von Antje Vieth
(Berlin, 05. Dezember 2015, npl).- Zugang zu Bildung ist eine Frage von Chancengerechtigkeit. Überall auf der Welt müssen gesellschaftlich benachteiligte Gruppen große Hürden überwinden, um eine gute Bildung zu erhalten. Soziale Herkunft, Alter, Geschlechtsidentität, Biografie sind nur ein paar der vielen Faktoren, die Einfluss darauf haben können. Für Menschen mit Behinderung birgt der Zugang zu Bildung oft noch weitere Schwierigkeiten.
Deutschland schneidet im europäischen Vergleich schlecht ab
Das deutsche Bildungssystem belegt in Sachen Inklusion im europäischen Vergleich einen der letzten Plätze. Und: Auch wenn es in Deutschland viel weniger Gullys ohne Deckel, weniger Straßen ohne Asphalt und mehr U-Bahnhöfe mit Aufzügen gibt als in Südamerika, bedeutet das nicht sicher, dass gehbehinderte Menschen ans Ziel gelangen.
Hans Friedrich Baum studierte an der Evangelischen Hochschule Berlin. Um mit seinem Rollstuhl das Audimax zu erreichen, musste er erst an die Öffentlichkeit gehen, bevor ein Fahrstuhl eingebaut wurde. Er erzählt, dass er „nicht angetrieben wurde da etwas zu verändern, weil gesagt wurde, es wäre kein Geld da und es hätte keinen wirtschaftlichen Nutzen.“ Erst nachdem er im ersten Semester ein Uniprojekt gestartet hatte und aus diesem Projekt heraus ein Musikvideo entstanden ist, kamen sie überhaupt darüber ins Gespräch, dass ein Fahrstuhl gebaut wird.
Uruguay und Argentinien haben UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben
Blicken wir nach Südamerika. Dort haben Uruguay und Argentinien ebenfalls die seit 2009 bestehende UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben. Eine praktische Umsetzung, die den Zugang zu Bildungseinrichtungen gewährleistet, ist nicht immer leicht. Das fängt schon bei den öffentlichen Verkehrsmitteln an. Und wer sich in Südamerika schon mal durch den Straßenverkehr bewegt hat, weiß, dass egal ob in Buenos Aires, Montevideo oder in kleineren Städten, die Straßen Löcher haben, in den überfüllten Bussen schon für eine weitere Einkaufstasche kein Platz ist und eine schnelle Reaktionsfähigkeit auf vorbeipreschende Autos überlebenswichtig sein kann.
Nadia Heredia ist Rollstuhlfahrerin. Sie berichtet aus Argentinien, dass für sie zum Beispiel die öffentlichen Verkehrsmittel ein großes Problem waren. „Die müssen zugänglich sein, ich zum Beispiel muss mit dem Rollstuhl einsteigen können. Wenn du niemanden hast, der dich fahren kann und du zwei Monate lang um so ein alltägliches Problem kämpfen musst, dann sagst du dir vielleicht: Okay, dann bleib ich halt zu Hause“, berichtet sie.
Nadia Heredia wurde mit einer Hirnlähmung geboren und sitzt seit ihrem 13. Lebensjahr im Rollstuhl. Sie arbeitete neun Jahre in der Comisión de Accesibilidad, der Kommission für Barrierefreiheit, an der nationalen Universität Comahue in Patagonien im Süden Argentiniens. Heute ist sie Professorin für Philosophie an dieser Universität: „An die Universität zu kommen ist für alle schwierig, für Menschen mit Behinderung noch schwieriger. Heutzutage ist das Thema Exklusion ein großes Problem im Bildungsbereich. Da werden dann Studierende mit Behinderung zu einer einfachen Zielscheibe, weil man sie allein schon durch den Straßenverkehr viel direkter ausgrenzen kann“, sagt sie.
Erblindete Lehrerin wird Schuldirektorin
Laura Paípo lebt in Uruguay und erblindete im Alter von 32 Jahren. Sie ist Lehrerin. Seit ihrer Erblindung unterrichtet sie vor allem Kinder mit Sehbehinderung. Inzwischen ist sie Schulleiterin einer Integrationsschule in einem Stadtteil von Montevideo. Sie sagt über das Ziel ihrer pädagogischen Arbeit: „Viele Familien denken, ihre Zukunft sei eingeschränkt, weil sie ein Kind mit Behinderung haben. Mein Leben ist in dem Fall häufig ein positives Beispiel, dass es auch mit Behinderungen geht. Wenn du sie anerkennst, akzeptierst und mit ihr lebst, ist das keine Einschränkung sondern etwas, was uns stärkt um Dinge zu lernen, die auch wir tun können.“
Zum Konzept der Schule gehört es, den Kindern mit Sehbehinderung die Blindenschrift beizubringen, ihnen den Umgang mit Hilfsmitteln zu zeigen um sie anschließend an (Regel-)Schulen in ihre Bezirken zu schicken. Sie sollen mit den Kindern aus ihrer Umgebung zur Schule gehen, meint Laura Paipó. Sie selbst hat eine 24-jährige Tochter.
