von Sergio Ferrari
(La Paz, 09. November 2009, bolpress).- Die Umweltkrise steht im Mittelpunkt des Medieninteresses angesichts der bevorstehenden UNO–Klimakonferenz vom 7. bis 18. Dezember 2009 in Kopenhagen. Die Aussichten für einen Erfolg dieser Konferenz sind jedoch gering. Es fehlt der gemeinsame Wille der Staaten, vorab eine Übereinkunft zu erzielen um dann in Kopenhagen ein verbindliches Abkommen zu erreichen. „Trotz aller düsteren Prognosen vertraue ich darauf, dass die Hoffnung über die Angst siegt und das Leben stärker ist als der Tod“, versichert der brasilianische Theologe Leonardo Boff zu Beginn eines Exklusivinterviews bei seinem Besuch Anfang November 2009 in der Schweiz.
Leonardo Boff wurde in Concordia, im brasilianischen Bundesstaat Santa Catarina am 14. Dezember 1938 geboren. Im Dezember 2008 wurde er 70 Jahre alt. Aus diesem Anlass wurde in der Schweiz das Buch „Leonardo Boff – Anwalt der Armen“ veröffentlicht. Das Buch ehrt sein Wirken als Priester und seinen Einsatzes für die sozialen Bewegungen Lateinamerikas. Boff hat bis heute 82 Bücher verfasst. Viele seiner Werke sind in mehrere Sprachen übersetzt wurden. In den 1970er Jahren war Boff einer der Gründerväter der Befreiungstheologie. 1985 wurde ihm deshalb vom Vatikan ein Rede– und Lehrverbot auferlegt. Angesichts eines erneut drohenden Verbotes sich zu äußern, legte Boff sein Priesteramt 1992 nieder und erklärte sich zum Laien. Bis heute verfasst er weiterhin theologische Beiträge. Ein besonderes Augenmerk legt er dabei auf ökologische Themen. Boff ist Berater der Landlosenbewegung der Landarbeiter*innen Brasiliens MST (Movimiento de los Trabajadores Rurales Sin Tierra de Brasil) und der Kirchlichen Basisgemeinden Brasiliens CEB (Comunidades Eclesiales de Base).
Boff erhielt am 7. November 2009 die Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät der Universität in Neuchâtel. Am 4. November hatte Boff an einer öffentlichen Debatte zu der Frage „Warum es die Befreiungstheologie noch immer braucht“ teilgenommen, die von der Nichtregierungsorganisationen E–Changer und der Bethlehem Mission Immensee im Romero Haus in Luzern veranstaltet worden war und zu der 200 Menschen erschienen waren.
F.: Heutzutage spricht jeder über die ökologischen Probleme unserer Erde. Sie waren einer der ersten, der bereits in den 1980er Jahren vor diesen Problemen warnte. Wie schätzen Sie die gegenwärtige Situation der Umwelt ein? A.: Es gibt viele wissenschaftliche Belege dafür, dass wir vor dem Ausbruch einer ökologischen und humanitären Tragödie stehen. Seit der Unterzeichnung der Erd–Charta durch Persönlichkeiten aus aller Welt hat sich nicht viel geändert. In diesem wertvollen Dokument haben wir erklärt: „Wir stehen an einem kritischen Punkt der Erdgeschichte, an dem die Menschheit den Weg in ihre Zukunft wählen muss. Wir haben die Wahl: Entweder bilden wir eine globale Partnerschaft, um für die Erde und füreinander zu sorgen, oder wir riskieren, uns selbst und die Vielfalt des Lebens zugrunde zu richten.“
„Es wird mehr konsumiert, als die Erde verkraften kann.“
F.: Das ist eine sehr direkte und kompromisslose Aussage. Worauf berufen Sie sich dabei? A.: Auf das gegenwärtige Zusammentreffen dreier struktureller Krisen: der Krise der fehlenden Nachhaltigkeit im Umgang mit dem Planeten Erde, der weltweiten sozialen Krise und der Krise, die durch die Erwärmung auf der Erde hervorgerufen wird.
