Vorzeitige Haftentlassung. Ein Programm mit Mängeln

(Mexiko-Stadt, 19. August 2022, cimacnoticias).- Im Jahr 2019 startete die mexikanische Regierung in Mexiko-Stadt das Programm zur vorzeitigen Haftentlassung von Frauen in prekären Situationen. Vorrangige Zielgruppe des Programms sind indigene Frauen und Frauen mit körperlichen Einschränkungen, die aufgrund kleinerer Delikte verhältnismäßig kurze Haftstrafen zu verbüßen haben. Nach Angaben des Nationalen Instituts für Statistik und Geografie (Inegi) leben in den mexikanischen Gefängnissen 9.474 Menschen mit Behinderungen und 7.055 aus indigenen Gemeinschaften. Seit 2019 wurden im Rahmen des Programms 53 Frauen entlassen, darunter indigene Frauen, Frauen mit chronischen oder unheilbaren Krankheiten und mit körperlichen Behinderungen, die allesamt eine geringere Strafe zu verbüßen hatten. Ziemlich schnell wurde jedoch klar, dass eine alleinige vorzeitige Entlassung zu kurz gedacht ist: Eigentlich bräuchte es Unterstützung für eine angemessene Wiedereingliederung, damit die Frauen nach ihrer Entlassung nicht wieder der gleichen Gewalt und den gleichen Gefahren ausgesetzt sind, die ihnen vor ihrer Verhaftung das Leben schwer gemacht hatten. Der Fall Dulce Pilar Hernández García stellt den Sinn und Zweck der Initiative der Hauptstadtregierung grundlegend in Frage. Hernández García war im Juni dieses Jahres aus dem Gefängnis Santa Martha Acatitla entlassen worden und verschwand am 1. Juli spurlos. Auf einer Pressekonferenz nach ihrem Verschwinden erklärten Renata Villarreal, Sprecherin und Gründerin des Kollektivs Marea Verde Mexico, und Citlalli Fernández, Gründerin des Kollektivs Ave Fénix, das inhaftierte Frauen begleitet, die Einführung des Programms sei ein guter und wichtiger Schritt, allerdings weise die Umsetzung gravierende Mängel auf.

Ein Programm für Frauen ohne Gender-Perspektive

Einer dieser Mängel sei, dass die Frauen, wie im Fall von Hernández García, nicht rechtzeitig über ihre Freilassung informiert würden. Dadurch hätten sie keine Möglichkeit, sich auf ihre Entlassung vorzubereiten und ihre Familien oder Unterstützer*innen mit ausreichender Vorlaufzeit zu informieren, wobei viele Frauen jedoch über gar kein Unterstützungsnetz verfügen, keine Familie, die auf sie wartet, und kein Zuhause, in das sie nach dem Gefängnis zurückkehren können: Nach Angaben der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) werden 60 Prozent der weiblichen Gefangenen von ihren Angehörigen verlassen. Renata Villarreal nannte außerdem die gewalttätigen Verhältnissen, aus der viele der inhaftierten Frauen stammen, als weiteren entscheidenden Faktor. Hernández García zum Beispiel litt zu Hause unter körperlicher und sexueller Gewalt, was sie dazu zwang, die meiste Zeit auf der Straße zu verbringen. Es sei unabdingbar, die Frage zu stellen, welche Situatio  die Frauen nach ihrer Entlassung vorfinden und ob sie sich entscheiden, in gewalttätige Verhältnisse zurückzukehren. Hinzu kommen die (teils sogar von der eigenen Familie ausgehende) Sigmatisierung ehemaliger Gefängnisinsassen und das tendenziell niedrige Bildungsniveau, die die Chancen auf einen Arbeitsplatz nach der Entlassung aus dem Gefängnis gegen null gehen lassen. Die Volkszählung des Strafvollzugssystems des Bundes und der Länder 2022 ergab, dass von 12.420 weiblichen Gefangenen in Mexiko 39,6 Prozent einen Schulabschluss bis zur Sekundarstufe haben. 24,6 Prozent haben die Grundschule abgeschlossen, 6,7 Prozent haben eine Hochschule besucht, und 3,8 Prozent können überhaupt keinen Schulbesuch nachweisen. Nach Angaben des Instituts für soziale Wiedereingliederung in Mexiko-Stadt müssen viele Haftentlassene auf informelle Tätigkeiten zurückgreifen, da sie nur schwer Zugang zu einer stabileren Beschäftigung finden.

Die Freilassung muss von Wiedereingliederungsprogrammen begleitet werden

Im Prinzip existieren seit 2018 definitive Entlassungsprotokolle für Frauen und Männer im mexikanischen Gefängnissystem und Pläne zur sozialen Wiedereingliederung von Personen, die aus Gefängnissen entlassen werden. Eine Studie der Organisation Equis Justicia über die gesellschaftliche Wiedereingliederung von Frauen nach der Haft dokumentiert jedoch die Schwierigkeiten, auf die die Frauen nach ihrer Freilassung stoßen und verdeutlicht den Mangel an institutioneller Unterstützung bei der Wohnungs- und Arbeitssuche und beim Zugang zu Bildungsmöglichkeiten. Nach ihrer vorzeitige Entlassung sind sich die Frauen weitestgehend selbst überlassen. Die Untersuchung zeigt jedoch auch, dass diese Leitlinien den Bedürfnissen der aus dem Gefängnis entlassenen Personen und dem Grad ihrer Gefährdung nicht gerecht werden. Eine Reflexion der Geschlechterverhältnisse und Überlegungen dazu, was es bedeutet, eine Frau zu sein, die aus dem Gefängnis kommt, fehlen völlig.

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