Der Putsch zerstörte auch Hoffnungen deutscher Internationalisten – und trennte zwei Freunde
Den kurzen Weg zur bundesdeutschen Botschaft gehen die beiden Freunde gemeinsam. Sorgen und Ungewissheiten lassen sich kollektiv besser schultern, auch das haben sie in den 1000 Tagen des chilenischen Sozialismus gelernt, der vor wenigen Tagen, am 11. September 1973 ein jähes Ende gefunden hat. Ganz in ihrer Nähe, über dem Regierungssitz La Moneda, steigt noch immer Rauch auf. Von hier aus wandte sich Präsident Salvador Allende im Radio ein letztes Mal an die Bevölkerung: Er dankte den Arbeiter*innen, warnte vor düsteren Zeiten und verbreitete zugleich Mut, dass sich »erneut die großen Wege auftun werden, auf denen der freie Mensch dem Aufbau einer besseren Gesellschaft entgegengeht«.
Norbert Lechner und Franz Hinkelammert gehen an diesem Morgen auf großen, menschenleeren Straßen durch Santiago, doch freie Menschen sind kaum zu sehen. »Frei«, das bedeutet in diesen Tagen, nicht zu denen zu gehören, die verhaftet und gefoltert werden – nicht mehr und nicht weniger. Um frei zu bleiben, müssen sie vorsichtig sein. Rundfunkspots und Plakate rufen die Patrioten Chiles dazu auf, alle verdächtigen Subjekte zu denunzieren, »marxistische Agitatoren« und »Ausländer« seien besonders gefährlich. Kein Wunder, dass die beiden Inhaber bundesdeutscher Reisepässe den Blickkontakt mit den wenigen Passanten meiden.
Hinkelammert ist in jedem Sinne verdächtig. Der 1,90 Meter große linke Ökonom und Befreiungstheologe mit wildem blonden Haar und Rauschebart ist kaum zu übersehen und ziemlich bekannt. Lechner ist etwas unscheinbarer, seine staatstheoretischen Arbeiten kennen nur wenige. Die akademischen und politischen Interventionen des Soziologen sind eher subtil. Ganz allmählich wird er in den nächsten Jahren die »Innenhöfe der Demokratie«, die subjektive Dimension von Politik ausleuchten: »Um zu leben, darf man die Narben nicht vergessen, Narben, wo die Haut ihre Empfindlichkeit verloren hat.« Auch Hinkelammerts Reaktion auf den Putsch lässt nicht lange auf sich warten. Den religiösen Unterstützern Pinochets bescheinigt er eine »Theologie des Völkermordes«, ökonomische Apologet*innen des brutalen Regimewechsels in Chile – wie Margaret Thatcher und Ronald Reagan – geißelt er als »Götzen des Todes«, die im Namen des Neoliberalismus einen »spirituellen Vernichtungskrieg« führten.
Noch wissen sie an diesem Morgen nicht, wie viel Unterstützung sie in der Botschaft der BRD erwarten können. Beide hatten Deutschland bewusst den Rücken gekehrt, um sich als Internationalisten in der »Dritten Welt« zu engagieren. Hinkelammert empfand das Dasein im nur oberflächlich entnazifizierten Westteil des Landes als unerträglich, als »Leben zwischen Schwerverbrechern«. Lechner, der als Kind im Nationalsozialismus, aber auch in den Diktaturen Portugals und Spaniens aufwuchs, blieb Deutschland nach seiner Rückkehr als Jugendlicher fremd. Auch er fühlte sich als Fremder, der »Schwierigkeiten hat, sich seiner Träume zu erinnern und sie auszudrücken«. Das Santiago der späten 60er Jahre ist da um einiges weltoffener, der Abstand zur bleiernen Nachkriegszeit der Alten Welt groß und mit Salvador Allende als erstem gewählten marxistischen Präsidenten wird das Land ab 1970 für viele linke Intellektuelle und Aktivist*innen endgültig eine zweite Heimat.
Nun ist Allende tot. Die chilenische Linke und ihre internationalen Unterstützer*innen haben der massiven Gewalt der neuen Machthabenden am Ende nichts entgegenzusetzen. Trotz des internationalen Aufschreis, in den auch Regierungen einiger westlicher Staaten wie Frankreich, Schweden und Italien einstimmen: Wer würde schon eine direkte Intervention im »Hinterhof der USA« vom Zaun brechen? Noch dazu im Namen eines »demokratischen Sozialismus«, den die UdSSR bereits 1968 in Prag bekämpft hatte und den im Westen vielleicht ein Willy Brandt spannend fand, aber mehr auch nicht. 1974 erhöht die BRD ihre Exporte nach Chile um 40 Prozent, die Importe wachsen um 65 Prozent. Dass auch die DDR nach 1973 unter Vermittlung der Schweiz chilenisches Kupfer einführte, ist eine andere Geschichte.
In der diplomatischen Vertretung der BRD in Chile werden Lechner und Hinkelammert von Botschafter Kurt Luedde-Neurath empfangen, ein studierter Jurist, Träger des 1969 verliehenen Bundesverdienstkreuzes erster Klasse sowie ehemaliges Mitglied der NSDAP und der SA. Luedde-Neurath ist kurz angebunden: Ja, wenn sie Sorge um ihre Sicherheit hätten, könnten sie bleiben. Aber die Botschaft der BRD sei kein Hotel und mit der nächsten freien Maschine würden sie nach Deutschland ausgeflogen. Auf keinen Fall würde er ihre Anwesenheit im Land gutheißen, solange weiter der Sturm tobe. Niemand spricht. Dann steht Lechner auf, bedankt sich und geht zurück auf die Straße, zurück nach Hause. Hinkelammert bleibt sitzen und ist schon bald zurück in Deutschland.
Es ist nicht das Ende einer Freundschaft. Als Menschenrechtler und Forschende für die Unesco und die Freie Universität Berlin werden die beiden weiter engen Kontakt halten, zwei unbequeme Stimmen, zwei ungleiche Lautstärken. Nein, zu Ende geht an diesem Tag etwas anderes und es beginnt etwas, »für das uns zunächst die Worte fehlten«, erinnert sich Lechner in einem Interview 2004. Allende hatte mit viel Zuversicht das zwangsläufige Auftauchen neuer, großer Wege versprochen. Die Überlebenden hätten diesem Versprechen jedoch noch etwas anderes hinzufügen müssen, nämlich »uns aus der Niederlage herauszudenken (…), den Impuls zu geben, für eine neue Art des Denkens und der Politik, am Rand der großen Avenidas«.
Norbert Lechner lebt bis an sein Lebensende 2004 in Santiago, ein Jahr zuvor erhält er die chilenische Staatsbürgerschaft. Franz Hinkelammerts neue Heimat wird Costa Rica, wo er 1976 ein befreiungstheologisches Institut gründet und bis zu seinem Tod im Juli 2023 die Marxsche Religionskritik verteidigt.
Kategorie: berichte
Fundstücke – Chile 1973 im geteilten Deutschland
Der Militärputsch gegen die demokratische Regierung Chiles am 11. September 1973 sorgte weltweit für Empörung. Die Solidarität für alle jene, die unter der Repression der neuen Machthabenden zu leiden hatten oder ins Exil fliehen mussten, war groß – so auch im damals noch geteilten Deutschland. Die offiziellen Reaktionen auf beiden Seiten fielen jedoch recht unterschiedlich aus, hier geprägt vom politischen Selbstverständnis „sozialer Marktwirtschaft“ dort vom „real existierenden Sozialismus.“ Das schlug sich auch in der künstlerische Aufarbeitung des brutalen Staatsstreichs nieder, von staatstragend bis staatskritisch.
Der Kunsthistoriker Carlos Gomes ist in seinem Bildband „Chile 1973. Denkmäler und Wandbilder in DDR und BRD“ solch spannenden Spuren nachgegangen, die für Nachgeborene heute oft unvermittelt im öffentlichen Raum aufblitzen. Allendes Internationale (AI) sprach mit ihm über verblasste Wandbilder, verschwundene Statuen und kämpferische Friedenstauben.
