La Garra Charrúa ‑ Die Kralle der Charrúa

Die Kralle der Charrúa – das Markenzeichen der uruguayischen Nationalmannschaft. Der legendäre Kampfgeist im Angesicht der Niederlage, im Fußball schon fast Mythos, bezieht sich kurioserweise auf einen zentralen Aspekt der uruguayischen Geschichte, über den ansonsten nicht gern gesprochen wird.

Der Begriff “Kralle der Charrúa wurde erstmals im Jahr 1935 im Zusammenhang mit dem Campeonato Sudamericano de Fútbol verwendet. Obwohl die uruguayische Nationalmannschaft aus Veteranen der letzten Olympischen Spiele und der Fußball-WM 1930 zusammengesetzt war, gelang es ihr, den Sieg zu erringen. “Garra”, die Kralle, steht für Tapferkeit und Mut. “Charrúa” ist der Name der größten Indígena-Ethnie, die in den Bergen, Flüssen und Wiesen in diesem Teils des amerikanischen Kontinents ansässig war. Uruguay ist die Nación Charrúa.

Uruguay ist die Nación Charrúa

Wir fahren in das 400 km nördlich von Montevideo gelegene Departamento Tacuarembó. Auf der Suche nach den Stimmen von Einheimischen dieser sanft geschwungenen Hügellandschaft durchqueren wir Eukalyptuswälder und kreuzen vergessene Bachläufe. Das flächenmäßig größte Departamento ist durchzogen von ländlichen Regionen. Hier werden Viehwirtschaft, Reisanbau und Forstwirtschaft betrieben. Traditionelles Brauchtum findet man vor allem in den ländlichen Regionen, insbesondere in der Figur des Gaucho. Der Gaucho ist in vieler Hinsicht eine Imitation des Indio. Viele Bräuche der indigenen Ethnien wurden durch die Landbevölkerung übernommen und am Leben gehalten.

Wir sprechen mit Ana María Barbosa Oyanarte vom Verband der Nachkommen der Nación Charrúa (Asociación de Descendientes de la Nación Charrúa). Ana María ist eine weiße Frau um die 50, nach Art der Menschen in der Stadt gekleidet. Sie arbeitet als Lehrerin.

“Ich bin eine Charrúa aus Uruguay. Hier ist es sehr schwer, über das Thema Indígenas zu reden. Als ich vor einigen Jahren anfing, mich mit meiner Familiengeschichte zu befassen, habe ich auch die Forderungen der indigenen Völker Uruguays kennengelernt und mich ihnen angeschlossen. Das hat mit den Menschenrechten zu tun, mit Ungerechtigkeit. Menschen, die in den 80er Jahren nach dem Ende der Diktatur nach Verschwundenen suchten, stellten fest, dass es schon lange vor der Diktatur Verschwundene gab, und waren sehr überrascht. In unseren Geschichtsbüchern werden Indígenas kaum erwähnt…Im ersten Geschichtsbuch aus dem Jahr 1841 von Juan de la Sota heißt es, in Uruguay gebe es keine Indígenas. 1838, sechs Jahre nach [dem Massaker von] Salsipuedes, gab es immer noch intakte indigene Volksgemeinschaften, aber in den Geschichtsbüchern findet man kein Wort darüber.”

Die Charrúas waren ein indigenes Volk, das im Süden des heutigen Uruguay und des heutigen brasilianischen Bundesstaats Río Grande do Sul sowie in den argentinischen Provinzen Entre Ríos, Corrientes und Santa Fe lebte, ein freiheitsliebendes Volk, das sich als Wächter und Beschützer der Natur begreift. Gegen die europäische Kolonisatoren leisteten sie Widerstand, kooperierten aber auch mit ihnen und unterstützten die Bestrebungen verschiedener hispanischer Unabhängigkeitskämpfer. Ihr engster Verbündeter: der uruguayische Nationalheld José Artigas.
Unter der Regierung seines ersten Präsidenten Fructuoso Rivera begann die Republik östlich des Uruguay im Jahr 1831, sich als unabhängiges Land zu konsolidieren. Rivera lud die Kaziken der Charrúas ein, angeblich weil er zur Sicherung der Staatsgrenzen ihre Hilfe benötigte. Das Treffen fand am Ufer des Arroyo Salsipuedes Grande statt, der die heutigen Departamentos Tacuarembó und Paysandú verbindet. Als der Schießbefehl gegeben wurde, griffen Riveras Soldaten die überraschten Charrúas, an, töteten sie, verfolgten die Fliehenden und nahmen die Überlebenden gefangen.

