„Ich schreibe, um mich zu erinnern, wer ich bin“

(Mexiko-Stadt, 5. September 2022, desinformémonos).- Die argentinische Mapuche-Dichterin Liliana Ancalao Meli wurde 1961 in Comodoro Rivadavia geboren und durchlitt dasselbe Schicksal wie viele Indigene in Argentinien: Diskriminierung und Verneinung ihrer Identität. Erst in den 1980er Jahren begann ihr Prozess der kulturellen Wiederaneignung und der Zugehörigkeit zu den Mapuche. Liliana Ancalao Meli schrieb sechs Gedichtsammlungen (auf Spanisch und Mapuzungun), welche die individuellen Erlebnisse und das gemeinschaftliche Schaffen vereinen.

„Mari-mari“, erklingt die warme Begrüßung auf Mapuzungun am anderen Ende des Telefons. Die Wärme und die Nähe werden während des ganzen Gespräches beibehalten. „Heute ist ein ruhiger Tag“, sagt Liliana. „Sobald wir aufgelegt haben, werde ich zur dritten Impfdosis gehen.“ Sie spricht sachte und lacht zwischendurch.

Liliana Ancalao Meli wurde 1961 in Diadema, einem Erdölgebiet in der Hafenstadt Comodora Rivadavia (Provinz Chubut), geboren. Ihre Wurzeln gehen auf die Gebiete Puel Mapu (Mapuche-Gebiet im Osten der Gebirgskette der Anden) und Wall Mapu (das ganze Gebiet auf beiden Seiten) zurück. Zu einer Zeit, als ihre Urgroßeltern die Gebirgskette ohne die auferlegten Grenzen zwischen Argentinien und Chile überqueren konnten. Ihre Familie gehört der Mapuche-Tehuelche-Gemeinde Ñamkulawen an. Sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter wuchsen auf dem Land auf und emigrierten so wie viele andere ihrer Gemeinde in die Stadt, um Arbeit zu suchen.

Liliana studierte an der Universidad Nacional de la Patagonia Geisteswissenschaften und arbeitete dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin sowie als Dozentin an einer öffentlichen Schule bis zu ihrem Ruhestand 2017. Dennoch nimmt sie immer noch aktiv an der Sichtbarmachung der Kultur der Mapuche teil. Sie ist Autorin von sechs Gedichtbänden, die meisten davon sind zweisprachig erschienen. Sie schreibt auf Spanisch für die Öffentlichkeit und übersetzt diese in ihre Muttersprache Mapuzungun (auch Mapudungun genannt, Anm. d. Red.), die sie immer noch lernt. „Ich schreibe, um mich zu erinnern, wer ich bin. Denn ich wurde geboren, ohne zu wissen, wer ich bin.“ So beginnt Rokiñ. Provisiones para el viaje, ihr 2020 zuletzt veröffentlichtes Buch. In diesem Buch gestaltet sie eine Kartographie der Mapuche Patagoniens auf argentinischer Seite der Gebirgskette und positioniert die Namen der Topografie sowie die Orte der Erinnerungen neu.

Rokiñ stammt aus dem Mapuzungun und steht für Wegzehrung, die liebende Menschen einer Person auf Reisen mitgeben. Sozusagen Proviant für die Reise durch Lilianas Poesie. Gedicht um Gedicht weist sie dir dabei den Weg hin zu ihren, Lilianas Wurzeln.

Wann haben sie begonnen, Poesie zu verfassen?

Die Grundschule war sehr wichtig für mich. Wir mussten Aufsätze verfassen und mir wurde bewusst, wie leicht es mir fiel. Außerdem habe ich immer ziemlich viel gelesen. Es gab eine Bibliothek in meinem Viertel, in der ich mir Bücher aussuchte, vor allem Abenteuerbücher. Mir gefielen besonders die Klassiker: Mujercitas (Little Women), Robinson Crusoe…auch wenn sie nicht sehr viel mit meinem Leben zu tun hatten, liebte ich diese Geschichten. Als Jugendliche begann ich, Musik zu hören und mehr auf den Inhalt zu achten. Ein Plattenspieler, der meinem Vater gehörte, brachte die Schönheit der Musik zu mir nach Hause. Jedes Wochenende hörten wir Musik. Und danach, als ich schon etwas älter war, lief rund um die Uhr Musik, denn mein Bruder brachte argentinischen Rock zu uns ins Haus. Zunächst die Klassiker Léon Gieco, Spinetta, Nebbia … später ließen lateinamerikanische Lieder den Plattenspieler vibrieren, die von der Gesellschaft und vom Kampf der Bevölkerung handelten, vom Willen, diese ungleiche Welt zu ändern. Los Jaivas, Los Olimareños und später natürlich Silvio Rodríguez.