Der Militärputsch gegen die demokratische Regierung Chiles am 11. September 1973 sorgte weltweit für Empörung. Die Solidarität für alle jene, die unter der Repression der neuen
Machthabenden zu leiden hatten oder ins Exil fliehen mussten, war groß – so auch im damals noch geteilten Deutschland. Die offiziellen Reaktionen auf beiden Seiten fielen jedoch recht unterschiedlich aus, hier geprägt vom politischen Selbstverständnis „sozialer Marktwirtschaft“ dort vom „real existierenden Sozialismus.“ Das schlug sich auch in der künstlerische Aufarbeitung des brutalen Staatsstreichs nieder, von staatstragend bis staatskritisch. Der Kunsthistoriker Carlos Gomes ist in seinem Bildband „Chile 1973. Denkmäler und Wandbilder in DDR und BRD“ solch spannenden Spuren nachgegangen, die für Nachgeborene heute oft unvermittelt im öffentlichen Raum aufblitzen. Allendes Internationale (AI) sprach mit ihm über politische Wandbilder, verschwundene Statuen und kämpferische Friedenstauben.
Interview Carlos Gomes | Internacional de Allende 2023
Allendes Internationale (AI) Carlos, was war der Anstoß dazu, dich mit der Kunstwerken auseinanderzusetzen, die auf Straßen und öffentlichen Orten in Deutschlands dem Putsch von 1973 gedenken?
Ich arbeite seit langem im kunsthistorischen Bereich, immer mit einer politischen Perspektive. Für mein letztes Projekt zu Lenin-Denkmälern war ich auch viel in Ostdeutschland unterwegs und bin dabei auch auf einige Denkmäler von Salvador Allende gestoßen. Das hat mich neugierig gemacht und ich hab angefangen zu recherchieren und tatsächlich viel gefunden, schöne Wandbilder und eine richtige Denkmallandschaft zu Salvador Allende, Pablo Neruda, Victor Jara und den zivilen Opfern der Militärdiktatur,
AI: Also ein reiner Zufallsfund oder hattest du auch vorher schon einen Bezug zu Chile?
Meine Eltern hatten Schallplatten mit den revolutionären Liedern von Victor Jara, Inti-Illimani und Quilapayun. Die hab ich als Kind auch oft gehört, auch später als Jugendlicher neben Nirvana und Offspring. Und auch wenn ich die Lyrics nicht immer ganz verstehen konnte, den Gesamtkontext schon. Gleich nach der Allende-Büste hab ich dann in Berlin Köpenick auch eine Statue von Victor Jara und dachte, was macht der denn hier, den kenne ich doch. Erst nach und nach hab ich die ganze Geschichte der Chile-Solidarität entdeckt, was natürlich ein sehr spannendes Thema ist. Die vielen Gedenkstätten, Denkmäler und Wandbilder zu Chile 1973 sind ein Ausdruck davon.
AI: Und Wie bist Du da vorgegangen bei dieser Spurensuche? Gab es da Stichwortgeber oder war es eher eine Internet-Recherche?
Man muss immer auf verschiedenen Wegen an so eine Sache herangehen. Also im Internet recherchieren natürlich, aber dann auch mit den Behörden reden, die sich um die Denkmalpflege kümmern oder mit Vereinen. Auch die Chilen*innen in Deutschland sind noch gut vernetzt, die hatten manchmal auch Informationen. Im Buch werden auch einige Denkmäler und Wandbilder präsentiert, die es nicht mehr gibt und gerade da waren diese Netzwerke sehr wichtig, Menschen, die noch alte Photos hatten oder Informationen, wo sie damals die Wandbilder gemalt hatten.
AI: Du sagst, das Buch sei auch ein Streifzug durch die chilenische Solidaritätsbewegung. Was meinst du damit?
Man muss in den 1970er Jahren im Plural reden, also Solidaritätsbewegungen, weil es natürlich zwei getrennte Bewegungen in der BRD und in der DDR gab. Die Unterschiede sind sehr interessant. In der BRD war die Chile-Solidaritätsbewegung sehr staatskritisch. Die Regierung der BRD hatte ja Beziehungen zu Pinochets Diktatur und hat weiterhin wirtschaftliche Geschäfte unterstützt. In der DDR war die chilenische Solidaritätsbewegung dagegen staatstragend Der Staat hat sich an die Spitze dieser Bewegung gestellt, die Beziehungen zu Pinochet sofort abgebrochen und dann aktiv die Opposition unterstützt. Deshalb wurden in der DDR auch so viele Denkmäler errichtet, von oben quasi. In der BRD finden sich dagegen eher Wandbilder, sie entstanden oft in Eigeninitiativen von Exilchilenen oder von Studierenden.
AI: Finden sich diese Unterschied auch in den Motiven, der Formensprache und den Orten wieder, wo diese Werke zu sehen sind?
In der ehemaligen DDR stehen die Büsten, Statuen und Gedenktafeln auf Plätzen, mit einer Grünfläche umher, immer sehr gepflegt. Allende, Neruda und Jara waren zentrale Motive für die Künstler dort. In der BRD gab es Seiten des Staates manchmal auch Solidaritätsbekundungen, aber es wurden nie Denkmäler errichtet. Die Wandbilder in der BRD wurden zum Teil auch illegal gemalt und sorgten dann im Nachhinein für Diskussionen. Die Universität Bielefeld zum Beispiel wollte ein Wandbild, das ein Gruppe von Exilchilenen in einer Nacht- und Nebelaktion dort gemalt hatte, in einer ersten Reaktion schwarz übermalen. Aber das wurde dann aber vom AstA [Allgemeiner Studierenderausschuss] verhindert und inzwischen steht dieses gut erhaltene Wandbild unter Denkmalschutz. Problematisch war in Bielefeld vor allem, dass auf dem Bild die USA als Mittäter dargestellt sind und das fand die Universität zunächst nicht hinnehmbar.
AI: 27 Erinnerungsorte hast du noch gefunden, andere gibt es nicht mehr. Wie sind die verschwunden? Aus politischen Gründen oder einfach städtebauliche Verdrängung…
Also die Wandbilder wurden ja nicht für die Ewigkeit gemalt, sondern um Aufmerksamkeit für ein aktuelles Thema zu schaffen. Und ein Wandbild draußen im Freien verblasst nach einigen Jahren eben. Und klar, einige Mauern wurden auch abgerissen oder was neues gebaut, ein natürlicher Prozess. Schade ist eher, dass in Ostdeutschland nach 1990 einige Allende-Büsten und Chile-Denkmäler entfernt wurden. Unter dem Vorwand, sie zu sanieren, wurden die abmontiert und dann nie wieder errichtet. Dabei sollte in einem Land, das für Demokratie und Menschenrechte einsteht, doch daran erinnert werden, was vor 50 Jahren in Chile passiert ist.
AI: Bist du auch mit Anwohner*innen ins Gespräch gekommen? Was haben die für eine Beziehung zu diesen Gedenkorten? Wiesen die, wer da auf dem Rasen steht?
Ja, das ist tatsächlich sehr lustig, Manchmal habe ich in alten Listen aus der DDR Informationen zu Denkmälern gefunden, bei denen unklar war, ob es sie noch gibt. In Chemnitz hab ich mich zum Beispiel durchgefragt und dann von einer Person erfahren, dass dort am 11. September jedes Jahr eine Gedenkveranstaltung organisieren wird. Oder in Radebeul, da war ein Denkmal entfernt und dann auf Initiative von Anwohner*innen wieder errichtet worden. Die haben den Künstler ausfindig gemacht und der war gleich bereit eine Kopie zu machen. Eine Initiative hat Geld gesammelt und am Ende hat auch die Stadt ein bisschen geholfen. Mein Eindruck ist, dass in Ostdeutschland den Anwohnern diese Denkmäler wichtig sind. Im Westen sind die erhaltenen Wandbilder meist an Universitäten und die kümmern sich um den Erhalt, manchmal auch Personen, die damals mitgemalt haben.
AI: Es gibt allerdings auch neue Debatten zu einigen Denkmälern und Büsten, vor allem im Fall von Pablo Neruda. Ihm werden sexuelle Übergriffe bis hin zu einer Vergewaltigung vorgeworfen, Kritisiert wird auch, wie er sich gegenüber seiner behinderten Tochter verhalten hat. Als Kunsthistoriker, was schlägst du vor? Was sollte mit Erinnerungsorten geschehen, an denen Neruda gedacht wird?