F.: Können Sie hierfür Beispiele nennen? A.:Wenn man die soziale Situation betrachtet, dann muss man sagen, dass fast die Hälfte der Menschheit weiterhin unterhalb der Armutsgrenze lebt. Die Zahlen sind erschreckend. Die 20 reichsten Prozent der Menschheit konsumieren 82,49 Prozent der Ressourcen der Erde. Die 20 Prozent am unteren Einkommensspektrum müssen sich mit einem Bruchteil zufrieden geben, nämlich mit nur 1,6 Prozent der Ressourcen. Mit Blick auf die Erwärmung des globalen Klimas erklärt die UN–Organisation für Landwirtschaft und Ernährung FAO, dass es in den kommenden Jahren zwischen 150 und 200 Millionen Klimaflüchtlinge geben wird. Die dramatischsten Prognosen sprechen von einem Temperaturanstieg von vier Grad Celsius bis 2035. Bis zum Ende des Jahrhunderts könnten es nach Schätzungen sogar sieben Grad Celsius sein. Wenn dieser Temperaturanstieg so eintritt, wird keine der heute bekannten Lebensformen überleben können. Auch für die Krise fehlender Nachhaltigkeit möchte ich ein Beispiel geben: Die Menschheit konsumiert heute 30 Prozent mehr, als es die Regenerationsfähigkeit der Erde erlaubt. Also 30 Prozent mehr als das, was wieder durch die Erde bereitgestellt werden kann.
F.: Dieser verschwenderische Lebensstil ist jedoch kein neues Phänomen … A.: Das stimmt. Aber das Ausmaß von Zerstörung und Verschleiß der Umwelt sind neu. Sehr glaubhaften Studien zufolge haben wir 1961 nur die Hälfte der Ressourcen der Erde benötigt, um die menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen. 1981 haben wir eine Pattsituation erreicht. Das bedeutet, dass wir bereits in jenem Jahr sämtliche Ressourcen der Erde dafür benötigten. 1995 haben wir die Regenerationsfähigkeit der Erde um zehn Prozent überschritten, was noch zu ertragen gewesen wäre. Seit 2008 sind wir jedoch 30 Prozent darüber. Die Erde gibt uns eindeutige Zeichen, dass sie das nicht mehr verkraftet.
“In wenigen Jahren werden wir zwei Erden benötigen”
F.: Und die Aussichten für die Zukunft sind noch besorgniserregender? A.: Ja, wenn das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) wie vorhergesagt unvermindert bei jährlich zwei bis drei Prozent liegt, dann werden wir 2050 zwei Erden benötigen, um unsere Konsumbedürfnisse befriedigen zu können. Das ist natürlich unmöglich. Denn wir haben nur eine Erde.
F.: Heißt das, wir müssen anfangen über ein anderes Zivilisationsmodell nachzudenken? A.: Ganz genau. Wir können nicht weiterhin produzieren, wie wir es bisher getan haben. Das gegenwärtige kapitalistische Produktionsmodell geht von der falschen Annahme aus, dass die Erde eine große Schatzkiste sei, aus der man unendlich Ressourcen entnehmen könne, um in kürzester Zeit größtmögliche Gewinne mit der geringstmöglichen Investition zu erzielen. Heute ist klar, dass die Erde ein kleiner und alter Planet mit begrenzten Ressourcen ist, der eine unbegrenzte Ausbeutung nicht verkraftet. Wir müssen uns anderen Produktionsmodellen zuwenden und auch andere Konsumgewohnheiten annehmen. Das neue Paradigma unserer Zivilisation muss daher lauten: Produzieren, um die menschlichen Bedürfnisse im Einklang mit der Erde, in Anerkennung ihrer Grenzen und im Geiste der Gleichheit und Solidarität mit zukünftigen Generationen zu befriedigen.