Wir wohnten weiter vom Stadtzentrum entfernt, in einer ehemaligen Siedlung von Ölarbeiter*innen. Hier war der Klassenunterschied gravierend. Ich gehörte zum Arbeiterviertel und meine Schule war im Zentrum, also in dem Viertel, in dem die Geschäftsleute der Erdölfirmen, die Arbeitgeber und ihre Familien ansässig waren. Meine Mutter war Hausangestellte einer dieser Familien und mein Vater Arbeiter in der Firma. Beide Zonen wurden durch Eisenbahnschienen voneinander getrennt, aber auch die gesellschaftlichen Strukturen und Denkweisen waren von dieser physischen Trennung betroffen. Ich habe diesen Unterschied gemerkt, ja gelebt. Die Lehrerinnen ließen uns die Unterschiede ebenfalls spüren. Die Schülerinnen aus dem Zentrum wurden beim Vornamen genannt und wir aus dem Arbeiterviertel beim Nachnamen. Dies erzeugte eine Distanz, welche als Kind schwer zu begreifen war. All das hat glaube ich meine Poesie beeinflusst und macht sie aus.

Wie ist die Notwendigkeit entstanden, den Prozess des Poesie-Schreibens mit ihrer Herkunftsgeschichte und der Entscheidung, diese entgegengesetzt zu durchleben zu verbinden?

Ich verbinde damit immer einen ganz besonderen Moment, als ich mit meiner Schwester im Zentrum von Comodoro Rivadavia einen Dokumentarfilm inmitten der aufblühen Demokratie in den 80er Jahren schauen gegangen bin. Ich glaube die Doku hieß Camaruco en Anecón Grande. Diese Doku zeigte mir Bilder aus meiner Erinnerung, aber aus einer mir erzählten Erinnerung. Denn die Bilder waren die der Kindheit meiner Mutter und meiner Großmutter über das Camaruco, die wichtigste spirituelle Zeremonie der Mapuche.

Als ich diese Doku sah wurde mir bewusst, dass diese Menschen, von dem die beiden immer sprachen, Mapuche waren. Dass ich eine Mapuche war. In diesem Moment wurde die Neugier geweckt, meine Identität zu erforschen und kennenzulernen und wurde ein Jahrzehnt später, 1992, noch verstärkt, als 500 Jahre seit dem offiziell so bezeichneten „Treffen der Kulturen“ vergangen waren.

Im Jahr 1994 gründeten wir in Comodoro Rivadavia eine Gemeinschaft aus Mapuche und Mapuche-Tehuelche, die ebenfalls so wie meine Eltern in diese Stadt gekommen waren, um Arbeit zu suchen, eine bessere Zukunft als auf dem Land. In jedem Fall eine materielle Zukunft. Zu dieser Zeit hatte ich bereits angefangen, Poesie zu verfassen mit dem Ziel, Teil der künstlerischen Bewegung zu sein. Ich habe auf den „Underground-Bühnen“ Poesie gelesen (lacht), denn andere Räume waren uns versperrt. In jenem Moment fühlte ich mich mehr mit den jungen Rockmusikern als mit der traditionellen argentinischen Folklore verbunden.

Ist ihre Poesie also von der Kultur im urbanen Raum beeinflusst?

Ohne jeden Zweifel. Ich weiß, dass es bestimmte Stereotypen bezüglich indigener Völker gibt. Ich möchte Teil davon sein und mich dem nicht entziehen. Aber wie kann eine Dichterin etwas ausdrücken, was sie nicht fühlt? Sie kann nichts anderes tun, als sich selbst zu gehorchen. Deshalb frage ich mich, was die Leute wohl erwarten, wenn sie einen Gedichtband einer Mapuche-Künstlerin aufschlagen und lesen. Ich bin wie ein Hybrid, der vom Land in die Stadt kommt und von dort aus in die ganze Welt hinaus tritt. Vielleicht wäre es sinnvoll, nur aus einer einzigen Sicht heraus zu schreiben, nur vom Land zu schreiben und von der Kosmovision zu sprechen, aber das ist für mich unmöglich. Ich habe ein umfangreiches kulturelles Wissen, dass ich in so vielen Jahren des Suchens geerntet habe und nach und nach in meiner Poesie aufbewahre. Poesie kann kann man nicht beschleunigen. Daher musste ich aufhören, diese spirituelle Welt in meine Poesie einzuschließen.

Was kann die Poesie auf dieser Suche beitragen, was die Geschichte nicht kann?