Pablo Neruda wird in Deutschland natürlich wegen seiner politischen Rolle im progressiven Chile von damals und seiner literarischen Qualität geehrt. Deshalb sollten diese Denkmäler stehen bleiben aber es sollten zusätzlich Informationstafeln angebracht werden, in denen die Kritik thematisiert wird, damit sich jeder Besucher seine eigene Meinung bilden kann. Diese Informationen sind wichtig und sollten nicht irgendwie vertuscht oder versteckt werden. Denkmäler sind wichtige Orte, damit Personen direkt in ihrem Alltag und ihrem Umfeld Zugang zu Kunstwerken haben, die uns wichtige historische Ereignisse nahe bringen und uns zur Reflexion einladen. Deshalb bin in den seltensten Fällen dafür, Denkmäler komplett zu entfernen.
AI: Ist die Spurensuche zum Gedenken des chilenischen Putsches für dich jetzt abgeschlossen oder willst du versuchen, das fortzuschreiben?
Das Buch ist gerade erschienen aber mein Projekt ist auch online und wird sicherlich weitergehen. Ich hab zwar akribisch recherchiert aber sicherlich gibt es Sachen, die ich nicht gefunden habe. In den 1970er Jahren wurden ja wirklich massenhaft Wandbilder gemalt, in einer Stadt zum Teil drei bis vier an einem Tag. Also wenn es da noch Aufnahmen gibt, freue ich mich über Hinweise oder Photos und würde das auf meiner Webseite dann auch sofort aktualisieren.
AI: Gibt es eigentlich einen Ort, den du besonders magisch oder berührend findest, den alle mal gesehen haben sollten.
Also Berlin Köpenick ist schon ein kleines Chile-Freilichtmuseum ist. Im Kiez stehen da eine Allende-Büste, eine Skulptur zu Chile, Allendes letzte Wort in Stein gemeißelt, eine Victor-Jara-Statue und ein Gedicht von Neruda in einer Bronzetafel. Persönlich bin ich aber auch sehr von diesen Wandbildern fasziniert. Mein Lieblingswandbild ist vielleicht das in der Uni Konstanz von der Brigade Salvador Allende. Die Gruppe hat in dieses Bild eine Friedenstaube gemalt, in einer aggressiven Angriffsposition, also überhaupt nicht passiv, wie man sie oft sieht, sondern an der Spitze des Widerstands gegen die Militärdiktatur. Das fand ich eine sehr schöne Idee und auch sehr schön dargestellt.
Mehr Informationen zum Buch und zum Rechercheprojekt unter: https://chile1973indeutschland.org
Opium oder Revolution?. Sozialistische Christen in Zeiten der Unidad Popular
Ende 1971 marschiert ein bekannter Vollbart durch Santiago. Fidel Castro, das kubanische Staatsoberhaupt ist zu Besuch und will auf einer Rundreise den „chilenischen Weg in den Sozialismus” aus nächster Nähe kennenlernen. Anders als der chilenische Präsident Salvador Allende ist Castro 1959 nicht an der Wahlurne, sondern nach erfolgreichem Guerillakampf, an die Macht gekommen.
Während in Chile die Landreform und Verstaatlichungen mühselig innerhalb der bestehenden Gesetze vorangebracht werden, setzt die Kubanische Revolution von Beginn auf die Brechstange, um die Oligarchie und das koloniale Erbe zu beseitigen. Rabiat gehen die barbudos dabei auch gegen die Katholische Kirche vor, die allesamt als Reaktionäre abgestempelt werden.
Doch hier in Chile tritt Castro mit seiner Religionskritik etwas vorsichtiger auf. Es soll da ein Gruppe namens „Christen für den Sozialismus” geben, die sich mit ihm treffen möchte. Tagelang hält er erfolglos Ausschau nach schwarzen Soutanen. Und als es endlich zu einer Begegnung kommt, entfährt dem Comandante folgendes:
„Ihr bringt mich ganz schön durcheinander. Als Gruppe revolutionärer Pfaffen seid ihr ja überhaupt nicht zu erkennen. Dafür sind mir auf der Treppe der Technischen Universität vier Typen mit langen schwarzen Gewändern begegnet. Ich war mir sicher: dass müssen jetzt die Priester sein. Ich grüße sie, dann schau ich noch mal genau hin und erst da merke ich, dass sind ja die Sänger von Quilapayún, dieser Folkloregruppe!“
Eine Kirche auf Selbstfindungstrip
Nicht nur die religiöse Kleiderordnung hat sich Anfang der 1970er Jahre verändert. Die Katholische Kirche steckt mitten in einem Erneuerungsprozess – und das nicht ganz freiwillig. Die Trennung von Kirche und Staat ist vielerorts bereits vollzogen, in Chile seit 1925. Die Diözesen verlieren Einfluss und Macht. Um weiterhin eine relevante soziale Kraft zu bleiben, müssen die Pastoren und Bischöfe Antworten auf die Befindlichkeiten ihrer Schäfchen finden.
Entgegen vieler Vorstellungen sind Priester und Seelsorger damals weder im ländlichen Raum noch in den wachsenden Elendsvierteln der Städte sonderlich aktiv. Doch eben hier entstehen unter Landarbeiter*innen und Siedler*innen neue Organisationen, die für ein würdevolles Leben auf Erden eintreten. Kurzum, die Basis bröckelt. So beruft Papst Johannes XXIII von 1962 bis 1965 das II. Vatikanische Konzil ein. Die kirchlichen Dogmen sollen erneuert werden. Vor allem christliche Basisgemeinden aus Südamerika nutzen den Dialog, um offen für mehr weltliches Engagement von Geistlichen zu werben, besonders bei der Bekämpfung der Armut. So formuliert der peruanische Theologe Gustavo Gutierrez:
„Man kann den Armen nicht sagen, dass Gott sie liebt, und sie gleichzeitig verhungern lassen.“
Das Konzil und eine 1968 im kolumbianischen Medellin stattfindende Lateinamerikanische Bischofskonferenz sind wichtige Impulse, um die christliche Botschaft neu zu interpretieren. Diese sogenannte Befreiungstheologe würde bald auch das Selbstverständnis vieler europäischer Priester prägen.
In der Alten Welt entstehen bereits in den 1950er Jahren Strömungen wie die Nouvelle Theologie oder Organisationen wie die Emmaus-Bruderschaft, die eine Hinwendung zu weltlichen Problemen propagieren. Auch Seminaristen aus Lateinamerika debattieren früh an theologischen Fakultäten mit, besonders in Belgien und Frankreich. Unter ihnen ist Gutierrez aber auch der Kolumbianer Camilo Torres, der später als Guerilla-Priester bekannt wird und der Chilene Mariano Puga. Puga beschreibt den Aufenthalt in Europa als eine Zeit, in der er viele Gewissheiten seines Glaubens hinterfragt:
„Ich wurde nach Paris entsandt, um religiöse Zeremonien und Riten aus der Zeit vor dem 2. Vatikanischen Konzil zu studieren. Beim Studium dieser Quellen beschäftigte ich mich auch mit der Liturgie im Evangelium. Ich las über die ersten christlichen Gemeinden, von Menschen, die das Evangelium Christi leben wollten. Von Menschen, die, um Christ zu sein, ihren Besitz verleugnen und teilen mussten. Einem reichen Mann wurde gesagt, dass er kein Jünger Jesu sein könne, wenn er seinen Besitz nicht mit den Armen teile.“
Für junge Priesteranwärter aus Europa haben die Empfehlungen des II. Vatikanischen Konzils noch weitere, ganz praktische Konsequenzen: sie werden dazu ermutigt nach Lateinamerika zu gehen, wo gerade im ländlichen Raum dringend Priester gesucht werden. Unter ihnen ist auch der junge Jesuit Toon Mondelaers aus dem belgischen Löwen:
„Das [II. Vatikanische Konzil] war mir gar nicht so wichtig. Aber Lateinamerika brauchte Priester. Ich wollte einfach raus aus Belgien und so bin ich nach Chile gegangen. Als Priester hast du keine Ahnung von Politik, Soziologie, usw. Alles ist christliche Lehre, Philosophie, Dogmen. Ich kam als Mann guten Willens nach Chile, mit der Überzeugung, dass die Kirche immer Recht hat.“
Und nicht nur Männer brechen nach Chile auf. Aus christlicher Überzeugung, aber nicht als Nonne sondern als Sozialarbeiterin macht sich auch die damals 30-Jährige Maruja Braekman auf den Weg Richtung Süden.
