(Concepción, 11. Oktober 2021, ANRed) – Bei einem Brand im Polizeigefängnis von Concepción Anfang September starben vier inhaftierte Frauen. Einen Monat später verläuft die gerichtliche Untersuchung der Umstände, die zu ihrem Tod führten, nur schleppend. Bisheriger Stand: Die örtliche Staatsanwaltschaft für schwere Verbrechen sieht es als erwiesen an, dass das Feuer etwa vier Stunden brannte und sich außerhalb der Zelle entzündete. Die ursprünglichen Aussagen der diensthabenden Polizistinnen, es habe einen Aufstand der Gefangenen gegeben, sind damit hinfällig. Die Medien hatten diese erste Aussage zu folgender Schlagzeile verarbeitet: „Weil sie die Verlegung in eine Haftanstalt wollte: Junge Frau zettelt Aufstand an ‑ mit tragischen Folgen“. Ermittelt wird nun wegen unterlassener Hilfeleistung und wegen Mordes seitens der Sicherheitskräfte. Internationale Menschenrechtsorganisationen zeigen sich besorgt über den Fall. Ein Bericht von La Nota, La Retaguardia, Revista Cítrica und Revoluciones.net
Der Brand
Am Donnerstag den 2. September 2021 gegen 17 Uhr brach im Polizeigefängnis der Stadt Concepción ein Feuer aus. Rocío Micaela Mendoza, Yanet Yaqueline Squilán, María José Saravia und Macarena Salina erstickten in einer mit einem Vorhängeschloss gesicherten Zelle. Laut Zeugenaussagen waren es die Nachbar*innen, die die Feuerwehr alarmierten und mit Wassereimern versuchten, das Feuer selbst zu löschen. Als es schließlich gelang, das Gebäude zu betreten, waren bereits mindestens drei Stunden vergangen. Angehörige berichteten, die Frauen hätten bis zuletzt versucht, sich vor dem Feuer zu schützen und seien umarmt gestorben. Eine Frau, die in einem anderen Bereich der Polizeiwache festgehalten wurde, überlebte den Brand. Die drei in dem Polizeirevier befindlichen Beamtinnen erlitten keinerlei Verletzungen. Die vier Todesopfer waren zwischen 23 und 26 Jahre alt. Das Polizeigefängnis entspricht nicht den Anforderungen einer Haftanstalt, und keine der vier Frauen sollte ihre Haftstrafe dort verbüßen, da das einzige Frauengefängnis in Tucumán jedoch überbelegt ist, waren die vier Frauen in den Arrestzellen des Polizeireviers untergebracht. Nach eigenen Aussagen bemerkten die Angehörigen bei der Identifizierung der Leichen Spuren von Gewalteinwirkungen und Schlägen. Die jungen Frauen hätten in Briefen über Misshandlungen, Bestrafungen und Belästigungen durch die Wachen berichtet.
Wegen Überfüllung geschlossen: Platzmangel im Gefängnis
Der Brand ist kein Einzelfall. 2015 starben Ariano Viza und Emanuel Gallardo, zwei junge Männer im Untersuchungsgefängnis Nord von Yerba Buena, wo sie mit 16 anderen Personen in einer Zelle festgehalten wurden. Bis heute gab es deshalb noch kein gerichtliches Verfahren. Die Angehörigen fordern weiterhin Gerechtigkeit. Außerdem kam es in den letzten Wochen mehrfach zu Ausbrüchen aus den aufgrund der Überfüllung der Haftanstalten behelfsmäßig zur Verwahrung von Inhaftierten genutzten Polizeistationen. Der spektakulärste Ausbruch war der des zweifachen Frauenmörders Roberto Carlos Rejas. Gerüchten zufolge war die Polizei bei der Flucht behilflich.
