(Montevideo, 09. März 2021, la diaria).- Die Proteste in Paraguay dauern an; einem an sich sehr ruhigen Land, in dem Demonstrationen selten sind. Deshalb seien die vergangenen Tage schon fast ein Rekord, meint Oppositionsführer Leo Rubín vom Bündnis Frente Guasú gegnüber La Diaria. Einige der letzten Demonstrationen fanden vor dem Haus des ehemaligen Präsidenten Horacio Cartes statt, der sich gegen ein Amtsenthebungsverfahren gegen den amtierenden Präsidenten Mario Abdo Benítez ausspricht. Rubín erklärt weiter, dass viele Menschen friedlich auf die Straße gegangen seien: „Ich habe Bekannte, die normalerweise nicht an solchen Mobilisierungen teilnehmen, Menschen, die nicht einmal per Twitter protestieren. Aber dieses Mal sind sie auf die Straße gegangen. Die Leute haben genug, sie sind müde“, so der Oppositionsführer.
Der Unmut zieht sich schon seit seit Beginn der Pandemie vor einem Jahr hin. Seitdem werde das Land von Skandalen über Unregelmäßigkeiten beim Kauf von Medikamenten und Lieferungen für den Gesundheitssektor und einer wachsenden Wirtschaftskrise geprägt. Rubín, der auch Journalist ist, kandidierte 2018 noch für das Amt des Vizepräsidenten; zusammen mit Efraín Alegre führte er ein Bündnis des Frente Guasú und der Liberalen Partei PLRA (Partido Liberal Radical Auténtico) an, das die zweitmeisten Stimmen erhielt.
Prekäre Gesundheitslage
Was schließlich die am 5, März begonnenen, bis heute anhaltenden Proteste ins Rollen brachte, war der Mangel an Medikamenten und Vorräten in den öffentlichen Krankenhäusern, der zu fehlenden Impfstoffen gegen das Coronavirus hinzukam. Bisher hat Paraguay nur 4.000 Dosen erhalten, „ein Witz“ findet Rubin, angesichts einer Bevölkerung von sieben Millionen Einwohner*innen. Inzwischen hat das Land 20.000 weitere Dosen als Spende von Chile entgegen genommen.
Um die Unzufriedenheit der Demonstrant*innen zu besänftigen, die den Rücktritt des Präsidenten Mario Abdo Benítez fordern, ernannte dieser einen neuen Gesundheitsminister, Julio Borba, der Julio Mazzoleni ersetzt. Der Rücktritt des ehemaligen Gesundheitsministers war vom Gesundheitspersonal, insbesondere von Krankenpfleger*innen und von Angehörigen von Covid-Patient*innen gefordert worden. Zu den Protesten dieser Gruppierungen stießen nach und nach auch andere Bevölkerungsgruppen von Asunción.
Ex-Präsident Cartes als Drahtzieher?
In den vergangenen Tagen konzentrierten sich die Demonstrationen auf das Haus des ehemaligen Präsidenten Horacio Cartes, Anführer eines Lagers innerhalb der regierenden Colorado-Partei, das seine Initialen trägt („Honor Colorado“), um zu fordern, dass er Abdo nicht weiter an der Macht unterstützt. Die aktuelle politische Krise „ist eine Wiederholung dessen, was 2019 passiert ist, als Abdo kurz vor einem Amtsenthebungsverfahren stand, das von Horacio Cartes gestoppt wurde“, so Rubín gegenüber La Diaria. „Auch jetzt fordert die Opposition ein Amtsenthebungsverfahren und wahrscheinlich wird es kommende Woche im Parlament verhandelt. Aber es wird nicht genug Stimmen erhalten, um es zu genehmigen: Dafür sind die Stimmen von Cartes‘ Lager notwendig.“ Abgeordnete der PLRA kündigten an, dass sie den Vorstoß in den kommenden Tagen präsentieren werden.
Cartes fordere aktuell lediglich den Kopf einiger Minister, so Rubin; seit 2019 sei Abdo eine „Geisel“ des Ex-Präsidenten und Geschäftsmannes. Seiner Meinung nach versuche Cartes, Abdo bis 2023 so weit wie möglich zu verbrauchen, um sich danach als Retter der Colorado-Partei darzustellen und sodann einen neuen Kandidaten seiner Wahl für die kommende Präsidentschaft vorzustellen. Bereits mehrere politische Akteur*innen bringen Cartes mit den von Abdo angekündigten Wechseln des Kabinetts in Verbindung.
