(Port-au-Prince, 8. Juli 2021, la diaria).- In den frühen Morgenstunden des 7. Juli wurde Präsident Jovenel Moïse von Unbekannten erschossen. Seine Frau überlebte den Angriff schwerverletzt. Sie wurde noch am Mittwoch nach Miami ausgeflogen und in ein Krankenhaus gebracht. Laut Zeugenaussagen drang eine Gruppe von Personen gegen 1 Uhr nachts schwer bewaffnet in das Haus des Präsidenten am Rande von Port-au-Prince ein. Die Täter sollen Englisch und Spanisch gesprochen haben.
Angreifer bezeichneten sich selbst als DEA-Agenten
Seither befindet sich das Land im Ausnahmezustand. Die Flughäfen sind geschlossen, die Grenze zur Dominikanischen Republik abgeriegelt. Die näheren Umstände der Tat sind bisher ungeklärt. Inwieweit die Leibwächter, die das Haus bewachen sollten, in die Vorfälle verwickelt sind, ist ebenfalls offen. Wie die Regierung am späten Mittwoch mitteilte, wurden die mutmaßlichen Täter kurz nach dem Angriff von der Polizei gestellt. Anwohner*innen berichteten von einem heftigen Schusswechsel. Dabei sollen vier der mutmaßlichen Auftragsmörder getötet und sechs weitere verhaftet worden sein. Während des Einsatzes wurden drei Polizeibeamte entführt, konnten aber später wieder befreit werden. „In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch verschaffte sich eine Truppe Bewaffneter Zugang zum Haus des Präsidenten, eröffnete das Feuer und tötete das Staatsoberhaupt. Martine Moïse wurde bei dem Angriff verwundet“, erklärte Premierminister Claude Joseph im nationalen Fernsehen. Die Angreifer selbst hätten sich als Agenten der US-amerikanischen Drogenbehörde DEA bezeichnet, aber „die waren nie und nimmer von der DEA“, versicherte in Washington der haitianische Botschafter Bocchit Edmond auf einer Pressekonferenz. Es handle sich eindeutig um einen gut geplanten und von Profis ausgeführten Angriff. Die Täter seien möglicherweise in die benachbarte Dominikanische Republik entkommen. In der derzeitigen Situation werde nun die Hilfe der USA benötigt, so Edmond.
Internationale Bestürzung
Regierungen und internationale Organisationen auf der ganzen Welt verurteilten den Mord an Präsident Moïse. UN-Generalsekretär António Guterres rief die Haitianer*innen dazu auf, angesichts dieser schrecklichen Tat zusammenzustehen, die verfassungsmäßige Ordnung zu respektieren und sich gegen jegliche Form von Gewalt zu positionieren. Der UN-Sicherheitsrat übermittelte der Familie von Moïse, der Regierung und dem haitianischen Volk sein Beileid. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) berief noch am selben Tag eine Dringlichkeitssitzung ein. Der Präsident der Dominikanischen Republik Luis Abinader nannte das Verbrechen einen „Angriff auf die demokratische Ordnung Haitis und der Region“. Auch sein kubanischer Amtskollege Miguel Díaz-Canel verurteilte das Attentat. Angesichts der politischen Krise forderte er das haitianische Volk auf, Ruhe zu bewahren. Wie viele amerikanische Regierungen sprach auch er dem gesamten Land sein Beileid aus. US-Präsident Joe Biden wertete die „abscheuliche Tat“ als äußerst beunruhigendes Zeichen angesichts der aktuellen Krise in Haiti und versicherte, die Vereinigten Staaten seien „bereit, an der Schaffung eines sicheren haitianischen Staats mitzuhelfen“. Der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian rief die politischen Akteur*innen des Landes zu Ruhe und Zurückhaltung auf: Die politische Situation und die Sicherheit des Landes befänden sich derzeit in einem äußerst fragilen Zustand; umso wichtiger sei, dass es, dass das Verbrechen aufgeklärt werde.
