Brasilianische Gefängnisse: Soziale Kontrolle durch Medikamente

(Sao Paulo, 26. Juni 2018, Brasil de Fato).- „Ich hatte mich geschnitten und hatte zwei Monate eine offene Wunde; diese wurde nicht genäht oder mit Medikamenten behandelt. Ein Mal pro Woche gibt es eine ärztliche Sprechstunde bei der jeweils zwei Insassinnen behandelt werden. Als ich an der Reihe war, sagten sie, dass da nichts mehr zu machen sei, ich müsse warten, bis die Wunde von alleine verheilt. Die einzigen Medikamente, die sie uns geben, sind Schlaftabletten und Beruhigungsmittel. Jeden Tag bekommen wir einen Plastikbecher mit Amytril, Neozine und Rivotril.“

Das ist die Schilderung einer Gefangenen, die von der Gefängnisseelsorge auf der Internetseite „Voces Marcadas por la Cárcel“ veröffentlicht wurde. Sie zeigt uns einen Aspekt des brasilianischen Gefängnissystems, über den wenig bekannt ist: Die exzessive und unterschiedslose Gabe von psychoaktiven Medikamenten an Gefangene. Die Abgabe dieser Medikamente ist nicht auf forensische Kliniken beschränkt, wo strafbar gewordene Personen eingewiesen werden, die aufgrund psychischer Erkrankungen unzurechnungsfähig sind.

Doña Claudia erzählt, dass ihr Sohn Rodrigo ohne Medikamente nicht mehr einschlafen könne. Während seines Aufenthalts in einer der Haftanstalten von Lavínia, Bundesstaat São Paulo, habe man ihm Medikamente ohne ärztliche Verordnung oder ein psychiatrisches Gutachten verabreicht. Diese Praxis sei erst unterbrochen worden, als seine Ehefrau dagegen vorgegangen war. „Er bekam starke Schlafmittel und schlief viele Stunden lang, so dass meiner Schwiegertochter bei ihren Besuchen auffiel, dass etwas nicht stimmte“, erzählt Claudia. „Meine Schwiegertochter geht ihn besuchen, für uns ist es sehr weit weg, wir können da nicht hinkommen. Sie geht ein Mal im Monat hin. Bei einem ihrer Besuche hat sie mit ihm darüber gesprochen und ihn gebeten, diese Mittel nicht mehr zu nehmen. Daraufhin hat er damit aufgehört. Nun versucht er, sich tagsüber so gut es geht zu beschäftigen, damit er nachts schlafen kann“, so Claudia weiter. Nicht einmal ihr Sohn habe gewusst, was er da eigentlich einnehme, so die besorgte Mutter. „Wir haben ihm Briefe geschrieben, damit er was zu lesen hat und zurückschreiben muss, um ihn geistig ein bisschen auszupowern.“

Verschreibungspflichtig, aber ohne Rezept

Sara Antunes, Mitglied der Arbeitsgruppe „Geistige Gesundheit und Freiheit“ der Gefängnisseelsorge, sieht einen allgemeinen Anstieg der Hypermedikation in allen sozialen Bereichen, aber in den Haftanstalten handele es sich eindeutig um eine Strategie der sozialen Kontrolle. Die Entwicklung von psychischen Krankheitsbildern sind nach einem Gefängnisaufenthalt, laut Sara, Gang und Gäbe: „Heute haben die Psychopharmaka (zugelassene psychoaktive Substanzen) die Aufgabe die Insass*innen zu beruhigen, mögliche Revolten im Zaum zu halten und die Gefangenen ruhig zu stellen. Das passiert auf informelle Weise. Krankenpflegepersonal und Gefängnismitarbeiter*innen geben die Medikamente ohne ärztliche Verordnung aus, einfach so“, empört sich Sara. Sie verweist aber auch nachdrücklich darauf, dass dieses Vorgehen symptomatisch für die unterdrückerische Dynamik im Strafvollzug sei und daher nicht den einzelnen Mitarbeiter*innen angelastet werden können.