Klientelismus hat System
„In Paraguay hat sich eine klientelistische Praxis der Colorado-Partei etabliert“, so Rubín. Er bekräftigte, dass „es Kandidaten für Kommunalwahlen gibt, die Medikamente verteilen.“ Der Anführer des Frente Guasú erklärt weiter, dass es in den Büros der Colorado-Partei, vor allem in den Vierteln von Asunción, die lokalen Vertreter*innen der Partei seien, die am Ende die Medikamente verteilten und Ärzte holten. „Wir dürfen nicht vergessen, dass Paraguay 70 Jahre lang von der Macht der Colorado-Partei abhing, und dass das gesamte Bildungs- und Gesundheitssystem klientelistisch geführt wird und deshalb unwirksam und ohne eigenes Budget ist.“
Als am Montag, 8. März der neue Gesundheitsminister Julio Borba sein Amt antrat, verkündete er, dass er mit Abdo und anderen Mitgliedern des Kabinetts bereits über Möglichkeiten gesprochen habe, wie man die Lieferungen der Impfstoffe beschleunigen könnte, obwohl er zugleich klarstellte, keine falschen Erwartungen hervorrufen zu wollen. Er werde mit einer konkreten Ankündigung abwarten, bis er das genaue Datum der Lieferungen erfahren habe. Er versicherte zudem, dass seine Priorität darin liege, die Medikamente „rechtzeitig und angemessen“ an die Krankenhäuser zu verteilen, und kündigte an, die Kontrollen ihrer Vermarktung zu verstärken, damit es keine Spekulationen mit ihnen gebe.
Weitere Wechsel im Kabinett
Neben Borba wurden weitere Kabinettswechsel angekündigt: Kabinettschef Juan Ernesto Villamayor wird durch Hernán Huttemann ersetzt, der bislang als Berater des Präsidenten tätig war, und die stellvertretende Wirtschaftsministerin Carmen Marín wird Hugo Cáceres‘ Platz als Leiter der Präsidialverwaltung übernehmen. Laut eigener Aussage wird sie an gesundheitsbezogenen Themen arbeiten.
Für Rubín liegt die Ursache der Krise an der schlechten Regierungsführung, die seiner Ansicht nach nicht genug unternommen hat, um die Impfstoffe zu beschaffen, und sogar einen großen Teil der 514 Millionen US-Dollar nicht ausgegeben habe, die das Parlament letztes Jahr genehmigt hatte, um auf die Gesundheitssituation zu reagieren.
All dies sorgte für Unruhe, die noch durch die Erhöhung der Fahrpreise für öffentliche Verkehrsmittel und ein „Desaster“ im Bildungswesen verstärkt wurde. Im Jahr 2020 fand fast kein Unterricht statt, und auch dieses Jahr wurden die notwendigen Bedingungen für den Präsenzunterricht nicht geschaffen, obwohl man vorausplanen hätte können. „Die Lehrer*innen gaben Unterricht per WhatsApp, mit Internetverbindungen, die ständig unterbrochen wurden“, so Rubín.
Zunächst erfolgreiche Pandemiebewältigung
Ein weiteres umstrittenes Thema war das harte Vorgehen gegen die friedliche Demonstration von Freitag, 5. März, auf die die Polizei mit Gummigeschossen und Wasserwerfern reagierte. Dies sei laut Rubín den Tropfen gewesen, der das Glas zum Überlaufen gebracht habe. Zuvor habe es anfänglich ein gutes Management der Pandemie gegeben, mit der rechtzeitigen Schließung von Geschäften und einer abgeflachten Infektionskurve mit sehr wenigen Fällen, wie in Uruguay.
Doch im Juni wurden die ersten Korruptionsskandale im Zusammenhang mit dem Kauf von Masken und anderen Gütern von Pharmazieunternehmen bekannt, auch die Zahl der Fälle stieg. „Im Dezember nahm die Zahl der Fälle zu, und im Januar noch mehr, da mehr als 5.000 Paraguayer*innen nach Brasilien gereist sind“, fügte Rubín hinzu. Er erinnert daran, dass während der Regierung von Fernando Lugo, der 2008 durch ein Bündnis der Frente Guasú mit der PLRA Präsident wurde, ein kostenloses Gesundheitssystem für die gesamte Bevölkerung eingeführt wurde, aber diese Verbesserungen wurden nach dem Ende seiner Präsidentschaft 2012 wieder rückgängig gemacht. „Ein solches Gesundheitssystem und eine dezentralisierte Gesundheitsversorgung wäre sehr gut gewesen, um jetzt den Impfstoff besser verteilen zu können, damit die Menschen nicht bis in die größeren Krankenhäuser gehen müssen.“
Dialog in Aussicht
Was die kommenden Tage angeht, meint Rubín, dass es in einem „ruhigen“ Land wie Paraguay, in dem solche Proteste im Gegensatz zu Chile nicht sehr häufig vorkämen, möglich sei, dass diese Proteste bald versiegen könnten. Obwohl die Demonstrant*innen gefordert haben, dass „alle gehen sollen“, gibt es auch Aufrufe von Seiten der Katholischen Kirche und einiger Gewerkschaften, einen Dialog zu finden.
Trotzdem hätten diese Proteste breite Bevölkerungsschichten vereint, betonte Rubín. Auch wenn einige Vertreter*innen der Regierung sie mit linken Parteien in Verbindung gebracht hätten, mit Lugo oder Efraín Alegre, und einige sogar mit der venezolanischen Regierung, „sind es wirklich massive soziale Mobilisierungen“, die nicht einem einzigen politischen Sektor entsprächen, sondern eine Unzufriedenheit ausdrückten, das in der gesamten Bevölkerung verbreitet sei.
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