Genozid nach der Unabhängigkeit

Der durchgeplante Genozid der indigenen Bevölkerung erfuhr seine perfekte Ergänzung durch die spätere Politik des kulturellen Ethnozids. Die neue offizielle Geschichtsschreibung und mit ihr der Geschichtsunterricht in den öffentlichen Schulen ließ die Existenz der Indigenen unerwähnt. Was wurde nach dem Massaker von Salsipuedes aus diesem tapferenVolk? Dazu der Historiker Gonzalo Abella:

“Salsipuedes war sozusagen der Durchbruch, (…) dort fand ein furchtbares Massaker statt. (…) Rivera kam mit seinen Soldaten auf den Landsitz des alten Bonifacio und befahl: “Ihr schnappt euch die Charrúa-Familien, setzt sie in die Küche, gebt ihnen Milch, und dann erschießt ihr sie durchs Fenster.” Wer überlebte, wurde in alle Winde verstreut, die einen flohen nach Entre Ríos, wo es auch Charrúa-Familien gab, andere nach Rio Grande do Sul, und wieder andere verschanzten sich in den Bergen. Von dort aus kamen sie langsam zurück, komplett entwurzelt, und wer konnte, verleugnete seine Charrúa-Identität. (.…) Heute leben die Charrúa verstreut und von der offiziellen Geschichtsschreibung vergessen. Aber es sind vor allem die Leute auf dem Land, die sie ins Gedächtnis rufen. Hier hört man Sätze wie: ‘Also, meine Oma war ja eine Charrúa…’”

Wir befinden uns irgendwo in der Einsamkeit im Departamento Tacuarembó, um uns herum riesige Felder, Trampelpfade mit großen Felsenbecken voll Wasser und Weideland. Nichts als Kühe, Vögel und Zäune, soweit das Auge reicht. Eine drückende Hitze und weit und breit kein einziges Haus. Eine Latifundie, wie man sie sich vorstellt. “Arroyo Salsipuedes Grande”, lesen wir auf einem windschiefen Schild.

Der Rat der Nación Charrúa (Conacha), der Dachverband von etwa einem Dutzend Gruppen von Charrúa-Nachfahren, lädt zu einem Treffen zum Gedenken an die Opfer des Massakers vom11. April 1831 ein. Der Ort sei magisch, finden einige. Frieden, Stille, ein klarer Himmel, sauberes Wasser, Wildnis. Am Lagerfeuer teilt man Mate, fettgebackene Brotfladen und anregende Gespräche. Hier finden wir weitere Stimmen von Einheimischen. Blanca aus Tacuarembó erzählt uns, warum sie sich als Charrúa fühlt.

“Ich bin Blanca Rodriguez, Nachfahrin des Kaziken Sepe. Ich gehöre zur Gruppe der Guyunusa von Tacuarembó. Wir sind Teil des CONACHA in Uruguay, der für dafür einsteht, dass es uns gibt. (.…) Wir kümmern uns um den Erhalt der natürlichen Landschaft an den heiligen Orten und versuchen, unser Inneres kennenzulernen, zu erkennen, was wir fühlen, (…) denn es geht hier um ein Gefühl. Um das Gefühl, Charrúa zu sein”

Das Gefühl, Charrúa zu sein

Als nächstes sprechen wir mit Andrea Velásquez de Young aus dem Departamento Río Negro, auch sie eine Charrúa: “Wir arbeiten an einer Webnovela, sie heißt Die Lehrerin Frau Gift. Sie gibt Vertretungsunterricht in einer Landschule. (…) Dort findet sie ein Begasungsflugzeug, mit dem sprüht sie die ganze Zeit Gift, sogar (…) über der Schule. Dadurch bricht ein Kampf zum Schutz der Umwelt los.”

Auch in Argentinien gibt es lebendige Charrúa-Gemeinschaften, besonders in der Provinz Entre Ríos. Rocío Arapeiz gehört zur Volksgemeinschaft Onkaiujmar in Paraná, Entre Ríos.