In dem Artikel „Neurochemische Methoden: Tabletten und Injektionen im Gefängnis“ von Fabio Mallart, Doktorand der Soziologie an der Universität von São Paulo USP, geben die Gefangenen an, am häufigsten Antidepressiva und Beruhigungmittel zu erhalten. Mallart analysiert, dass die verbreitete Einnahme von Psychopharmaka in Gefängnissen, wie Diazepam (Valium), Clonazepam (Rivotril), Fluoxetin (Antidepressivum) und Carbamazepin, aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden müsse. „Es liegt an der Funktionsweise der Gefängnisse selbst, die durch Überbelegung, Gewalt, Ungewissheit über den Prozessausgang, fehlende Studien- und Arbeitsmöglichkeiten gekennzeichnet sind. Diese Dynamik führt zu Schlaflosigkeit und Angstzuständen, die mit psychiatrischen Substanzen behandelt werden.“ Es handele sich um eine Art der neurochemischen Verwaltung der Gefangenen: „Einige dieser Medikamente, vor allem Injektionen wie das hochpotente Antipsychotikum Haloperidol, funktionieren wie Instrumente zur Ruhigstellung und Folter“, gibt Mallart an.

Sara weist darauf hin, dass die Situation in Einzelhaft oder in den Zellen, die „seguros“ genannt werden und wo Gefangene eingesperrt werden, die mit anderen Gefangenen Konflikte haben, noch schlimmer sei. „Es ist wichtig, dies als Gewalt zu begreifen. Die Bedingungen sind dermaßen unerträglich, dass die Leute sich lieber 30 Tage lang „zudröhnen“ lassen, um die Zeit durchzustehen. Die Kellerräume sind noch perverser als die gewöhnlichen Zellen, entsprechend höher ist dort der Medikamentenkonsum.“, erklärt sie. Für Sara ist die Hyper-Medikation eher eine Folter innerhalb eines Systems, das durch strukturellen Missbrauch charakterisiert ist.

„Ich habe vorher noch nie etwas eingenommen. Ich habe angefangen, weil ich nicht mehr einschlafen konnte. Durch die Verhaftung wurde ich abhängig von diesem Sch… Diazepam.“ – Caio, Gefangener der Männerstrafanstalt Lucelia

Der Psychater Mauro Aranha, juristischer Koordinator des Medizinischen Regionalrats im Bundesstaat São Paulo CREMESP, bezeichnet die Situation im Gefängnis als „stressig und krankheitsfördernd“ und klagt die fehlende ärztlichen Versorgung der Gefangenen an, die unter unwürdigen und unmenschlichen Bedingungen leben müssten. Dabei ist die medizinische Begleitung grundlegend wichtig für die Gesundheit der Gefangenen: „Wenn jemandem ein Beruhigungsmittel oder ein anderes Medikament verabreicht wurde, muss das in seiner Akte dokumentiert sein. Die Medikamentengabe muss grundsätzlich durch einen Arzt verordnet werden. Meistens wurden die Gefangenen nicht aufgeklärt und gehen dementsprechend unvorsichtig mit den Medikamenten um. Das muss sich unbedingt ändern.“ Aranha stimmt überein, dass man niemandem Medikamente verabreichen darf, wenn es nicht darum geht den gesundheitlichen Zustand zu verbessern: „Man kann nicht einfach Medikamente verabreichen, um die Patienten zu sedieren. Die Medikamente müssen eine therapeutische Zweck erfüllen und dürfen nur auf ärztliche Verordnung und nach eingehender behördlicher Überprüfung verabreicht werden.“

Für die Vereinigung der Familienangehörigen und Freund*innen von Gefangenen AMPARAR (Asociación de Familiares y Amigos de Presos) ist das Ziel des einfachen Zugangs zu den Medikamenten klar und deutlich: „Die Gefangenen müssen nur danach fragen , und dann kriegen sie es. Sie wollen nicht wissen, wie es den Leuten geht, sie wollen sie nur kontrollieren. Ihnen ist es nur recht, wenn die Leute zugedröhnt in der Ecke liegen und vor sich hindämmern“ gibt eine Sprecherin der Organisation an, die aus Angst vor Repressalien nicht namentlich genannt werden möchte.