Legitimität des Präsidenten angezweifelt
Die politische Krise in Haiti hatte sich weiter verschärft, nachdem Jovenel Moïse im Januar 2020 das Parlament aufgelöst hatte. Seither hatte der 53-jährige ehemalige Bananengroßhändler per Dekret regiert. Die ursprünglich für Oktober 2019 angekündigten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen waren auf den 26. September 2021 verschoben worden. Mehrere Oppositionsführer vertraten den Standpunkt, Moïse sei nur bis zum 7. Februar 2021 rechtmäßiger Präsident Haitis gewesen, da er mit dem Ende der Amtszeit des vorherigen Präsidenten Michel Martelly exakt für fünf Jahre vereidigt worden sei, und hatten seither seinen Rücktritt gefordert. Moïse hingegen behauptete, er könne bis Februar 2022 regieren, weil das Wahlergebnis 2015 annulliert wurde und er sein Amt erst ein Jahr später als geplant habe antreten können. Moïse hatte seine Gegner und einige oppositionelle Richter im Februar beschuldigt, einen Putsch gegen ihn vorzubereiten. Nachdem es im Jahr 2018 nach dem Beschluss zur Streichung der Treibstoffsubventionen zu heftigen Protesten gekommen war, hatten die Unruhen aufgrund der Wirtschaftskrise in diesem Jahr erneut an Intensität zugenommen. Ein weiterer Anlass war ein Korruptionsskandal: Angeblich wurden 3,8 Milliarden Dollar des PetroCaribe-Programms zur Förderung der Ölindustrie veruntreut.
Krise erfasst nahezu alle Bereiche des öffentlichen Lebens
Die haitianische Krise hat nahezu sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens erfasst: Die wirtschaftlichen Auswirkungen der politisch und institutionell angespannten Situation hatten in den vergangenen Jahren immer wieder zu Protesten geführt, das Gesundheitssystem wurde erst von der Cholera und dann von Covid-19 in die Knie gezwungen, und die allgemeine Sicherheitslage befindet sich in einem desolaten Zustand: Heftige Konkurrenzkämpfe rivalisierender bewaffneter Banden in verschiedenen Vierteln der Hauptstadt bedrohen das Leben der Menschen. Entsprechend wird nun auch die Beantwortung der Frage, wer Moïses Nachfolge übernehmen soll, zum Problem: Eigentlich hätte das Amt dem Leiter des Obersten Gerichtshofs René Sylvestre zugestanden, dieser starb jedoch an Covid-19; seine Beerdigung war für den 7. Juli geplant. Prinzipiell hätte die Möglichkeit bestanden, dass einer der Senatoren, deren Mandat noch nicht abgelaufen ist, Moïses Platz einnimmt, so Jean Wilner Morin, Vorsitzender der Nationalen Richtervereinigung von Haiti. Dies treffe immerhin auf ein Drittel der Senatoren zu. Premierminister Joseph, bräuchte dafür laut Verfassung eigentlich die Zustimmung der Abgeordnetenkammer. Diese kann er aber beim besten Willen nicht bekommen, weil das Parlament vor über einem Jahr aufgelöst wurde. Joseph, der nun die Nachfolge Moïses angetreten hat, war im April übergangsweise das Amt des Ministerpräsidenten übertragen worden. Zwei Tage vor seinem Tod hatte Moïse Ariel Henry zum neuen Regierungschef ernannt. Henry sollte sich um die Bildung einer Konsensregierung mit verschiedenen politischen Sektoren kümmern und sowohl die Wahlen als auch ein Verfassungsreferendum organisieren, auf das der Präsident gedrängt hatte.
Claude Joseph verspricht lückenlose Aufklärung
Nach der Ermordung des Präsidenten verhängte die haitianische Regierung eine 15-tägige Staatstrauer. „Dies ist ein harter Schlag für das Land, für die Nation, aber die Tat wird nicht ungesühnt bleiben. Wir werden die Mörder von Jovenel Moïse und die Hintermänner des Verbrechens vor Gericht bringen“, erklärte Joseph gegenüber der haitianischen Tageszeitung Le Nouvelliste. Er verurteilte die „barbarische Tat“ und rief die Bevölkerung dazu auf, Ruhe zu bewahren: Die Sicherheit des Landes sei „unter Kontrolle“.
Präsident Jovenel Moïse ermordet – Polizei erschießt vier Verdächtige von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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