Sehr viel. Die Poesie und die Kunst im Allgemeinen verkehren auf eine andere Weise, um zum Lesenden oder Zuschauenden zu gelangen, da sie auf eine andere Art und Weise Wissen beitragen. Die Poesie ist eine Synthese. Sie komprimiert die ganze Geschichte in einem einzigen Werk, das nicht nur Geschehenes wie Tatsachen und Fakten mit einschließt, sondern auch Gefühle, Emotionen und Menschlichkeit. Daher glaube ich, dass wir uns leer fühlen, wenn wir ein Gedicht schreiben. Denn wir erschaffen ein Werk, das zwar als intellektuell bezeichnet werden kann, aber mindestens genauso spirituell ist. Wenn durch Poesie erreicht werden kann, dass die Lesenden berührt und ihnen neue Wege eröffnet werden, dann weil es andere Wege gibt, die uns mit dem verbinden, was über die reine Theorie hinaus passiert.

Sie schreiben auf Spanisch und übersetzen dies in ihre Muttersprache Mapuzungun, was Sie immer noch lernen.

Ja. Ich glaube ich werde eine ewige Mapuzungun-Lernende sein (lacht). Ich werde nie genug davon bekommen. (lacht erneut) Mit sehr wenigen Elementen, die meisten davon schriftlich, da ich hier in Comodoro Rivadavia nicht allzu viele Menschen kenne, die Mapuzungun beherrschen. Die letzten zwei Jahre während der Pandemie habe ich einen Onlinesprachkurs an einem Mapuche-Sprachinstitut belegt. Dort hatte ich Zugriff auf Material von Mapuche, die sich seit Jahren mit der Sprache beschäftigen. Ich bin dabei, mein Mapuzungun zu perfektionieren. In meinem ersten Buch Mujeres a la Intemperie (2009) würde ich nun ein paar Sätzen ändern, da ich die Übersetzung nun wohl präziser ausdrücken könnte. Ich stehe inzwischen meiner eigenen Übersetzung kritischer gegenüber.

Wird ein Gedicht nicht praktisch neu geschrieben, wenn man es in eine so andere Sprache übersetzt?

Ja. Es ist eine Herausforderung, genauso wie das Gedicht laut vorzutragen. Die Aussprache des Mapuzungun verlangt viel ab – vor allem mir, da ich die Sprache hauptsächlich als Schriftsprache kennengelernt habe. Lange Zeit wurde die Sprache in der Schule nicht gelehrt und das versuchen wir jetzt wiederzubeleben. Das Mapuzungun soll als zweite Sprache gelehrt werden.

Die Figur der Frau (die Mutter, die Großmutter, die Tante …) ist Mittelpunkt ihrer Poesie. Warum?

Die Figur der Großmutter dient als Übermittlerin der Kultur. Das wird ihnen in jeglicher indigener Literatur begegnen. Ich kenne keine Dichterin, die auf der Suche nach dem Wissen nicht Bezug zu ihrer Großmutter nimmt. Auch in meiner Poesie taucht die Rolle der Frau als Hüterin der Spiritualität und des Wissens über unser Volk auf. Das spiegelt sich in der Schönheit, in der Perfektion und der Vielfalt der Farben ihrer Kunsthandwerke wider. Der ganze Prozess des Handwerks wird durchlaufen, bis zur Fertigstellung einer Decke oder eines Ponchos. Diese Rolle manifestiert sich außerdem in der Zubereitung des Essens, der Medizin und in der spirituellen Hingabe bei religiösen Zeremonien. In meinem Buch Mujeres a la Intemperie erwähne ich mehr als 50 Frauen, die mich auf meinem Weg zurück zu meinen Wurzeln begleitet haben. Frauen, die mir Wissen weitergeben haben. Vielleicht ist es Zufall, aber als wir unsere Mapuche-Gemeinde in den 90ern gegründet haben, waren wir ausschließlich Frauen. Es kann daran liegen, dass sich die meisten männlichen Mapuche in der Stadt den „Gauchos“ (berittene Viehhüter, Anm.d.Red.) anschlossen. Das heißt, sie verbargen ihre Mapuche- oder Tehuelche-Wurzeln und übernahmen die Rolle des „Gauchos“, des Mannes vom Land. Der Prozess, die maskuline Mapuche-Identität den „Gauchos“ unterzuordnen, ist historisch gesehen ein Schleier der verbirgt, was dahinter steckt.

In ihrem letzten Buch Rokiñ. Provisiones para el viaje werden die schrecklichen historischen Ereignisse erzählt, die die Mapuche durchleben mussten, wie den „Wüstenfeldzug“. Ist es eine Form der Heilung, den ganzen Schmerz durch Poesie in Schönheit zu verwandeln?