“Ich habe über meine Herkunft erfahren, als ich noch sehr klein war. Wir fanden ein Notizbuch meiner Großmutter, indem sie erwähnt, dass sie eine Charrúa ist. (.…) So mit 13, 14 Jahren habe ich angefangen, für meine Identität zu kämpfen. (.…) Wir konnten an einem Projekt teilnehmen, das vom Rat der Universidad Autónoma de Entre Ríos initiiert wurde. (.…) Es ging darum, die Diskriminierung im Hochschulkontext zu bekämpfen, der die die jungen Leute mit indigenen oder afrikanischen Wurzeln ausgesetzt sind.”

Wird heute im urbanen Umfeld von indigenen Wurzeln gesprochen, reagieren die Menschen mit Ablehnung, Verneinung oder Gleichgültigkeit. Eine Volkszählung im Jahr 2011 ergab, dass nur etwa fünf Prozent der Bevölkerung sich als “Abkömmlinge des indigenen Volkes” begreifen.

“In der Hauptstadt Montevideo geht man generell davon aus, dass die Bevölkerung Uruguays von den Menschen abstammt, die mit ihren Schiffen über das Wasser gekommen waren. Das einzige, was wir von diesem Stamm geerbt hätten, sei ihr Mut, ihr Elan. Die Kralle der Charrúa”, erzählt Ana María.“Im Fußball steht die Kralle der Charrúa zwar oft für ein gewisses Maß an Aggression und Gewaltbereitschaft, aber es geht auch darum, sich nicht zu ergeben, weiterzumachen und allen Schwierigkeiten zu trotzen. In Wirklichkeit existiert die Kralle der Charrúa jedoch viel länger als der Fußball. Der Ausdruck bezieht sich auf den Mut, um das eigene Überleben zu kämpfen (…) und sich nicht von einer fremden Kultur überrennen zu lassen.”

Es geht um Prinzipien, um ein Gefühl, aber auch um eine Ideologie. Ana María geht noch weiter: ”Die indigenen Völker sagen immer: ‘Wir können die Alternative zur westlichen Welt sein, denn unsere Völker leben bereits seit Tausenden von Jahren in harmonischem Einklang mit der Erde.’ Das ist die das ist die indigeneWeltsicht des Buen Vivir, der nachhaltigen Entwicklung.”

Kampf um Anerkennung

In der Nähe von Montevideo treffen wir Marta Nieves, eine 61-jährigen Großmutter, die seit vielen Jahren mit ihrer Familie in der Gemeinschaft lebt. Sie ist eine der ersten, die wir auf unserer Suche nach den Stimmen der Einheimischen getroffen haben.

Während der Mate-Becher kreist, erzählt uns Marta, wie immer voller Optimismus und Elan: “Schon die täglichen Verrichtungen geben dir dieses Gefühl von Sicherheit (…), von Würde und Freiheit, wenn es um die Herkunft geht, (…), wenn man sich einmal entschlossen hat, sich selbst gegenüber Verantwortung zu übernehmen und zu handeln, das zu tun, was man tun muss. Aber es muss ehrlich gemeint sein, authentisch. Die Fröhlichkeit ist unsere beste Medizin, um uns lebendig zu fühlen und verbunden mit anderen bei dieser Aufgabe, den Wandel zu vollziehen und unsere Identität wiederzuerlangen. (.…) und das ist, wo ich heute stehe, Marta, ein Teil dieses großen Teils, der zur Gesamtheit aller Teile gehört.

Marta und alle anderen, mit denen wir gesprochen haben, wissen, dass vor dem Kampf um eigenes Land erst ein anderer Kampf ausgefochten werden muss: der Kampf um die Anerkennung der Nación Charrúa, was bisher in Uruguay nicht erreicht wurde. Die Charrúas, die Hüter der südamerikanischen Prärie sind niemals wirklich gegangen, und nun sind sie zurückgekommen.

Die Charrúas erheben sich wieder, wenden sich uns zu und helfen uns verstehen. Nicht die gesamte Bevölkerung Uruguays entstammt den Schiffen. Einige von uns entstammen den Flüssen.

Den Audiobeitrag zum Artikel findet ihr hier:

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