„Nichts ist unmöglich. Alles kommt darauf an, wie man sich organisiert. Die Rechte der Kinder, die Rechte aller müssen verteidigt werden. Schüler*innen, sowie Student*innen sollten sich zusammentun, nicht unterkriegen lassen und sich immer daran erinnern.“ Das sagt Santiago, mein heutiger Interviewpartner.
Mein Name ist Larissa, ich bin 19 Jahre alt und befinde mich momentan mitten im Jahr meines Freiwillligendienstes in Buenos Aires, Argentinien. Den Großteil meiner Zeit verbringe ich in Engranajes, einem Kulturzentrum, welches sich täglich für die Interessen der Bewohner*innen der Umgebung interessiert und einsetzt. Das Kulturzentrum ist von 9 Uhr in der früh bis 9 Uhr am Abend ein offenes Ohr für groß und klein. Täglich werden kostenlos mehrere Workshops, in den Bereichen Bildung, Musik und Handwerk angeboten. Beispielsweise können Kinder Gitarre spielen lernen, Jugendliche gemeinsam Zeit verbringen oder Erwachsene ihre Schulbildung nachholen. Für das Viertel ist Engranajes als Anlaufstelle so wichtig ,da es wirklich jedem den Raum gibt, den es braucht um sich zu entfalten.
An meinem allerersten Tag im Kulturzentrum im August vergangenen Jahres, ist es Santiago, der mir die Räumlichkeiten zeigt und mir mit seiner offenen Art den Ort direkt vertraut macht. Und auch er ist es mit dem ich mich heute am ersten März 2024 zusammensetze, um ein wenig über sein Leben zu reden.
Mein Gespräch mit Santiago
Santiago ist 17 Jahre alt und wohnt in Boulogne, einer Stadt in der Bezirksgemeinde San Isidro. San Isidro liegt im nördlichen Teil der Metropolregion Buenos Aires. Zur Grenze der Hauptstadt Argentiniens sind es gerade einmal 11 Kilometer. Boulogne, in dem auch Engranajes liegt, zählt zu den ressourcenarmen Zonen beziehungsweise Vierteln, die viele einkommensschwache Familien auf wenig Raum beherbergen. Die Möglichkeit zwischendurch eine soziale Organisation oder einen Ort wie Engranajes aufzusuchen, ist daher umso wertvoller.
Santiagos Antwort auf meine erste Frage: „Was machst du denn so in deinem Leben?“ zeigt mir direkt wieder, warum ich mit ihm sprechen wollte:
Er besucht aktuell das letzte Jahr der weiterführenden Schule, doch das erwähnt er nur gegen Ende nebenbei. Zuerst sprudelt er los und beschreibt all die Vereine und Initiaven in denen er mitwirkt. In erster Linie verbringt er viel Zeit in Engranajes, dem genannten Kulturzentrum. Es existiert schon fast 25 Jahre, sodass bereits seine Eltern regelmäßig hingingen. Laut eigener Aussage ist er praktisch in Engranajes aufgewachsen. Er lernte Keyboard zu spielen, ist aktuell aktives Mitglied in der Gruppe der Jugendlichen „Impacto Juvenil“ und lebt sich nebenher kreativ beim tanzen aus. Weiter gründete er letztes Jahr an seiner Schule eine Art Schülergremium, um interne Anliegen der Schüler*innen zu vertreten und für mehr Mitspracherecht. Mittlerweile ist er auch Vorsitzender dieses Gremiums. Weiter nimmt er regelmäßig an regionalen „Gemeindeverwaltungen“, sogenannten „Consejos locales“ für Kinder und Jugendliche teil, in denen Schwierigkeiten diskutiert und Rechte eingefordert werden. Auf diese Weise setzt Santiago in zahlreichen Initiativen mit Herzblut seine Stimme ein. Die Jugendlichen organisieren außerdem Veranstaltungen und organisieren sich gemeinsam für Demonstrationen.