„Mir wurde mit einem Mal klar, dass ich etwas anderes mit meinem Leben anfangen wollte. In Chile zog ich mit drei oder vier anderen Frauen zusammen, es war eine Art Experiment. Am Ende blieb ich zehn Jahre. Vor dem Austausch konnte man angeben, in welches Land man gehen wollte. Just in diesem Moment trafen wir einen Belgier, der in Chile lebte und uns etwas über das Land erzählte. Er war wohl recht überzeugend, ich wählte Chile.“
Revolution in Freiheit
Gebremst wird der befreiungstheologische Aufbruch in Chile zunächst von den regierenden Christdemokraten (1964-1970). Die Regierung von Präsident Eduardo Frei bringt Alphabetisierungsprogramme und eine Reihe sozialer Reformen auf den Weg, ist jedoch stets um einen Klassenausgleich bemüht. Der Staat interveniert, die herrschenden Verhältnisse aber werden nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Einigen politisch engagierten Christen, war das zu wenig, analysiert der spanische Historiker Mario Amorós in seinem Artikel „La Iglesia que nace del pueblo“:
„Obwohl sich einige Christen seit langem für die sozialistische Umgestaltung der chilenischen Gesellschaft eingesetzt hatten – dafür gibt es wohl kein besseres Beispiel als Clotario Blest, ehemaliger Seminarist und erster Präsident des Gewerkschftsdachverbands CUT –, war 1965 ein ganz entscheidendes Jahr für den ‚Dialog‘ zwischen Marxisten und Christen in Chile. Hatten die Gläubigen im September 1964 noch massiv für Eduardo Frei gestimmt, um den Sieg Allendes im Rahmen einer heftigen Terrorkampagne gegen den „atheistischen Kommunismus“ zu verhindern, so demonstrierten Marxisten und Christen im April und Mai des folgenden Jahres zum ersten Mal vereint, um die nordamerikanische Invasion der Dominikanischen Republik zu verurteilen, die den verfassungsmäßigen Präsidenten Juan Bosch stürzte und dem repressiven Regime von Joaquín Balaguer den Weg ebnete.“
Es bleibt nicht bei Demonstrationen. Im 11. August 1968 besetzt eine Gruppe die sich Iglesia Joven (Junge Kirche) nennt für 14 Stunden die Kathedrale Santiagos. Öffentlichkeitswirksam halten die mehr als 200 Beteiligten eine Messe gegen den Vietnamkrieg und für die lateinamerikanische Arbeiterklasse ab. Vor dem Gotteshaus prangt in großen Lettern ihre Botschaft: „Für eine Kirche an der Seite der Bevölkerung und ihrer Kämpfe. Gerechtigkeit und Liebe.“ Kardinal Silva Henríquez droht, unterstützt von Präsident Frei, eine gewaltsame Räumung an. Kurz vor Ablauf des Ultimatums zieht sich die Junge Kirche zurück.
Doch in vielen christlichen Gemeinden wächst der Unmut. Auch die chilenischen Frauen beginnen langsam an moralreligöse Dogmen zu zweifeln und interessieren sich zunehmend für politische Fragen und ihre sozialen Rechte. Auch in den Dörfern im Süden des Landes, sei das spürbar gewesen, erinnert sich Maruja Braekman. Und manchmal hilft sie ein bisschen nach…
„Also das war noch unter der Präsidentschaft von Frei. Da begannen die bereits existierenden Mütterzentren gut zu funktionieren. Aber die Frauen, die dorthin kamen, hatten viel Aufholbedarf. Sie wussten wenig über die politische Lage in Chile. Also brachte ich ihnen das Stück für Stück näher, beim Stricken. Ganz allmählich lief das, ganz behutsam – aber es funktionierte.”
Schneller voran schreitet dagegen die Spaltung der Christdemokraten. Das schlechte Abschneiden bei den Parlamentswahlen 1969 und ein brutaler Polizeieinsatz gegen urbane Landbesetzer in der Nähe von Puerto Montt bringt zwei linke Strömungen dazu, mit der Partei zu brechen. Die Bewegung der Unitären Volksunion (MAPU) und Izquierda Cristiana (Christliche Linke) schließen sich schnell der Wahlkampagne des Linksbündnisses Unidad Popular (UP) an. Junge Geistliche, die sich selbst „Arbeiterpriester“ nennen, beteiligen sich am Wahlkampf. Unter ihnen ist auch der junge Katalane Antoni Llidó der in einem Brief an seine Familie, amüsiert die politische Überzeugungsarbeit beschreibt:
„Wir haben die alten Betschwestern davon überzeugt, für Allende zu stimmen. Wenn nicht, seien sie hoffnungslos verdammt“.
Die Christen der Unidad Popular
Nach dem Wahlsieg der UP ziehen sich die religiösen Wahlhelfer nicht etwas auf die Kanzeln zurück. Die Vereinbarkeit von Glaube und marxistischen Überzeugungen ist Thema vieler Debatten, so auch auf einem richtungsweisenden Treffen von 80 engagierter Priester im Frühjahr 1971. Mariano Puga war dabei:
„Gemeinsam mit einigen Priestern aus den Armenvierteln trafen wir uns, um darüber nachzudenken, was unsere Aufgabe in einem sozialistischen Chile seien würde. So kamen 80 Priester zusammen. Wir diskutierten über die Herausforderungen, Diener eines befreienden Evangeliums Jesu im Sozialismus zu sein, der nach den gewonnen Wahlen nun aufgebaut werden sollte. Die Journalisten gaben uns den Namen „Christen für den Sozialismus“. Denn jedes mal wenn sie uns fragten, welcher Partei wir angehörten, antworteten wir: ‚keiner, aber wir sind für den Sozialismus.‘ ‚Aber verurteilt die Kirche den Sozialismus nicht? [fragten die Journalisten und wir antworteten:] ‚Die Praxis des Sozialismus wird nirgendwo verurteilt. Denn sie [die regierende UP] will das selbe, was auch Jesus wollte: eine Welt der Gleichen, eine brüderliche Welt.‘ Der Sozialismus steht dem Christentum näher als der Kapitalismus.“
Nur zwei Wochen nach dem Treffen von Los Ochenta, läuft Kardinal Raul Silva Henriquez auf der 1.Mai-Demonstration im Gewerkschaftsblock mit – die christlichen Sozialisten scheinen an Einfluss zu gewinnen. Noch nur kurze Zeit später, verurteilen die chilenischen Bischöfe in einem gemeinsamen Text jegliche politischen Aktivitäten von Geistlichen und warnen davor mit den sozialistischen Kräften zu kollaborieren.
Doch die elegante Drohung verfängt nicht. Im Gegenteil, wenig später gründet sich eine zweite Gruppe, die diesmal 200 Geistliche umfasst, und die im Gegensatz zu Los Ochentas nicht so stark auf politische und soziale Interventionen setzt, sondern sich kritisch mit den internen Strukturen und Konzepten der Katholischen Kirche auseinandersetzt. Sie argumentieren dabei zunächst recht bibeltreu, dass die Kirche den Anspruch haben müsse, „einen neuen Himmel und eine neue Erde“ zu schaffen. Daraus ziehen die kritischen Theologen wiederum ganz praktische Schlüsse: alle Christen sind verpflichtet, auf der Seite der Befreiung zu kämpfen und sich gegen den „Götzen“ des Marktes zu richten.
