Erweiterung des Nierenbeckens. Bei Facundo Kevin Moreno, fünf Jahre alt, wurde die Duchenne-Krankheit diagnostiziert. Er ist wegen Muskeldystrophie in Behandlung. Für die Duchenne-Krankheit besteht eine familiäre Vorbelastung: Ein Bruder der Mutter starb bereits an der Erkrankung; ihr 14jähriger Bruder Johnatan Roldán sitzt zum Zeitpunkt des Gesprächs im Rollstuhl.
Die anderen beiden Kinder sind die Söhne von Daniel González, der als 18-Jähriger in der Landwirtschaft zu arbeiten begann und unter anderem die Besprühung der Felder mit Pflanzenschutz übernommen hat. Zwei seiner Söhne, Leonel und Gastón, heute neun und elf Jahre alt, kamen ohne Afterausgang zur Welt und mussten gleich nach der Geburt operiert werden. Seine siebenjährige Tochter Yasmín hatte bei ihrer Geburt zwei zusammengewachsene Finger an der linken Hand. Die Familie wohnt etwa hundert Meter von den Feldern entfernt. Gleich neben ihnen lebt Rosa Villafañe, deren 57jähriger Mann mit Lungenkrebs in ein Krankenhaus in der Hauptstadt eingeliefert wurde. Auch er hatte Schädlingsbekämpfungsmittel auf die Felder gesprüht. Seine kleine Enkelin kam mit einem fehlgeformten Nierenbecken zur Welt. „Im Hospital Garrahan haben sie meiner Tochter gesagt, das sei wegen der Agrochemikalien. Nun ist sie in Behandlung.“
Der sechsjährige Sohn von Francisco Basualdo leidet an Allergien. Er wird im Krankenhaus Añatuya behandelt. Der behandelnde Arzt fragte sofort, ob die Familie aus Bandera stamme, denn die meisten Patienten mit diesen Beschwerden seien aus dieser Gegend. Elio Fernández aus Guardia Escolta ist mit seinem 23jährigen Sohn bereits in mehreren Krankenhäusern gewesen. Der junge Mann erlitt schwere Vergiftungen beim Kontakt mit Metamidophos, einem Organophosphat-Insektizit. Selbst in den Phasen, in denen er nicht krankgeschrieben ist, leidet er unter Schwindel, Kopfschmerz und Übelkeit. Fernández weiß außerdem von einem Nachbarn zu berichten, der durch den Kontakt mit Insektenvernichtungsmitteln ein Auge verlor. Er habe nach oben gesehen, als das Flugzeug über ihn hinweg flog. Ein Tropfen des Pestizids sei dabei genau in sein Auge gelangt.
Die Frage, ob die Behältnisse und die Abfälle vorschriftsmäßig gereinigt und bis zur Wiederverwertung in den entsprechenden Sacksilos aufbewahrt würden, wurde verneint mit der Begründung, es gebe in der „Region kein Wasser, um diese Vorgaben zu erfüllen (laut Angaben des Unternehmens)“.
In der gesamten Gegend gibt es genau zwei Silos. Einer gehörte der ehemaligen Getreideverwaltung. Seine Betreiber haben Konkurs angemeldet; Näheres ist nicht bekannt. Das zweite Silo stand ursprünglich auf dem freien Feld, jetzt ist es inmitten von Wohnhäusern platziert. Die Eigentümer befinden sich im Rechtsstreit mit der Stadtverwaltung und erlauben daher nicht, dass es wieder an seinem ursprünglichen Ort aufgestellt wird.
In der Ortschaft gibt es außerdem eine Werkstatt für die Reparatur von Maschinen, mit denen innerhalb bewohnter Gebiete vom Boden aus gesprüht wird, sowie drei Landebahnen und mehrere Flugzeughallen. In einer der Halle werden leere Pflanzenschutzmittelbehälter unverpackt gelagert. Die leeren Behälter werden außerdem als Fahrbahnbegrenzung in der direkt hinter dem Industriezentrum befindlichen Karting-Bahn benutzt.
Eigentlich ist es Vorschrift, Listen mit den Namen aller Nutzer*innen und dem gesamten Material, das für die Besprühung vom Boden und von der Luft aus zur Verfügung steht, anzufertigen. Solche Listen existieren jedoch nicht. Der Grund dafür ist, dass das Abkommen zwischen der Stadtverwaltung und der Generaldirektion Ackerbau und Viehzucht noch nicht endgültig zustande gekommen ist. Der Ortsvorsteher von Bandera, Oscar Gorosito, versicherte, die Unterzeichnung des Abkommens stehe auf der Tagesordnung, ließ aber offen, bei welcher Abteilung eigentlich, und auch auf die Frage, wann mit dem Abschluss zu rechnen sei, wollte er nicht näher eingehen.
Die Kommission zur Beobachtung der Verwendung von Agrochemikalien kommt daher unter anderem zu folgenden Schlussfolgerungen: „Das Gesetz 6312 und die Stadtverordnung 13/97 sind zu befolgen. Es ist eine epidemiologische Erhebung über die gesundheitliche Situation der Bevölkerung in Bandera durchzuführen. Auch die gesundheitliche Situation der Landbevölkerung ist zu untersuchen. Ferner muss geprüft werden, welche Umweltbelastungen vorliegen. Besonderes Augenmerk ist auf Wasserquellen und die Verschmutzung des Bodens zu richten.“
In Bandera (deutsch: Fahne) hängen die Flaggen auf Halbmast: Hier existiert kein Himmel und kein Wasser. Es gibt fast nichts mehr außer Soja.
Wo nur die Sojapflanze überlebt von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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