Suche nach Antworten
Nachdem sie mehrere Wochen auf das Ergebnis der Gutachten gewartet hatte, ging die Mutter von Rocío Micaela Mendoza schließlich selbst zur Staatsanwaltschaft, um zu erfahren, was genau ihrer Tochter passiert war, während sie sich im Gewahrsam des Bundesstaats Tucumán befand. „Es hieß, das Feuer sei draußen in einem Innenhof ausgebrochen, und es soll mehr als vier Stunden gebrannt haben. Jetzt wird untersucht, ob es sich um unterlassene Hilfeleistung oder um Mord handelt“. Es wird nicht ausgeschlossen, dass das Feuer von einer außenstehenden Person gelegt wurde. Aus Justizkreisen wurde berichtet, dass die Überwachungskamera eine der Beamtinnen im Gespräch mit einem Mann aufgezeichnet hat. Die Auswertung der Bilder ist noch nicht abgeschlossen. Anklage wurde bisher noch nicht erhoben. „Dabei gibt es genügend Anhaltspunkte für eine formale Anklage“, so der Anwalt der Familie Mendoza, Benito Allende. „Wir haben hier gleich zwei zentrale Punkte, wo wir ansetzen können: die persönliche Verantwortung der diensthabenden Polizeibeamtinnen und die Verantwortung des Staats: des Richters, der den Freiheitsentzug der Personen zu verantworten hat, und des Ministeriums für Sicherheit, dem die Polizeibeamt*innen unterstellt sind. Das lässt sich in diesem Fall nicht voneinander trennen. Die Familien der Opfer sind institutioneller Gewalt und Reviktimisierung ausgesetzt. Rechtliche und politische Akteure setzen auf Untätigkeit und Zermürbung. Bei Fällen wie diesem ist es für die Angehörigen quasi unmöglich, Gerechtigkeit zu bekommen“.
„Sie haben sie einfach eingesperrt gelassen“
Die 23-jährige Yanet Yaqueline Saquilan, Mutter eines sechsjährigen Jungen, befand sich seit Januar 2021 in Haft. Am 12. September wäre die dreimonatige Verlängerung ihrer Haftzeit im Polizeigefängnis abgelaufen. Als Pflegeperson für einen ihrer Brüder und für ihren krebskranken Vater sollte sie ihre Strafe als Hausarrest verbüßen, nach dem Tod ihres Vaters wurde diese auf richterlichen Beschluss hin in eine Gefängnisstrafe umgewandelt. Da das Gefängnis überfüllt war, wurde sie in die Polizeiwache gebracht, wo sie kurz vor ihrer Entlassung bei dem Brand starb. Ihre Familie war die erste, die öffentlich die Festnahme der drei diensthabenden Polizistinnen forderte. Der Leiter des Sicherheitsministeriums hatte die drei lediglich in den Bereitschaftsdienst versetzen lassen.
Die 22-jährige Micaela Rocío Mendoza stammte als einzige aus Concepción. Sie bekam jeden Tag Besuch von ihrer Mutter, die ihr Essen und andere Dinge brachte, die sie mit den anderen Häftlingen teilte. Nach Angaben der Angehörigen der vier jungen Frauen war tagelanger Nahrungsentzug eine der häufig eingesetzten Strafen. Micaela war wegen Raub zu fünf Jahren Haft verurteilt worden; seit acht Monaten saß sie bereits in der Polizeistation. Seit Jahren kämpfte sie gegen ihr Suchtproblem. „Alle vier schliefen in einer drei mal drei Meter kleinen Zelle auf schmutzigen Matratzen, die auf dem Boden lagen. Tagsüber mussten sie alles zur Seite stapeln, um Platz zu haben. Sie hatten keine Möglichkeit, sich selbst zu versorgen, keine Bücher, nichts zu arbeiten, keine Freizeitaktivitäten, nichts. Sie waren zu Tode gelangweilt. In einem richtigen Gefängnis würden sie sich viel wohler fühlen, da waren sich alle vier sicher „, erzählt Micaelas Mutter. Micaela wartete sie auf ihre Verlegung in das Frauengefängnis „Santa Ester“, wo sie ihre Ausbildung beenden wollte. In der Polizeistation gab es dazu keine Möglichkeit.