Die Wörter Gesundheit und Heilung wirst du ziemlich oft hören, wenn ich von Poesie spreche. Denn das ist was ich fühle, wenn ich etwas fertig geschrieben habe, was mich viel Energie gekostet hat. Ich fühle, dass ich gesund werde. Danach ergreift mich wieder die Wut, wenn ich die Ignoranz gegenüber den Mapuche höre, vor allem in den Medien, in denen wir als Terrorist*innen, Wilde und nicht zu Argentinien zugehörig beschrieben werden. Und ich merke, dass sie Angst davor haben, dass der ‚Indio‘ ihren Privatbesitz angreift.

Heutzutage widmen sich die Mapuche eher ihren politischen Rechten bezüglich der Rückgewinnung ihrer ehemaligen Gebiete, als der Wiedererlangung ihrer Kultur. Warum?

Das ist, was wichtig und dringlich ist. Wichtig ist die Wiederbelebung der kulturellen Aspekte, und dringlich ist die Forderung nach Land zum Leben, denn das ist für die Mapuche auch Teil ihrer Kultur. Dazu kommt das Recht auf Entschädigung für den Missbrauch, den unser Volk all die Zeit erleiden musste. Der argentinische Staat sprach den Mapuche-Gemeinden einige Ländereien zu, die ihnen jedoch von den Großgrundbesitzer*innen und Händler*innen entrissen wurden. Diese wiederzugewinnen ist sehr dringlich, und das muss auf einem politischen Weg erfolgen. Aber gleichzeitig wird diese Wiedergewinnung spirituell innerhalb der Organisationen und Gemeinden gestärkt. Ich habe an Treffen in Neuquén, am Río Negro in Chubut teilgenommen. Die meisten, die an diesem politischen Prozess partizipieren sind neben ein paar Frauen hauptsächlich Männer. Uns Frauen war es eher wichtig, uns etwa um die spirituellen Zeremonien im Morgengrauen vor der Versammlung zu kümmern. Besser gesagt, um die Wiedererlangung der spirituellen Kraft, die uns auf dem Weg des politischen Kampfes helfen soll.

Was bedeutet es heute Mapuche in Argentinien zu sein?

Es bedeutet in einer historischen Erinnerung, an einem historischen Ort festzustecken mit dem Bewusstsein, Teil eines Landes zu sein, das noch nicht bereit ist anzuerkennen, auf einem Genozid gegründet worden zu sein. Sich dieser Tatsache bewusst zu sein bedeutet aber keine Resignation. Sowohl diejenigen, die für die Wiedererlangung ihres Land kämpfen, als auch wir Schriftsteller*innen, die Künstler*innen, die Historiker*innen und Akademiker*innen – wir alle schaffen Wissen über das Land, an dem wir der Ausgangspunkt waren; von etwas, was wir nach und nach ändern müssen. So, wie wir Frauen die patriarchale Erziehung dekonstruieren, ist es meiner Meinung nach eine Dekonstruktion des argentinischen und chilenischen Volkes nötig, damit sie beginnen, ihre Wurzeln zu erkennen und anerkennen, auf wessen Blut die heutigen Staaten entstanden sind. Und von da aus anzuerkennen, dass eine Wiedergutmachung von Nöten ist.

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„Wie ein gewaltiger Wind / Sie sagten es sei der Malón / ein Wirbelwind gegen all die Tage / da die alten Tage hart waren / wie Steine / unerschütterlich / dort haftete ihr Blut / verstreut / hattest du mir erzählt, Großmutter / und deine Erinnerung ist der See / in dem ich erscheine / um aus ihm zu trinken“.

Indem Liliana Ancalao Meli die Geschichte ihres Volkes wiedergibt, weint und wütet sie und füllt sie mit Wahrheit – aber auch mit Zärtlichkeit, derselben Zärtlichkeit, die sie laut ihr selbst von ihrer Mutter und ihrem Vater, ihren Großeltern und andern Familienmitgliedern mitbekommen hat schriftlich fest.

Stolz erzählt sie, dass im Mapuzungun neben dem Singular und dem Plural ein duales Pronomen genutzt wird: iñchiu, also „wir beide“, eymu mit der Bedeutung „ihr beide“ und fey engü was „die beiden“ bedeutet. „Das Paar ist das Gleichgewicht in unserer Weltanschauung“, sagt Liliana.

Sie verabschiedet sich mit der gleichen Herzlichkeit, mit der wir vor fast zwei Stunden das Gespräch begonnen haben. Ich sage ihr, dass ich Lust habe, sie einmal etwas live vortragen zu hören, „Sicher können wir uns bald hier oder da wieder sehen“, antwortet sie mir. Ich bedanke mich.

Zuerst veröffentlicht bei CTXT

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