Größenwahn auf südamerikanisch – die Infrastrukturinitiative zur regionalen Integration Südamerikas (IIRSA)

(Berlin, 19. November 2009, npl).- Im August 2000 einigten sich in Brasília die Staatschefs der 12 südamerikanischen Länder auf ein neues Infrastrukturvorhaben zur regionalen Integration Südamerikas, kurz: IIRSA (Iniciativa para la Integración de la Infraestructura Regional Suramericana). IIRSA ist, man kann es nicht anders sagen, ein Megaprojekt gigantischen Ausmaßes: Von Nord nach Süd und Ost nach West sollen zwölf sogenannte Infrastruktur– und Entwicklungsachsen den gesamten südamerikanischen Kontinent durchschneiden.

Die Achsen sollen dazu dienen, die “physische, ökonomische und politische Integration” des Kontinents voranzutreiben und die Entwicklung von “unterentwickelten Subregionen zu stimulieren”, so die Aussagen auf der offiziellen IIRSA–Webseite. Genauer gefasst könnte man auch sagen: Der südamerikanische Kontinent soll erschlossen, Grenzen und Barrieren zum schnelleren Warentransport und Rohstoffabtransport überwunden werden.

Konkret geht es um mehr als 500 Einzelprojekte, die, auf 12 Achsen verteilt, die einzelnen Kerne von IIRSA bilden: neue oder ausgebaute Fern– und Wasserstraßen, Projekte zur Energiegewinnung, wie Staudämme und Wasserkraftwerke, Gas– und Ölpipelines. Südamerika rüstet sich für den Weltmarkt. Es will als Lieferant für Agrarprodukte, Energie und Rohstoffe eine neue Stufenleiter erklimmen.

Und genau deswegen ruft IIRSA die sozialen Bewegungen und indigenen Völker Südamerikas auf den Plan: Denn etliche der IIRSA–Achsen – wie die Amazonasachse oder die interozeanische Achse zwischen Brasilien, Bolivien und Peru – führen durch ökologisch hoch sensible Gebiete mit einem enormen Reichtum an biologischer und kultureller Vielfalt wie das Pantanal oder die Amazonasregion. Und die Einschätzung der IIRSA–Planer*innen zu diesen Gebieten lässt auf nichts Gutes hoffen: Für sie sind die zum Teil noch wenig erschlossenen Landschaften nichts anderes als “Barrieren”, die es zu überwinden gilt. Dieser Blick auf den Kontinent alarmiert Roberto Espinoza von der Andinen Koordination der Indigenen Völker Perus: “Es geht IIRSA allein um die Waren, nicht um die Menschen. Es geht darum, das brasilianische Soja schneller zum Pazifik zu bekommen. Darum, die mineralischen Rohstoffe abzutransportieren. Es ist eine Vision von ökonomischen Megaprojekten. Natürlich erklärt man das den Leuten so nicht. Man spricht im Gegenteil davon, man bringe Entwicklung für alle. Die Leute werden von IIRSA betroffen sein, sie werden aber nicht dazu konsultiert, es gab niemals eine Debatte.”

Und tatsächlich: Während die offizielle Webseite von IIRSA höchst mögliche Transparenz verspricht und aufwendig gestaltete Grafiken und Werbevideos zur Verfügung stellt, ist dort von Konsultation und Mitspracherechten keine Rede. Und so machten am 2. November indigene Gruppen und Menschenrechtsorganisationen aus Peru, Bolivien, Ecuador und Brasilien vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte darauf aufmerksam: Sie protestierten in einer Anhörung vor dem Gerichtshof, dass sie bei der Planung und Umsetzung von IIRSA völlig außen vor bleiben – obwohl gerade indigene und kleinbäuerliche Gemeinden am meisten von IIRSA betroffen sein werden.

