Trauer in Zeiten der Pandemie

(Berlin, 7. März 2023, poonal).- Was passiert eigentlich, wenn eine geliebte Person stirbt, wir uns aber nicht auf die gewohnte Weise von ihr verabschieden können, weil es die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie nicht zulassen? Radio Matraca hat darüber mit zwei Frauen gesprochen: Camila und Carito teilen mit uns ihre Erfahrungen, wie sie den Abschied von einem geliebten Menschen in Pandemiezeiten erlebt haben.

Camila kommt aus Santiago de Chile und lebt in Berlin. Im Juni 2021 starb ihre Großmutter in Chile. Für Camila war das ein Problem, denn gemäß den in Chile geltenden Schutzmaßnahmen hätte die in Berlin lebende Camila nach der Einreise in Quarantäne gehen mussten. Da die Beerdigungen normalerweise nach einer Totenwache von ein oder zwei Tagen stattfinden, hätte sie nicht rechtzeitig zur Beerdigung ihrer Großmutter einreisen können. Sie war mit ihren Gedanken und Gefühlen zu ihrem Tod größtenteils alleine. Sie musste akzeptieren lernen, dass das Leben ihrer Großmutter wirklich zu Ende war und „dass nur noch Erinnerungen und gemeinsame Erfahrungen bleiben“, sagt Camila. „Oder auch zu akzeptieren, dass durch das Leben dieser Person Geschichten entstanden sind, und eine dieser Geschichten ist zum Beispiel mein Leben.“

Für Camila war der Tod also nicht einfach nur ein Ende, sondern eher ein neuer Abschnitt, den Tod zu akzeptieren. Das gelang ihr aber nicht sofort: “Für mich war es zunächst mal ein Schock, so wie wenn die Zeit stehen bleibt. Viele Wochen lang stand die Zeit still. Alles ist irgendwie irreal. Du spürst es nur, weil du es weißt, nicht weil du es siehst oder erlebst. Aber es war ein Prozess mit einem Davor und einem Danach in der Trauerphase, und das hat mir sehr gut getan.“

„Die Zeit stand still“

Carito lebt mit ihrem Freund Eduardo in der peruanischen Hauptstadt Lima. Zu Beginn der Pandemie starb ihr Freund und Mitbewohner Rente. Sie erinnert sich: „Nur eine Woche vor der Pandemie waren wir mit ihm am Strand. An einem Samstag. Und am nächsten Tag hieß es, ab Montag dürfe niemand mehr das Haus verlassen. Er sagte: ‚Leute, ich habe mich infiziert, also werde ich meine Quarantäne hier im Haus von Chris verbringen.‘ Er sagte, dass er sich nicht gut fühle, dass er Fieber habe. Wir glaubten nicht, dass es Covid sein könnte, denn niemand aus unserem Umfeld hatte Covid. Nach ein paar Tagen meldete sich Chris und schrieb, dass Rente ins Krankenhaus musste, weil sein Fieber nicht zurückging. Und am Samstagmorgen hat mich Eduardo geweckt. Er weinte und konnte kaum sprechen. Er sagte, Rente sei tot. Ich konnte es nicht glauben.“

Für Carito aus Peru war der Tod ihres Freundes Rente auch deshalb so hart, weil die sonst üblichen Traditionen und Prozeduren rund um den Tod auch dort wegen der Pandemie nicht möglich waren. Es gab keine Totenwache, sondern nur eine online-Messe. Nachdem Rente am 4. April 2020 plötzlich gestorben war, versuchte Carito, damit zurecht zu kommen: „Du musst verstehen lernen, dass die Person, mit der du drei Jahre lang zusammen gelebt hast, nicht mehr da ist“, berichtet sie. „Zum Glück war ich nicht alleine, sondern mit Eduardo. Wir gingen in sein Zimmer, zündeten Kerzen an und sprachen. Danach bin ich jeden Tag in sein Zimmer gegangen und habe dort sauber gemacht. Sein Zimmer sollte ordentlich sein, er sollte nicht in Vergessenheit geraten. Seine Familie durfte seine Sachen erst im August abholen. Ich habe seine Sachen sauber gemacht und dachte immer: Wie schön sind diese Sachen, wie schön ist dieses Bild! Es war, wie wenn ich ihn neu kennengelernt hätte.“

Die Trauer löst sich auf

Für Carito war es allerdings nicht die erste Erfahrung mit dem Tod. Sie hatte zuvor bereits ihren Großvater verloren. Diese Erfahrung sei „kathartisch” gewesen: „Nachdem zum Beispiel mein Opa gestorben war, war es fast wie ein Fest. Die Erinnerung an den Moment seines Todes war schrecklich, aber später hatte dieser Moment etwas inspirierendes, fast Feierliches. Wie wenn sich die Trauer irgendwie auflöst.”

Durch die Pandemie bekam der Umgang mit dem Tod allerdings eine neue Komponente: „Diese ganze Pandemiesituation hat dazu geführt, dass viele Leute alles verloren haben“, erinnert sich die Peruanerin Carito. „Sie haben ihre Familie verloren oder ihr Haus. Denn zumindest in Peru sind die Krankenhauskosten unglaublich hoch. Und alle mussten da alleine durch. Denn jeder hat für seine Familie gekämpft, denn das durfte dir nicht passieren, du durftest nicht krank werden. Ich glaube, für viele war das eine Feuerprobe.“

Der Tod wird nicht ausreichend gewürdigt

Und die Chilenin Camila glaubt, dass der Tod wird nicht ausreichend gewürdigt wird: „Es gibt keinen Platz für den Tod; denn nach dem Tod nützen wir nichts. Wenn du stirbst, produzierst du nichts mehr, du bist nicht mehr Teil der Gesellschaft. Und damit meine ich nicht nur den physischen Tod. Ich glaube, in dieser Gesellschaft wird jede Form, die nicht in die Produktionsstandards passt, beiseite gedrängt. Man sieht ja die Alten, wie sie sich sozial isolieren. Und sterben werden wir alle. Und obwohl wir das wissen, kümmern wir uns nicht um das Älterwerden oder um die Kranken“, sagt Camila und ergänzt: „Wir alle verdienen es, so zu leben, dass wir mit Liebe und Freude leben können.“

Doch in der Gesellschaft des Kapitalismus, des Konsums und der verschärften Produktionsbedingungen, in der wir leben, erhalten der Tod und der Umgang damit nicht die Aufmerksamkeit und die Würdigung, die sie verdienen. Die Pandemie hat gezeigt, dass diese Entfremdung und Entmenschlichung noch schlimmer werden kann, mit sehr schmerzhaften Auswirkungen auf diejenigen, die das durchleben mussten: „Wir haben verschiedene Etappen im Leben“, reflektiert Camila, „und eine ist der Umgang mit dem Tod. Und der Tod ist etwas, den wir in unserer Gesellschaft viel zu sehr ignorieren. Und die Pandemie hat nur gezeigt, wie hart es sein kann, wenn man jemanden loslassen muss, aber es nicht geht, weil man das nicht darf.“

Dieser Beitrag ist denen gewidmet, die nicht mehr bei uns sind und die wir in unseren Herzen tragen.

Übersetzung und Bearbeitung: Darius Ossami

Zu diesem Artikel gibt es einen Podcast auf Deutsch und Spanisch.

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