Kopenhagen: Der Einfluss der Wirtschaft
F.: Um zurück zur gegenwärtigen Situation zu kommen: In wenigen Wochen wird in Kopenhagen der Weltklimagipfel stattfinden. Gibt es Chancen für ein neues Abkommen? A.: Es gibt eine zentrale Voraussetzung. Wir müssen alles in unserer Macht stehende tun, damit wir einen Temperaturanstieg über zwei bis drei Grad Celsius vermeiden, damit das Leben auf der Erde weitergehen kann. Dabei muss man berücksichtigen, dass bereits dieser Temperaturanstieg eine Zerstörung der Biodiversität und einen Holocaust für Millionen Menschen bedeutet. Deren Lebensräume werden dann nämlich nicht mehr bewohnbar sein. Dies gilt vor allem für Afrika und Südostasien. Dabei beunruhigt mich besonders die Verantwortungslosigkeit vieler Regierungen. Vor allem die Regierungen reicher Länder wollen keine verbindlichen Ziele zur Reduktion der Treibhausgase vereinbaren, um das Klima zu retten. Eine wahrhaftige ökologische Kurzsichtigkeit!
F.: Und die Ursache hierfür ist der fehlende politische Wille, ein neues Abkommen zu erreichen? A.: Vor allem ist es ein Interessenskonflikt. Die großen Firmen, beispielsweise Erdölfirmen, wollen keine Veränderung weil sie sonst ihre momentan enorm hohen Gewinne einzubüßen würden. Man muss die Wechselwirkung zwischen Politik und Wirtschaft verstehen. Die Großmacht hat die Wirtschaft. Die politische Macht ist nur eine Ableitung der ökonomischen. Viele Staaten repräsentieren nicht die Interessen ihrer Bevölkerung, sondern die Interessen der mächtigsten Wirtschaftsakteure.
F.: Im Falle eines Scheiterns von Kopenhagen: wie sieht danach ein Szenario für die bereits jetzt dramatische Klimasituation aus? A.: Nach meiner Auffassung verursacht ein Scheitern der politischen Bemühungen eine enorme Herausforderung für die Zivilgesellschaft, damit sie sich mobilisiert, Druck macht und die Veränderungen einfordert, die immer von unten kommen. Ich vertraue darauf, dass Vernunft, Besonnenheit und Weisheit von der Zivilgesellschaft kommen werden. Sie wäre in der Klimafrage auch das wichtigste historische Subjekt. Wirkliche Veränderungen kommen nie von oben, sondern von unten. Und trotz der gegenwärtig schwierigen Situation habe ich das Vertrauen darin, dass es sich nicht um eine Tragödie mit bösem Ausgang handelt, sondern um eine Krise, die läutert und uns erlaubt einen entscheidenden Schritt hin zu einer besseren Zukunft zu machen.
F.: Mit einem gemeinsamen Programm, um die Erde zu retten? A.: Wir müssen eine Bio–Zivilisation vorantreiben, die sich auf vier Grundpfeiler stützt: der nachhaltigen, verantwortungsvollen und solidarischen Nutzung endlicher Ressourcen und Dienste der Natur; die demokratische Kontrolle der sozialen Beziehungen, insbesondere eine demokratische Kontrolle über die Märkte und spekulative Investments; ein globaler Minimalethos, der aus einem multikulturellen Austausch resultiert und der Barmherzigkeit, Kooperation und globaler Verantwortung Nachdruck verleiht. Und: die Spiritualität, und zwar in ihrer anthropologischen Dimension und nicht als ein Monopol der Religionen. Sie muss sich als Ausdruck eines Bewusstseins entwickeln, das sich als Teil eines größeren Ganzen versteht, aus dem es viel Kraft erhält und das den höheren Sinn von allem repräsentiert.
(in Zusammenarbeit der Pressestelle der Schweizer Nichtregierungsorganisation E–Changer)
„Mehr verträgt unsere Erde nicht“ – Interview mit Leonardo Boff von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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