Mariano Puga nimmt intensiv teil an dieser Debatte. Im Jahr 2016 erinnert er im Interview mit dem linken Theologen Michael Ramminger auxh an die Beiträge internationaler Geistlicher, unter ihnen der brasilianische Intellektuelle Hugo Assmann, die während der Unidad Popular in Chile lebten. Puga erinnert sich wie Assmann und andere,
„…die sich mit den Lehren des Marxismus und der großen Revolutionen gut auskannten, uns unbeschreiblich gut getan haben. Sie waren es, die uns über die russische Revolution, über die sozialistischen Republiken Europas und andere Tendenzen informierten.“
Der belgische Jesuit Toon Mondelears bekommt davon im Süden Chiles zunächst wenig mit. Sein Auftrag ist es, die Studierenden von Concepción zu treuen Besucher*innen der universitären Pfarrkirche zu machen. Und tatsächlich bekommt er viel Besuch, vor allem von Unterstützer*innen der Bewegung der Revolutionären Linken (MIR).
„Diese Bewegung eroberte immer mehr Einfluss und selbst meine Student*innen und die Katholik*innen in der Universitätsgemeinde standen unter dem Einfluss der MIR. Einige Studierende zum Beispiel, die der MIR beigetreten waren, wurden in Kuba als Kämpfer*innen ausgebildet. Sie schrieben mir Briefe. Nach der Ausbildung kamen sie zurück. So kamen immer mehr Studierende unter den Einfluss der MIR und marxistischer Ideen. Uns [Jesuiten] lehrten sie aufmerksam zu sein und die Realität so zu sehen, wie sie ist, und nicht doktrinär darauf zu beharren, alles zu wissen. Sie zeigten uns die Wirklichkeit so wie sie war. Es war der Beginn eines großen Widerspruchs: wir gaben in der Pfarrkirche Marx-Lesekreise zu organisieren, für die Studierenden der Universitätsgemeinde.“
Fasziniert beobachtet der deutsche Ökonom und Theologe Franz Hinkelammert diesen christlich-marxistischen Dialog, der im September 1971 in der offiziellen Gründung der Gruppe Cristianos por el Socialismo (CpS), also Christen für den Sozialismus mündet. Hinkelammert ist als Fachkraft der Konrad-Andenauer-Stiftung (KAS) im Land. Die sei damals interessiert gewesen, an der reformistischen Linie der chilenischen Christdemokraten und offen für einen Dialog mit linken Ideen. Hinkelammert widerum anaylsiert, beobachtet und diskutiert an den Schnittstellen christdemokratischer Gewerkschaften, marxistischer Forschungsgruppen und kritischer Ökonomen. Überall dort wo Bewegungen entstehen, will er dabei sein. Und auch den Staatsbesuch des kubanischen Revolutionsführers Castro im November 1971 verfolgt er sehr genau:
„Das war auch interessant, als Fidel Castro in Chile war. Hinterher wurde die Politik gegenüber den Kirchen völlig verändert in Kuba. Und er musste jetzt sprechen, und welches Beispiel fiel ihm ein – das waren die Christen in der ersten zwei Jahrhunderten gegenüber dem römischen Imperium, die da verfolgt wurden. Das war das Bild, von dem er immer anfing oder häufig anfing. Aber je mehr er das machte, desto mehr hat er das auch ernst genommen für sich selbst. Es war eine hochinteressante Sache, diese Präsenz von Fidel Castro in Chile. Den Sozialismus sowjetischer Art konnte er da nicht vorlegen, denn es handelte sich nicht darum. Und da war er völlig klar und hat das respektiert. Für ihn war das absolut akzeptierbar.“
Auf Einladung Castros besucht im Februar 1972 eine CpS-Delegation Kuba. Die Besucher sind bei Zuckerernten dabei und machen sich auf einer Rundreise mit der sozialen Realität der Karibikinsel vertraut. In einer gemeinsamen Abschlusserklärung verurteilen sie den Kapitalismus als treibende Kraft der Unterentwicklung und räumen eine historische Mitschuld der Kirche ein – sehr zum Unwohl des traditionellen Klerus in Chile.
Vom revolutionären Volkskörper zur Theologie des Massakers
Als die CpS für April 1972 ein erstes lateinamerikanisches Treffen revolutionärer Christen in Santiago organisiert, geht die Kirchenspitze auf Distanz und warnt die Diozösen der Nachbarländer vor einer Teilnahme. Dennoch gibt es prominente Untersützung, u.a. vom mexikanischen Bischoff Sérgio Méndez Arceo. Am Ende beteiligen sich über 400 Delegierte und Gäste aus Lateinamerika und der Welt an der Veranstaltung.
Beide Seiten vermeiden in den folgenden Monaten einen offenen Schlagabtausch. Die Unterschiede zwischen Befreiungstheologie und der – wie Hinkelammert es nennt – „Theologie der Unterdrückung“ treten jedoch trotzdem zu Tage. Während die SpS die kapitalistische Gesellschaft als strukturelle Gewalt begreift, verteidigt Kardinal Silva Henriquez in einer Osterbotschaft diskret die gesellschaftliche Ungleichheit:
„Wenn wir den Wert des Eigentums verteidigt haben, so haben wir ganz besonders an die Möglichkeit und das Recht aller gedacht.“
Auf den Aufruf der CsP an alle Christen, sich aus Nächstenliebe am Kampf für eine gerechtere Welt zu beteiligen, antwortet der Kardinal im Juni 1972 mit einer langen schriftlichen Erklärung, in der es u.a. heißt:
„Die Existenz einer klassenlosen Gesellschaft ist nach der kirchlichen Doktrin utopisch und nicht realisierbar, denn sie gründet sich weder auf die Natur des Menschen noch auf die der Gesellschaft: sie sieht von einer für den sozialen Fortschritt notwendigen Trennung und Spannung ab, die nach dem Urteil der Kirche in der Natur des Menschen und der Gesellschaft selbst wurzeln.“
Ein Dorn im Auge sind dem konservativem Klerus vor allem Arbeiterpriester aus anderen Ländern. Ihr Engagement wird als Einmischung verstanden und in der Weihnachtsbotschaft Ende 1972 ruft Silva Henrique dazu auf,
„zu verhindern, dass ausländische Werte, Gebräuche und Mächte uns vergessen machen, was unser ist, diese Gesamtheit, die wir Chilenität nennen.“
Exemplarisch für diese Linie stehen die Entlassungen der katalanischen Arbeiterpriester Ignacio Pujadas und Antonio Llido, die anfangs auch des Landes verwiesen werden sollen. Doch Llido bleibt seiner Basisgemeinde O’Higgens erhalten, übernimmt dort leitende Funktionen beim MIR, gibt eine befreiungstheologische Zeitschrift heraus und koordiniert das örtliche Versorgungskomitee JAP, um bei Lebensmittelengpässen eine gerechte Verteilung zu gewährleisten.
In Temuco engagiert sich auch Maruja Braekman im örtlichen Versorgungskomitee. Im ersten Jahr ihres Aufenthalts hatte sie sich vor allem dem endemischen Problem häuslicher Gewalt gewidmet und Frauen zu mehr politischer Teilhabe angespornt. Nun ging es darum den Plan der Rechten zu vereiteln, mittels einer künstlich verknappten Grundversorgung die Bevölkerung gegen die Regierung aufzubringen.
„Es musste einfach Leute geben, die sicher stellten, dass auch etwas bei der Bevölkerung ankam, Es gab eine Metzgerei, einen Laden, in dem vieles verkauft wurde. Da mussten Leute sein und ein Auge auf [die Verteilung] haben. Die Ladenbesitzerin war eine Christdemokratin und ihr Mann arbeitete bei der Marine. Ich hatte da also eine Frau vor mir, die mehr als konservativ war. Sie und ihre Nachbarin waren wütend auf mich, weil ich als Mitglied des katholischen Jugendverbands (JOC) für das Versorgungskomitee JAP arbeitete.“
Überall in Chile beteiligen sich christliche Sozialarbeiterinnen und Arbeiterpriester an der mühsamen Aufgabe, die Unidad Popular gegen Sabotageakte und politische Propaganda zu verteidigen. Sie beteiligen sich an Alphabetisierungskursen, Landbesetzungen und Gewerkschaftsgündungen. In Santiago versucht sich die Gruppe der CpS zudem weiterhin als Vermittler zwischen den zunehmend polarisierten politischen Lagerm, u.a. bei den hitzigen Debatten rund um die Reform des Bildungswesens.