Montevideo: Bordsteinrampen für Rollstuhlfahrer
Und Laura Paipó war die erste blinde Marathonläuferin Montevideos. Sie berichtet, dass es seit einem Jahr in Montevideo an allen Straßenecken Rampen gibt, um mit dem Rollstuhl den Bordstein hochzukommen, zumindest in allen wichtigen Zonen der Stadt. Es gibt immer noch kaputte Ecken, aber immerhin können sich alle fortbewegen. Sie selbst führe ein ganz normales Leben, mit ihrem Lebensgefährten, der auch blind ist. Beide bewegen sich mit dem Stock durch die Stadt, und machen alles, wozu sie Lust haben.
Für Nadia Heredia ist die gleichberechtigte Teilhabe aller am gesellschaftlichen Leben ein komplexes Thema. Wer ist als integraler Teil der Gesellschaft „drin“? Wer steht „draußen“? Nachdenklich formuliert sie: „In Wirklichkeit muss man hier niemanden integrieren, denn wir sind alle Teil dieser Gesellschaft. Und ich bin überzeugt, dass diese ethische Vision die Grundlage von Gleichberechtigung ist, die wir uns alle aneignen sollten.“ „Inklusion hat eben nicht nur was mit Menschen mit Behinderung zu tun“
Das ist ein Aspekt der auch in den Texten der UN Behindertenkonventionen lange diskutiert wurde. Dort wurde zu Inklusion hinzugefügt, dass es dabei nicht um die Integration von „Ausgegrenzten“ geht, sondern darum, von vornherein allen Menschen die uneingeschränkte Teilhabe an allen Aktivitäten zu ermöglichen.
Ähnlich formuliert es auch Hans Friedrich Baum, er sagt: „Also, ich finden diesen Begriff Inklusion sehr gut, weil er gerade in den Medien ist und in der Politik und weil alle Menschen überhaupt ein Interesse zeigen und weil, wenn man dann mit ihnen ins Gespräch geht, kann man sagen: okay, Inklusion hat eben nicht nur was mit Menschen mit Behinderung zu tun, sondern ist ein Teil davon. Inklusion heißt für mich, dass jeder Mensch tun und machen kann, was er gerne möchte – unabhängig davon, welche Hautfarbe er hat, welche Sexualität er hat oder ob er eine körperliche Beeinträchtigung hat oder nicht.“
Auch in Uruguay hat sich diesbezüglich in den letzten Jahren viel getan, und nicht nur bei den Rampen an den Bordsteinen, wie Laura Paipó erzählt: „Aus sozialer Perspektive haben sich viele Türen geöffnet, die Gesellschaft ist stärker sensibilisiert und es gibt für Menschen mit Behinderung mehr Möglichkeiten. In Bezug auf die Inklusion denke ich, liegt es auch an uns selber, wir sind in jedem einzelnen Fall Multiplikatoren. Eine blinde Professorin, die in der Lage ist, die Schulleitung zu übernehmen, das wäre vorher undenkbar gewesen.“
Konkrete Veränderungen bewirken
Laura Paipó, Nadia Heredia und Hans Friedrich Baum – alle drei wirken mit ihrer Arbeit im Bildungsbereich als Multiplikator*innen. Das ist sehr wichtig, damit sich konkret etwas verändert. Meistens bewege sich an jenen Orten etwas, wo Menschen mit Behinderung gesellschaftliche Teilhabe leben, weil sie dort arbeiten, studieren oder etwas anderes zu tun haben, meint Laura Paipó. Auch das Musikprojekt von Hans Friedrich Baum ist ein Beispiel dafür. Heute arbeitet er als Sozialarbeiter und Rap-Musiker in Berlin.
Und auch für Nadia Heredia ist ihre Arbeitsstelle, die Universität in Patagonien ein Ort an dem sie Dinge bewegen kann: „Ich bin optimistisch, deshalb habe ich einen Beruf im Bildungsbereich gewählt. Ich denke, so wie wir bestimmte Parameter gelernt haben, können wir diese auch wieder bewusst vergessen und uns darüber klar werden, dass sie nicht dazu beitragen, eine gerechtere, eine friedlichere und liebenswertere Gesellschaft zu kreieren. In denke, dass es genau diese kleinen Schritte sind, die eine einzelne Person bewirken kann und die dann als Multiplikatoren wirken.“
Foto: www.graffidi.de
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