(Berlin, 27. Februar 2023, poonal).- Am 20. Februar hat eine internationale Jury in der kolumbianischen Metropole Cali symbolisch den kolumbianischen Staat für Menschenrechtsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit verurteilt. Das „Tribunal Popular en Siloé“ macht den damaligen Präsidenten Kolumbiens, Iván Duque, sowie weitere führende Politiker*innen und Sicherheitskräfte für den Tod von 16 Menschen während der Proteste 2021 im Stadtteil Siloé in Cali verantwortlich. Das Urteil verfassten 14 internationale Geschworene, darunter Boaventura dos Santos, Daniel Feierstein und Raul Zelik.
Am 28. April 2021 hatte in Kolumbien der „Paro Nacional“ begonnen, eine landesweite Protestbewegung gegen Repression, die neoliberale Gesetzgebung und das schlechte Pandemiemanagement der konservativen Regierung unter Iván Duque. Ein Schwerpunkt der Proteste lag in der drittgrößten kolumbianischen Stadt Cali, und dort besonders im einfachen Arbeiterbezirk Siloé am Westrand der Stadt.
Staat reagierte auf Protestwelle mit extremer Härte
Der Staat reagierte auf die Massenproteste mit extremer Härte. Bereits Anfang Juni 2021 verfügte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch über „glaubwürdige“ Berichte über den gewaltsamen Tod von 68 Protestierenden und Unbeteiligten. Die genaue Zahl der Toten ist bis heute nicht nicht bekannt. Dutzende Menschen verschwanden zudem spurlos.
Besonders drastisch reagierte der Staat in Cali. Am 3. Mai 2021 wurde dort eine Trauerkundgebung von Spezialeinheiten der Polizei massiv angegriffen. Sieben Menschen starben in der Nacht an Schussverletzungen, insgesamt wurden in Cali 16 Todesopfer im Rahmen der Proteste verzeichnet.
Das Tribunal Popular en Siloé wurde im Mai 2022 von Familien und Opfern, Menschenrechtsverteidiger:innen und der katholischen Kirche ins Leben gerufen, weil die Staatsanwaltschaft bis auf wenige Fälle keine Untersuchungen zur Gewalt der Sicherheitskräfte angestellt hat.
„Das Besondere am Tribunal in Siloé ist, dass es aus einem marginalisierten Stadtteil heraus selbst organisiert wurde und eben nicht von Nichtregierungsorganisationen, wie ich es sonst kenne“, erklärte der deutsche Schriftsteller und Publizist Raul Zelik, der Teil der Jury war und lange Zeit selbst in Kolumbien gelebt hat. „Es wurden Fälle ans Licht gebracht, die zuvor nicht bekannt waren. Das ist ein wichtiges Ergebnis des Tribunals. Am Beginn der Recherchen war man noch von acht Toten ausgegangen, im Urteilsspruch werden nun 16 Ermordete beklagt. Im Laufe der Ermittlungen haben sich immer mehr Familien gemeldet, die während des Streiks Opfer der Repression wurden.“
Das Tribunal prüfte Beweismaterial in 159 Fällen, das Aktivist*innen aus dem Viertel zusammengetragen hatten. Dazu zählen Fotos, Handyvideos, Krankenakten, Medienberichte und Zeugenaussagen. Zu den schwerwiegendsten zur Last gelegten Verbrechen zählen Mord, gewaltsames Verschwindenlassen und Folter. Mehr als hundert nationale und internationale Organisationen unterstützten das Tribunal.
Iván Duque und führende Politiker*innen verantwortlich gemacht
Mit dem symbolischen Urteil vom 20. Februar werden für diese Verbrechen nun Ex-Präsident Iván Duque, hochrangige Politiker*innen und Sicherheitskräfte für 16 Todesopfer im Viertel Siloé in Cali verurteilt.
Iván Duque hatte die Protestierenden als aufständische Vandalen und Terroristen bezeichnet und ihnen das Recht auf Protest abgesprochen. Zudem hatte er über 3.000 Militärs nach Cali beordert. Das Oberkommando in Cali übernahm der ehemalige Militärgeneral Eduardo Zapateiro. Darüber hinaus werden der ehemalige Verteidigungsminister, der Generalstaatsanwalt, die Gouverneurin des Departamentos Valle del Cauca und Calis Bürgermeister sowie Polizeikommandanten und Befehlshaber der Spezialeinheiten zur Aufstands- und Terrorbekämpfung für die Verbrechen verantwortlich gemacht. Zahlreiche Menschen in Siloé sollen gezielt durch Scharfschützen erschossen worden sein.
„Das Tribunal Popular in Siloé eröffnet einerseits die Möglichkeit, den Überlebenden und Angehörigen der staatlichen Repression des Streiks von 2021 Gehör zu schenken“, sagte der Präsident des Tribunals, der argentinische Soziologe Daniel Feierstein. „Andererseits geben die Nachforschungen des Tribunals Anlass dazu, die konkreten Ereignisse in Siloé vor dem Hintergrund der Geschichte Kolumbiens zu lesen. Sie sind eingebettet in einen systematischen, kontinuierlichen Krieg gegen die marginalisierte Bevölkerung.“
Der amtierende kolumbianische Präsident Gustavo Petro hatte bereits vor einigen Wochen versprochen, die Opfer staatlicher Gewaltanwendung zu entschädigen. Auch dafür sind Beweismittel und Recherchen wie die des Tribunals wichtig.
Tribunal verurteilt Staat für Todesschüsse von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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