María José Saravia, 25 Jahre alt und wegen Beihilfe zu schwerem Raub verurteilt, war Mutter von zwei Töchtern im Alter von sieben und drei Jahren. Beide befanden sich zum Zeitpunkt des Brands in der Obhut ihrer Großmutter. Da im Gefängnis in der Nähe ihrer Heimatstadt kein Platz für sie war, wurde sie im April 2021 in das Polizeigefängnis von Concepción verlegt. Da María José dringende medizinische Hilfe benötigte, war auf Anordnung eines psychiatrischen Sachverständigen der Justiz die Verlegung in ein Krankenhaus bereits beschlossen worden, dazu kam es jedoch nie. „María José hatte Waren aus einem Supermarkt gestohlen und war wegen Diebstahls zu vier Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Am 8. August 2024 wäre sie frei gewesen, aber nun ist sie tot. Sie wurde verurteilt, ja, aber das gibt niemandem das Recht, sie wie ein Tier zu behandeln. Sie verdiente Respekt wie jeder andere Mensch auch und nicht den Tod“, empört sich ihre Großmutter.
Die 22-jährige Macarena Maylen Salina war Mutter einer sechs Jahre alten Tochter. Sie wurde wegen schwerem Raub zu 6 Jahren und 8 Monaten verurteilt, obwohl ihr Ehemann den Überfall begangen hatte, allerdings saß Macarena mit auf dem Motorrad, das am Tatort vorfuhr. Bei ihrer Verhaftung wurde ihr Mann getötet. Dass sie überhaupt verhaftet wurde, war juristisch umstritten. Nach der Verurteilung beantragte ihr Verteidiger ihre Verlegung in eine näher gelegene Polizeistation, damit sie Besuch von ihrer Familie und ihrer kleinen Tochter bekommen konnte. Mehr als einmal wurde die Verlegung gerichtlich angeordnet, doch die Antwort war immer dieselbe: Die Verlegung sei wegen Platzmangels im Gefängnis nicht möglich. Außerdem wurde ihr Suchthilfe zugesprochen, doch auch die bekam sie nicht. Auch Macarenas Verwandte berichteten von Prellungen. In ihren Briefen habe sie bereits von Misshandlungen gesprochen. „Im Leichenschauhaus sahen wir die Leiche meiner Schwester und bemerkten die blauen Flecken an den Beinen. Wir glauben, dass sie die Frauen absichtlich zurückgelassen haben, um sie sterben zu lassen, wenn sie nicht sogar selbst das Feuer gelegt haben. Wir wollten uns Unterstützung bei Frauengruppen holen, aber diese Todesfälle haben nicht den gleichen Aufschrei provoziert wie ein Feminizid“, klagt Macarenas Bruder Raúl. Drei Wochen vor dem Brand sollte Macarena in die Haftanstalt nach Banda del Río Salí verlegt werden. Sie hatte alle Papiere zusammen und freute sich darauf, näher bei ihrer Familie zu sein. Die fast 70 Kilometer bedeuteten ein zu großes Hindernis, dazu kamen pandemiebedingte Einschränkungen. Aufgrund einer Häufung von Covid19-Fällen wurde Macarenas Verlegung jedoch im letzten Moment abgeblasen.