Doch die Zeit der Kompromisse ist vorbei. In der Kathedrale Santiagos werden während des Gottesdiensts Flugblätter des Arbeiterpriesters Llido verbrannt. Der chilenische Befreiungstheologe Pablo Richard beschwert sich über eine öffentliche Kampagne der Konrad-Adenauer-Stiftung gegen die sozialistischen Christen, die von der Zerrissenheit der Christdemokratie ablenken soll. Und der prominente Hassprediger Raul Hasbún untermauert am 5. September 1973 im Fernsehen die an Präsident Allende gerichtete Forderung der chilenischen Rechten: Rücktritt oder Selbstmord.
Sechs Tage später erschüttert ein Militärputsch Chile. Während die Armee mit Verfolgung, Mord und Folter gegen einen Teil der Bevölkerung vorgeht, sieht der Arbeiterpriester Mariano Puga schockiert, wie andere feiern:
„Ich ging durchs Zentrum [Santiagos] und kam an der Avenida República vorbei. Da stand eine Frau auf der Straße, die die chilenische Fahne schwenkte. Ich schrie sie an: „In diesem Moment bringen Chilenen andere Chilenen um. Was auch immer deine Position ist, nimm die Fahne herunter.“ Aber die Dame schwenkte weiter die Fahne. Leute tanzten auf der Straße, mit chilenischen Fahnen. Ich kam in [meinem Viertel] Villa Francia an, hier, wo nur ärmliche Hütten standen und sah etwa hundert Fahnen. Ich legte mich auf den Boden meines Zimmers und weinte. Das war mein 11. September.“
Am Abend des Putschs wird eine Ausgangssperre erlassen. Von der Straße dringt der Lärm von Panzern und Schüssen in die Wohnzimmer. Wie viele Menschen sitzt auch Franz Hinkelammert vor dem Fernseher und protokolliert fassungslos die Übertragung von Kanal 13, die einzige TV-Station die noch auf Sendung ist. Später wird er auf Grundlage der Mitschriften das Konzept einer „Theologie des Massakers“ entwickeln. An diesem Tag ist auf Kanal 13 nur eine Stimme zu hören, die von Pater Hasbún:
„Habt keine Furcht. Ihr seid mehr wert als ein Schwarm von Vögeln. In der Welt werdet Ihr leiden müssen, aber bewahrt den Mut. Ich habe die Welt besiegt.“
Vikariat der Solidariät, CpS in Europa und DEI
„Die meisten Priester der Christen für den Sozialismus wurden des Landes verwiesen oder getötet. Die Säuberungen in der Kirche, um die fortschrittlichen Priestern loszuwerden, waren tief greifend. All jene [Priester] die gemeinsamen mit der Bevölkerung in den Armenvierteln gelebt hatten, mussten das Land verlassen.“
Toon Mondelaers ist einer von hunderten Priestern, die nach dem Putsch in Chile unerwünscht sind. In einem Erlass vom 13. September 1973 stellt die Kirchenführung klar, dass ab sofort kein Priester mehr den Christen für den Sozialismus angehören darf. Kardinal Silva Henriquez lässt sich mit den Worten zitieren, er erhoffe sich von den Putschisten mehr als von Allende…
Nur wenige internationale Geistliche wagen es in Chile zu bleiben. Sie setzen ihre solidarische Arbeit in den Armenvierteln fort und vermeiden politisches Aufsehen. Auch die chilenischen Mitstreiter von CpS organisieren ihre Netz zunächst im Verborgenen. Mariano Puga beschreibt die ersten Wochen nach dem Putsch:
„Eine Reihe von Priestern gründeten in der Umgebung Santiagos ein Netzwerk, in La Legua, La Victoria, Villa Francia, Pudahuel Sur, La Pincoya. Und die verfolgten Parteien begannen uns zu fragen, ob wir sie verstecken könnten: ‚Hey, wir waren doch gemeinsam dabei, könnt ihr uns helfen unterzutauchen? Der da, den suchen sie, um ihn umzubringen.‘ Und ich sagte: ‚Glaubst du, dass der Verfolgte Christus ist? Glaubst du es, oder nicht? Wenn nicht, dann frag mich nicht. Glaubst du es?‘ ‚Ja [war die Antwort] und sind Sie bereit diese Person für eine Weile zu verstecken?‘ [Die Antwort war] ‚Ja, bringt ihn zu mir.‘ Da ich ganz gut mit Sprachen konnte, nahm ich Kontakt mit den Botschaften auf. Die Botschafter sagten zu uns: ‚Wir laden die Bullen [die vor der Botschaft patrouillieren] zum Frühstück ein und ihr bringt sie derweil zum Hintereingang rein.‘ Das Vikariat der Solidarität begann sich zu formieren und in diesen christlichen Gemeinschaften begannen Räume für den Schutz der Menschenrechte zu entstehen.
Heute wird diese Geschichte oft so erzählt, als ob das Vikariat der Solidarität auf eine persönliche Initiative von Silva Henriquez zurückginge. Tatsache ist, dass der Kardinal ab einem bestimmten Zeitpunkt seinen politischen Einfluss nutzte, Verfolgten der militärisch-zivilen Diktatur zu helfen und die Verbrechen international bekannt zu machen. Aber er war kein Regimegegner der ersten Stunde – und Menschen, die im bewaffneten Kampf gegen die Diktatur ihr Leben riskierten, konnten von Silva Henriquez nie Hilfe erwarten.
In Europa sind viele der ehemaligen internationalen Priester in Chile-Komitees aktiv. Sie vermitteln Chilen*innen, die ins Exil gehen müssen, Wohnungen, Arbeits- und Studienplätze. Und sie versuchen sich an einer Fortsetzung der befreiungstheologischen Arbeit, erzählt Toon Mondelaers
„Gemeinsam gründeten wir dann die europäische Bewegung der Christen für den Sozialismus. Das war unser Beitrag. Wir haben auch etwas in Chile beigetragen und doch waren eher Nutznießer der chilenischen Geschichte. Chile wurde eher von Chilenen verändert, von oppositionellen Parteien, usw. Weniger von uns. Ich habe in Lateinamerika gelernt, was Befreiungstheologie ist, welche anderen Lesarten der Bibel und des Evangeliums es gibt, usw.“
Auch Franz Hinkelammert setzt seine theologisch- ökonomischen Reflexionen fort. In Costa Rica gründet er gemeinsam mit Pablo Richards (dem ehemaligen Generalsekretär der Christen), Hugo Assmann und anderen das interdisziplinäre und ökumenische Forschungsinstitut (DEI). Von hier aus entwickelt er seine Überlegungen zur Götzenkritik weiter und entwickelt wichtige Beiträge zur Globalisierungskritik.
Vereinzelt lassen sich vor allem in Europa heute noch Grüppchen finden, die sich als Christen für den Sozialismus bezeichnen. Eine politische Rolle spielen sie im Gegensatz zur befreiungstheologischen Strömung der katholischen Kirche jedoch nicht mehr. Deren Vertreter*innen wiederum ist meist der „sozialistische Kompass“ abhanden gekommen. Dabei seien die CpS nicht an ihren „marxistischen Instrumentarien“ gescheitert, findet der kritische Theologe Michael Ramminger, sondern an dem gewaltsamen Putsch und dem Widerstand der kirchlichen Hirarchien. Sich intensiver mit den Ideen der Gruppe zu beschäftigen, lohne jedoch nach wie vor:
„Für alle ChristInnen allerdings, die noch um die biblische Vorstellung einer Welt in Autonomie und Egalität wissen, bleiben die CPS eine, wie es in der politischen Theologie heißt, ‚gefährliche Erinnerung‘ im doppelten Sinne. CPS erinnert daran, dass der biblische Weg der Gerechtigkeit deshalb gefährlich ist, weil er den eigenen Glauben und das eigene Leben existentiell herausfordert und weil er zu einem Weg werden kann, der das eigene Leben gefährdet. Das ist der Preis der Glaubwürdigkeit, ein Preis, den übrigens alle einsetzen müssen, die sich für eine gerechte Welt einsetzen.“
Als Chile singen lernte Lieder, Kino und Wandmalereien der Unidad Popular
Auf dem Flohmarkt Bío-Bío, Chile 2019
Chile im April 2019. Einen knappen Monat sind wir nun schon hier. Der 1. Mai steht an. Sicher wird es wieder einige Demos geben. Wir dagegen bereiten fieberhaft ein partizipatives Theaterstück vor, das in der Hafenstadt Valparaiso aufgeführt werden soll. Auf der Bühne mitwirken wird auch der Wandmaler Alejandro „Mono“ Gonzalez. Wer das ist? Geduld, das kommt gleich.