Die eigenen Rechte zurück fordern
Santiago steckt unglaublich viel Zeit in sein ehrenamtliches Engagement und für ihn klar, was das Wichtigste an seinem eigenen Protagonismus ist: die argentinische Jugend zu repräsentieren und ihre Rechte zu verteidigen. Es handelt sich hierbei nicht nur um Rechte, die in Vergangenheit erkämpft wurden und die es zu schützen gilt, es geht vor allem auch um die, die noch erkämpft werden müssen. Er erwähnt mehrfach die „Rückforderung“ der eigenen Rechte. Argentiniens momentane Lage macht diese Rückforderung und auch die aktive Rolle der Jugendlichen wie Santiago umso notwendiger. Dezember letzten Jahres trat ein neuer Präsident ins Amt, dessen wirtschaftsorientierte Politik zahlreiche Hindernisse für jegliche soziale Arbeit darstellt. Javier Milei ist selbsternannter „Anarcho-Kapitalist“, außerdem offen ultrakonservativ und ultraliberal. Das zeigte er bereits deutlich durch aggressive Kampagne im Wahlkampf letzten Jahres. Gewählt wurde Milei teils von Anhänger*innen seiner Ansichten, jedoch vor allem von Leuten, die nach jahrelanger Unzufriedenheit und Misstrauen in die Politiker*innen den Wunsch nach Veränderung im Land formulierten, erklärt Santiago. Zahlreiche Missstände im Land, wie die immer weiter steigende Inflation, provozierten diese „Wahl aus Wut“. Seit dem Amtsantritt im Dezember sind nicht einmal 3 Monate vergangen, doch die Armut hat bereits alarmierende Größe erreicht.
Tag für Tag steigen die Preise, der Lohn der Arbeitenden wird jedoch nicht angepasst. Das wohl einfachste Beispiel: vor 2 Monaten kostete eine Busfahrt noch zwischen 50 und 60 Pesos, heute kostet eine zwischen 300 und 400 Pesos, wenn nicht sogar mehr. Weiter erzählt Santiago auch, dass in einer nahegelegenen Schule seit 2 Monaten das Dach beschädigt und teilweise eingestürzt ist. Auf die Nachfrage ob finanzielle Unterstützung bei der Reparatur geleistet werden kann, folgt nichts. Und das ist hier momentan Normalität. „No hay plata“, also „Es gibt kein Geld“, wie der argentinische Präsident schon mehrfach mitteilte. Die anfängliche Hoffnung auf Veränderung und Verbesserung der Zustände im Land ist erloschen. Stattdessen führt einem die Lebensrealität täglich vor, wie fatal die Folgen der Wahl des Präsidenten sind.
Die Initiaven der Jugendlichen gewinnen an Bedeutung, finden jedoch kein Gehör. Es wird immer schwieriger sich einzusetzen, da die neue Politik aktiv Rechte einschränkt und abschafft. Den sozialen Organisationen, vor allem denen der Provinz Buenos Aires, wie Engranajes, wird die Arbeit erschwert und fast unmöglich gemacht.
Die Hoffnung ist die Jugend
Santiago gibt ehrlich zu, dass er zweifelt, ob sich alles zum Guten wenden kann. Doch er setzt eine gewisse Hoffnung in die Jugend- und Schüler*innenvereine, sowie die sozialen Organisationen der verletzlichsten Viertel in Argentinien, wie er es formuliert. Im Endeffekt wird man gemeinsam Widerstand leisten müssen und Erfolge „erkämpfen“ können.
Was seine persönliche Zukunft betrifft, möchte Santino nach Abschluss der weiterführenden Schule Politikwissenschaft studieren, sich weiterhin repräsentativ für die Jugendlichen engagieren und irgendwann hoffentlich in der Politik des Landes mitwirken.
Unser kleines Interview haben wir einem kurzen freien Moment in Santiagos Zeitplan aufgenommen, zwischen Tür und Angel sozusagen. Eigentlich hatte ich nur das Glück einer so interessanten Person ein paar Fragen zu stellen. Ich bin sehr froh darüber, dass Santiago großes Interesse daran hatte, ein wenig von sich und seinen Sichtweisen mit der Welt zu teilen. Denn obwohl er in seinem Umfeld zahlreiche Menschen inspiriert, finde ich, dass ihn noch weitaus mehr hören sollten.
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