Doch während man beim Gerichtshof noch versucht, das Ausmaß von IIRSA zu verstehen, werden einzelne Projekte schon umgesetzt. Bereits 2003 begann der Planungsstab IIRSA mit seiner Arbeit. Bis 2010 soll eine Reihe von ersten, als “prioritär” klassifizierten Projekten verwirklicht werden. Insgesamt, so Schätzungen aus dem letzten Jahr, beträgt das Investitionsvolumen von IIRSA 62 Milliarden US–Dollar. Das Geld soll unter anderem von der Interamerikanischen Entwicklungsbank, den nationalen Regierungen und aus der Privatwirtschaft aufgebracht werden. Dass jedoch ein großer Teil der Gelder für die Investitionen aus den jeweiligen Staatshaushalten der Länder kommen soll, die Gewinne aber in private Taschen fließen, alarmiert Blanca Chancosa, von der Vereinigung der Quechua–Völker Ecuadors (Asamblea de Mujeres Kichwas del Ecuador): “Es ist überhaupt nicht garantiert, dass die Länder von IIRSA profitieren. In Wahrheit werden wir eine Staatsverschuldung bekommen, die bis in alle Ewigkeiten reicht. Probleme wie Bildung und Gesundheit werden nicht gelöst, und dabei wollen wir doch von unserer großen Verschuldung loskommen.”

Auch Ana Esther Ceceña, Professorin am wirtschaftswissenschaftlichen Institut der Universität von Mexiko–Stadt, geht mit IIRSA hart ins Gericht: “IIRSA wird in der Region eine ganz neue soziale und ökonomische Dynamik hervorbringen. Das Projekt tut dem bisherigen Gefüge Gewalt an und wird neue Grenzen errichten. Das Ziel ist einzig und allein die Ausrichtung auf den Weltmarkt: Man will konkurrenzfähiger und effizienter werden. All das wird nur in der Kategorie „von innen nach außen“ gedacht: Aus Lateinamerika sollen die Waren auf den Markt der USA, nach Europa bzw. auf entwickelte Märkte gebracht werden. IIRSA raubt die Urwälder aus, es wird das ökologische Gleichgewicht zerstören, ebenso das Gefüge der dort lebenden Gemeinden. Überall dort, wo Projekte durchgeführt werden, werden sich die örtliche Kultur und das Leben der Menschen verändern. IIRSA wird letztlich die soziale und ökologische Vielfalt drastisch reduzieren. Südamerika soll einer extremen Beschleunigung des Wettbewerbs und des Handels ausgesetzt werden. Dabei gilt: Je schneller man die Ressourcen rausholt, desto besser. Es ist eine Mentalität der Enteignung.”

Erstaunlich ist für etliche Beobachter*innen, dass auch die linken Regierungen Lateinamerikas an IIRSA festhalten, obwohl das Projekt zum Teil vor ihrer Amtszeit aus der Taufe gehoben wurde. Vielleicht ist weniger verwunderlich, dass Brasilien ein vitales Interesse an IIRSA hat: Das Land möchte seine Stellung als ökonomisches Zugpferd der Region ausbauen. Zudem wird wohl der brasilianische Baukonzern Odebrecht etliche der IIRSA–Projekte ausführen. Doch warum zum Beispiel Ecuador unter Rafael Correa oder Bolivien unter Evo Morales am Projekt festhalten, ist erklärungsbedürftig. Blanca Chancosa nennt die Dinge beim Namen: “Für uns ist es beunruhigend, dass die Politik der neuen, progressiven Regierungen in Lateinamerika nicht den Grundsatz verfolgt, das Leben zu verteidigen. Die Vorstellung, die die Regierungen von Entwicklung haben und die Vorstellung, die wir indigenen Völker und auch die sonstigen Bewohner der Länder davon haben, stimmen nicht überein.”

So halten auch die sogenannten progressiven Regierungen bis heute am Konzept des expansiven Wachstums für den Weltmarkt und an Rohstoffexporten fest. Davon jedoch profitiert die eigene Bevölkerung wenig bis gar nicht. Im Gegenteil: von den Bergbau– und Erdölfördergebieten oder den großen Sojamonokulturplantagen Lateinamerikas profitiert im Land lediglich die dünne Schicht der jeweiligen nationalen Elite. Ein gutes Geschäft wird IIRSA auch für transnationale Konzerne und die Rohstoffmärkte in den USA, Europa oder Asien: Rohstoffe werden billig zu haben sein – nicht zuletzt, weil die externen Kosten ihres Abbaus und Transports – soziale Umbrüche und Umweltschäden – lokal beglichen werden. Von Konzepten, die auf die ökologisch und sozial verträgliche Entwicklung lokaler, kleiner Wirtschaftseinheiten bzw. auf Binnenmarktwachstum setzen, ist IIRSA hingegen weit entfernt.

(Der gleichnamige Audio–Beitrag im Rahmen der Kampagne „Knappe Ressourcen? – Gemeinsame Verantwortung!“ kann hier angehört bzw. heruntergeladen werden.

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