Viel spannender ist zunächst, wie wir ihn gefunden haben. Dazu mussten wir in die verwinkelten Gänge des Flohmarkts Bio-Bio eindringen, in Franklin, einem alten Stadtteil Santiagos. Hier hat „El Mono“ seine Werkstatt und hier empfängt er jedes Wochenende Besucher*innen. Als wir ankommen, hängt er gerade einige seiner Siebdrucke auf. Auf Tischen ausgebreitet liegen weitere Grafiken. Leute bleiben stehen, sagen Hallo oder stellen Fragen.
Die Bilder um uns herum werden in Chile als arte popular bezeichnet, ein schwer zu übersetzender Begriff, der immer situationsgebunden ist. Hier chargiert er zwischen Volkskunst, Agit-Prop und street art und katapultiert uns zurück in die Zeit der Unidad Popular. Bereits in den 1960er Jahren entsteht auf den Straßen Chiles eine ganz eigene künstlerische Ausdrucksform, die während der Regierungszeit Salvador Allendes (1970-1773) richtig – nun ja – populär wird. Die meist kollektiven Werke kreisen um das Leben der armen und urbanen Bevölkerung. Diese Kunst hat eine klare Aufgabe: die Ungerechtigkeiten anzuprangern und für eine andere Welt zu kämpfen. Zu dieser Schule gehört auch der muralista den wir hier vor uns haben. Sein Markenzeichen sind dicke schwarze Linien, klare Farben und sozialkritische Inhalte. Mono Gonzalez nimmt uns mit, in jene Tage, an denen alles begann:
„Wir waren Studenten, Aktivisten. Wir gingen gingen auf die Straße, um Propaganda zu machen. Ich arbeitete in studentischen Organisationen, aber auch in Kultur- und Propagandakommissionen. Ich war immer der Kultur und politischen Propaganda verbunden. Denn auch ich bin ein Straßenmensch. Ich kenne die Straße, und bis heute bin ich gern auf der Straße und arbeite in öffentlichen Räumen, so wie hier im Franklin-Viertel. Aus diesem Grund gibt es hier auch so viele Wandmalereien. Wir sperren uns nicht ein, sondern besetzen lieber den Raum, ein zugleich öffentlicher und intimer Ort. Die Straße ist immer öffentlich und deshalb gibt es hier auch immer Kontakt mit einem Publikum. Von klein auf war das unsere Schule. Das was ihr heute hier seht, ist das Ergebnis dieser Kindheit und Jugend.“
Wir sehen uns in Valparaiso…
Von Violeta Parra zur Nueva Canción Chilena
In den 1930er und 1940er Jahren gibt aus auf den Straßen Chiles ein sehr beliebtes Medium, die Lira Popular. Das sind Bilder, die auf Schnürchen zwischen zwei Bäumen aufgehängt werden. Und begleitet werden diese großformatigen Comic-Strips von der Stimme eines Dichters, der die Empfindungen der Menschen teilte. Auch in der Musik widmen sich bekannte Interpret*innen und Komponist*innen seit Ende der 1950er Jahre dem Kampf für Gleichberechtigung und gegen die Armut. Zu ihnen gehören Violeta Parra, Roberto Parra, Rolando Alarcón, Héctor Pavez, die Gruppe Cuncumén und viele andere.
1966 veröffentlicht Violeta Parra ihr letztes Album Las última composiciones, auf dem einige ihrer bekanntesten Lieder zu finden sind, darunter Gracias a la vida und Volver a los 17, aber auch Stücke wie El Rin del Angelito, die soziale Missstände anprangern. Der Historiker Mario Garcés, der vor allem zur sozialen Geschichte der chilenischen Städte forscht, erklärt:
„Die chilenische Folklore, oder das was heute als Nueva Canción Chilena (Neuer Chilenischer Gesang) bekannt ist, entstand in den 1960er Jahren. Das sind sehr ausdrucksstarke Stücke, sie erzählen von der verarmten Bevölkerung, aber zugleich auch von Menschen, die sich organisieren. Sie fordern Gerechtigkeit und das kann man in Violetas Liedern hören und auch in den Liedern Victor Jaras. Wenn man über Violetas Lieder nachdenkt, gibt es da einige, die eine dramatische, gelebte Realität offenbaren, wie zum Beispiel El Rin del Angelito. Der Hintergrund ist, dass in Chile bis in die 1950er Jahre jedes Jahr viele Kinder starben. Chile hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die höchste Kindersterblichkeit. Und so entstand in der Populärkultur ein Abschiedsritual für diese „kleinen Engel“. Damit waren die Kindern gemeint, die noch nicht gesündigt hatten und frei von jeder Schuld waren. Davon singt Violeta. Aber sie singt auch Arriba Quemando el Sol und darüber, wie arme Frauen Wasser holen müssen, um Kleider zu waschen und wie im Norden die Arbeiter ausgebeutet werden. Oder im Lied Qué dirá el santo padre, da geht es darum, dass die soziale Ungerechtigkeit nicht im Einklang mit dem Christentum steht und auch nicht mit dem, was der Papst sagt. Violeta behandelt all diese Themen und Victor [Jara] in gewisser Weise auch. Victor singt für die Bevölkerung. Er hat eine berühmte Platte aufgenommen, die dem Armenviertl Herminda de la Victoria gewidmet ist und dem kleinen Luchín – und dem Leben der Armen.“
1967, ein paar Monate nach der Veröffentlichung ihres letzten Albums nimmt sich Violeta Parra in ihrem Theaterzelt das Leben. Ihr Tod löst einen großen Schock aus. Denn zu diesem Zeitpunkt ist Violetas Einfluss auf das Genre der Neo-Folklore bereits sehr groß. Ihre Lieder stehen in direkter Verbindung mit den sozialen Kämpfen. Persönlichkeiten wie Víctor Jara, Inti- Illimani, Patricio Manns, Isabel und Ángel Parra, Quilapayún und die Amerindios treten ihr Erbe an, mit eigenen Werken, die ebenfalls einen kritischen Geist wach halten. Sie klagen die tagtägliche Ausbeutung an und verfolgen das Ziel „den Menschen“ aus der Unwissenheit zu befreien, der er unterworfen ist. Dafür müsse das Land auch kulturell unabhängig werden. Und so schwingt Mitte der 1960er Jahre in der lateinamerikanischen Musik immer eine soziale Realität einer gemeinsamen Geschichte und Zukunft mit.
Sänger und Sängerinnen wie Atahualpa Yupanqui, Mercedes Sosa, César Isella, Daniel Viglietti, die Kubaner Silvio Rodríguez, Pablo Milanés und Noel Nicola, der Brasilianer Chico Buarque und viele andere kommen nach Chile, um in der Peña de los Parra, einer von Violeta Parra 1965 gegründeten Musikhalle, aufzutreten. Der neue chilenische Gesang umfasst Rhythmen und Genres wie die Zamba, die Guajira, den Bolero und eine endlose Anzahl eigener lateinamerikanischer Stile. In ihnen hallt viel Sozialkritik wieder. Die kubanische Revolution und der Widerstand gegen die militärische Intervention der USA in Vietnam werden besungen, oder auch mythische Figuren wie Ernesto „Che“ Guevara und Joaquin Murieta. So wird die Musik zur kulturellen Referenz der chilenischen Linken.