Anwalt bereitet Mordanklage vor
„Minister Maley trägt die direkte Verantwortung“, betont Anwalt Allende. Die Problematik mit den Gefängnissen habe schon 2013 begonnen. Medienberichten zufolge sind derzeit 1100 Personen in den Arrestzellen der Polizeistationen untergebracht, obwohl die Gesamtkapazität nur für 400 Personen ausreicht. 20% der Haftanstalten, die eine Gesamtkapazität von 1300 Gefangenen haben, sind überfüllt. Das einzige Frauengefängnis „Santa Ester“ hat Platz für 45 Gefangene. „Minister und Justiz müssen sich ihrer Verantwortung stellen. Es kann nicht sein, dass Richter*innen Urteile sprechen, ohne dass der Staat dafür Sorge trägt, dass die Strafe unter den gesetzlich vorgesehenen Bedingungen verbüßt werden kann“, so Allende weiter. „Das grundlegendste Menschenrecht, die Unantastbarkeit der Würde, wird verletzt. Menschen, die diesen Haftbedingungen widersprechen und ihre Rechte einfordern, werden körperlich bestraft, nachts in die Kälte gestellt und geschlagen, und ihr Besuchsrecht wird eingeschränkt. Würden die Angehörigen nichts zu essen mitbringen, würden sie hungern. Hier wird eine Gewaltsituation geschaffen, und die Menschen, unter deren Obhut sie stehen, fördern das Ganze noch.“ Der Anwalt wird Klage wegen vorsätzlicher Tötung gemäß Artikel 80 Absatz 2, Strafgesetzbuchs und wegen Mordes durch Sicherheitskräfte im Amt (Artikel 80 Absatz 9) einreichen.
Internationale Gremien verweisen auf die Verantwortung des argentinischen Staats
Die Interamerikanische Menschenrechtskommission verurteilte den Tod der vier jungen Frauen und forderte den argentinischen Staat auf, die Ereignisse sorgfältig zu untersuchen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, damit sich derartige Vorfälle nicht wiederholen. Die Nutzung von Polizeistationen als ständige Unterbringung für Strafgefangene müsse ein Ende haben. Der Weiterverfolgungsmechanismus zum Übereinkommen von Belém do Pará gegen Gewalt gegen Frauen (MESECVI) forderte den argentinischen Staat auf, unverzüglich eine umfassende Untersuchung durchzuführen. Die Sektion Argentinien des Komitees für die Verteidigung der Frauenrechte in Lateinamerika und der Karibik (CLADEM) präsentierte einen Verfahrensvorschlag, um die Geschlechterperspektive in die gerichtliche Untersuchung des Sachverhalts einzubringen. „Aus unserer Sicht wurden die im Übereinkommen von Belem do Pará festgelegten und von Argentinien ratifizierten Rechte verletzt. Wir protestieren dagegen und fordern Sie auf, einzugreifen“, so CLADEM-Koordinatorin Adriana Guerrero. „Institutionelle Gewalt ist nach nationalem und internationalem Recht eine Form von Gewalt gegen Frauen. Wir fordern, dass die Verantwortlichen für dieses furchtbare Ereignis zur Rechenschaft gezogen werden. Wir fordern außerdem die Garantir, dass sich so etwas nicht wiederholt. Dazu bedarf es einer Untersuchung der Vorfälle unter geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten.“
Dazu CLADEM-Anwältin Alejandra Paolina: „Es gibt eine Reihe von Pflichten und Garantien, die der Staat gegenüber den Menschen zu erfüllen hat, auch gegenüber inhaftierten Frauen, und nach allem, was wir von der Presse und den Angehörigen erfahren haben, war das hier kein unglücklicher Zufall, sondern ist den inakzeptablen Haftbedingungen geschuldet. Das Gericht darf seine Untersuchung nicht auf die unmittelbaren Ursachen des Brandes beschränken, sondern muss die Haftbedingungen der Frauen und das Verhalten der Sicherheitskräfte in Betracht ziehen. Nur so können die wirklichen Ursachen aufgedeckt und die wahren Täter ermittelt werden“. Es sei sehr wichtig, den gewaltsamen Tod der vier in staatlichem Gewahrsam befindlichen Frauen sichtbar zu machen und die internationale Aufmerksamkeit auf die staatliche Verantwortung für institutionelle Gewalt zu richten. „Das ist der Moment, um die von Belém do Pará vorgesehenen Mechanismen in Gang zu setzen“, so Paolina. Das Abkommen, das jede Form von Gewalt gegen Frauen unter Strafe stellt, wurde am 9. Juni 1994 in Belém do Pará, Brasilien, verabschiedet und von fast allen Ländern der OAS unterzeichnet.
Übersetzung: Lui Lüdicke
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