Diese Praxis werde auch in der Jugendhaftanstalt Fundação Casa angewendet, so die AMPARAR-Aktivist*innen. Sie erzählen, dass es keine psychiatrischen Gutachten gäbe, die die Medikation der Jugendlichen rechtfertigen würde. Auch der Umgang mit Strafgefangenen, die an regelmäßigen Drogenkonsum gewöhnt sind, sei besorgniserregend.

Forensik und Sicherheitsverwahrung

Brasilien ist nach den USA und China das Land mit den meisten Häftlingen weltweit. Nach Angaben der Nationalen Gefängnisstatistik INFOPEN von Ende 2017, saßen im Juni 2016 726.712 Gefangene in brasilianischen Gefängnissen ein. Im Dezember 2014 waren es noch 622.202. Von den insgesamt 1449 Haftanstalten in Brasilien sind 28 für die Sicherungsverwahrung vorgesehen.

Die derzeit einzige veröffentlichte Studie über die Sicherungsverwahrung und psychiatrische Behandlung in forensischen Kliniken wurde 2013 von Débora Diniz, Professorin der Universität von Brasilia UnB (Universidad de Brasilia) und Forscherin bei der NGO Institut für Bioethik, Menschenrechte und Gender ANIS (Instituto de Bioética, Derechos Humanos y Género) veröffentlicht. Auch wenn die Daten aus dem Jahr 2011 stammen, war diese Erhebung die erste, die die Informationslücke über forensische Kliniken, die in Brasilien seit 90 Jahren bestehen, ein wenig geschlossen hat. Laut der Studie waren 3989 Frauen und Männer in forensischen Kliniken untergebracht. Das entspricht 21 Prozent aller Gefangenen in Sicherheitsverwahrung. Davon verbrachten 606 Personen mehr Zeit in den psychiatrischen Einrichtungen als das für ihr Vergehen angesetzte Höchststrafmaß.

„Ich bin in Sicherheitsverwahrung und seit sechs Monaten wurden keine psychiatrischen Untersuchungen durchgeführt. Wenn man hier einen Entlassungsschein bekommt, lassen sie die Person nicht gehen, sie ist weiterhin gefangen.“ – Stimmen aus dem Knast, veröffentlicht von der Revolutionären Kommunistischen Partei PCR

Dieser Studie nach zu urteilen, ist eine von vier Personen zu Unrecht in einer forensische Klinik und bei einem Drittel wurde die Begründung für die Einweisung nicht bestätigt. Bei 47 Prozent der dort Gefangenen (1.866 Personen) gibt es keine rechtlichen oder psychiatrischen Grundlage für eine Einweisung.

Krankmachende Umgebung

Nach Meinung des Koordinators von CREMESP stehe die Frage nach der menschlichen Würde an erster Stelle „sei es in der Untersuchungshaft, den Gefängnissen oder den forensischen Einrichtungen. Solange die Gesellschaft nicht sensibel genug ist, die Würde der Gefangenen ebenso anzuerkennen, wie bei allen anderen Personen auch, wird sich an dieser Situation nichts ändern“sagt der Psychiater Mauro Aranha.

Sara Atunes betont, dass es sich bei der Hyper-Medikation nicht um ein Versehen oder ein Versagen des Gefängnissystems handele, sondern der inhärenten Dynamik des strukturellen Missbrauchs entgegenkomme: „Es ist eine subtile, quasi eine “sanftere” Form der Kontrolle, und sie wird immer häufiger angewendet, weil sie funktioniert. Und das ohne die Grenze zur Illegalität zu überschreiten“, schließt sie

Bis zum Redaktionsschluss hat die Ministerialabteilung Strafvollzug SAP (Secretaría de Administración Penitenciaria) nicht auf unsere Fragen zur sozialen Kontrolle mit Hilfe psychotroper Stoffe in den Strafvollzugsanstalten geantwortet.

 

Zum Schutz der Identität unserer Quellen wurden die Namen geändert.

Die hier veröffentlichten Zitate stammen aus dem Artikel „Neurochemische Methoden im Gefängnis: Tabletten und Injektionen“ von Fabio Mallart.

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