Erstes Festival des Nueva Canción Chilena: das Revolutionslied
Im Juli 1969 findet an der Katholischen Universität Chiles das erste Festival des Neuen Chilenischen Liedes statt, das im ganzen Land schnell ein fester Begriff wird. Das von Ricardo García, einem bekannten Radiomoderator geleitete Festival, ist ein großer Erfolg. Gleich zwei erste Preise werden vergeben, einen für La chilenera von Richard Rojas und einer für Plegaria a un labrador von Víctor Jara. Letzteres Lied würde im folgenden Jahr auf dem Album Pongo en tus manos abiertas beim Plattenlabel DICAP (Discoteca del cantar popular) des Kommunistischen Jugendverbands erscheinen. Bei der Aufnahme wird Víctor Jara begleitet von Quilapayún, einer der damals bekanntesten „revolutionären Musikgruppen“.
Quilapayún (auf Mapudungun: drei Bärte) machen sich in der linken Musikszene mit der Veröffentlichung ihres Albums X Vietnam bereits im Jahr 1968 einen Namen. 1969 folgt Basta, erneut eine musikalische Anklage, die unter der sorgfältigen künstlerischen Leitung von Víctor Jara entsteht. In beiden Werken nimmt die Gruppe eine entschiedene anti-imperialistische Position ein: „Genug mit der Yankee-Herrschaft“.
Viele junge Chilenen und Chileninnen folgen damals diesem Sound, gegen auf auf die Straße, besetzen öffentliche Räume. Silvio Tendler, ein junger brasilianischer Filmemacher, der Anfang der 1970er Jahre im chilenischen Exil lebt, bekommt all das aus nächster Nähe mit:
„Ich kam in Chile zu einem Zeitpunkt an, an dem viel Gemeinsinn, viel Gemeinschaft, viel Geselligkeit herrschte. Zu diesem Zeitpunkt wurde gerade die Kantate Santa Maria de Iquique von Sergio Ortega [eigentlich von Luis Advis] uraufgeführt. Bald schon lernte ich auch die Musik von Violeta Parra und Victor Jara kennen. Ich freundete mich mit ein paar Sängern der Gruppe Amerindios an. Später lebte ich auch mit im Haus von einem von ihnen, bei Julio Numhauser. Das waren Momente großer Brüderlichkeit. Viele Verbrüderung und Freude, viel Empanadas viel Wein, colo de mono [Likör], Chiromoya- und Pfirsichbowle, mit Weißwein gefüllte Melone. So was von lecker. Es war ein erfüllter Moment. Ich habe stets versucht aus dem Mittelklasse-Ghetto rauszukommen und mich in die chilenische Realität zu integrieren. So hab ich auch in den Ferienlagern am Strand mitgeholfen, bei er sogenannten Operation Graßhüpfer. Das war eine sehr glückliche Zeit.
Die Kantate von Santa María de Iquique: Luis Advis und der Stil Quilapayúns
Der Komponist Luis Advis besucht 1968 die Stadt Iquique im Norden Chiles. Inspiriert von den Leiden und Kämpfen des Bergbauproletariats in den Salpeterbergwerken zu Beginn des 20. Jahrhunderts schreibt er eine Reihe von Gedichten. Die Texte dienen als Grundlage für eine lange experimentelle Komposition, die Elemente klassischer Musik mit Folklore und zeitgenössischen Lieder vermischt. Das Werk ist eine soziale Anklage. Entsprechend der Gattung wird es als „Kantate“ benannt: Cantata Popular Santa María de Iquique.
Im Laufe des Jahres 1969 beginnt Advis gemeinsam mit der Gruppe Quilapayún an einer musikalischen Fassung zu arbeiten. Auch eine Reihe von Schauspieler*innen beteiligen sich. Nach langen Proben wird das Stück im Juli 1970 beim Label DICAP aufgenommen. Die öffentliche Premiere findet im Stadion von Chile – dem heutigen Victor-Jara-Stadion – statt, im Rahmen des 2. Festivals des Neuen Chilenischen Liedes. Die musikalische Interpretation übernimmt Quilapayún, als Erzähler leiht der Schauspielers Marcelo Romo seine Stimme.
Die Kantate dient auch der Regierung der Unidad Popular als Referenz für die Schaffung einer Populärkultur.
Populäres Konzert, programmatische Hymne
>Ein weiterer junger Komponist, der die gängigen Kanons durchbricht, ist Sergio Ortega. Er bringt Konzertmusik einem diversen und massiven Publikum näher. Ortega ist der musikalische Autor des Wahlkampf-Songs der Unidad Popular: Venceremos. Das Programm des Kandidaten Salvador Allende dreht sich nicht nur um Forderungen nach einer neuen Verfassung, der Bildung einer Volkskammer, der Verstaatlichung großer Bergbaubetriebe und von Teilen der verarbeitenden Industrie. Nein, Allende sieht auch die Notwendigkeit, eine neue Kultur zu schaffen, welche die bürgerlichen Werte und den Kapitalismus als gesellschaftliche Grundlagen überwinden soll. Die kommenden Veränderungen bräuchten Menschen mit einem sozialen Bewusstsein, solidarisch und gebildet, auch um Macht auszuüben – und um zu diese Macht zu verteidigen.
So verwundert es nicht, dass bereits kurz nach dem Wahlsieg 1970 ein Nationales Instituts für Kunst und Kultur geschaffen wird und die künstlerische Ausbildung an Schulen in ganz Chile vorangebracht wird. Auf diese Weise versucht der Staat, die Bevölkerung stärker als bisher in intellektuelle und künstlerische Tätigkeiten einzubeziehen.
Miriam Makeba grüßt Präsident Allende:
1972 findet wie jedes Jahr das Internationale Musikfestival in Viña del Mar statt. Angesichts der zunehmend polarisierten politischen Lage ist es eine wichtiges Event. Joan Manuel Serrat, Los Iracundos, Piero, Víctor Heredia, Peter Yarrow und andere kommen, um in Chile zu singen. Am Ende des Festivals kommt es zu einem Eklat. Zwischen Buhrufen, Pfiffen, Applaus und Jubel interpretiert die bekannte südafrikanische Sängerin Miriam Makeba ihren Hit Pata-Pata. Im Festivalsaal und im Fernsehen hört ganz Chile ihre offene Unterstützung für Präsident Allende, als sie ruft: „Es lebe die chilenische Revolution!“
Die Revolution braucht eine neue Kultur. Und diese Kultur soll nicht per Gesetz verordnet werden, sondern aus dem ständigen Kampf für das Kollektiv entstehen – und aus einer Kritik am Individualismus und bestehenden Werten. Doch wie könnte eines solche Kultur ihren Platz in einem revolutionären Prozess finden? Bekannt waren eher Erfahrungen, bei denen von oben herab kulturelle Modell konzipiert und in die Wirklichkeit der Menschen verpflanzt wurden. Nun dachten die Kulturschaffenden erstmals darüber nach, ihr eigenes Schaffen in einen produktiven Dialog mit der Populärkultur zu stellen. Die Impulse sollten auch von unten kommen und die Kultur nachhaltig verändern. Faride Zerán, Reporterin der 1972 gegründeten linken Zeitschrift Chile Hoy, erinnert sich:
„Ich beschloss, in die Armenviertel zu gehen. Ich ging zu Landbesetzungen. Ich ging in selbstverwaltete Fabriken, sprach mit Arbeitern und Gewerkschaftern. Ich ging zu den Demonstrationen und berichtete darüber, wie die Stimmung an der Basis war, also jener Basis natürlich, die Allende unterstützte. Ich erinnere mich, als Patricio Guzmán mich in der Redaktion von Chile Hoy aufsuchte und mich einlud, ihn bei den Dreharbeiten an dem Dokumentarfilm La Batalla de Chile zu begleiten. Auf eine gewisse Art und Weise war ich ein Freibrief, um mit den Industriearbeitern zu sprechen, die mich schon kannten. Ich war bekannt, weil sie meine Artikel in Chile Hoy lasen, auch meine Kolumnen und Interviews, mit denen ich den politischen Prozess in Chile begleitete.“
Kino als Mittel der Befreiung
Wenige Monate nachdem Allende sein Amt als Präsident antritt, übernimmt der junge und engagierte Filmemacher Miguel Littin die Leitung der staatliche Filmgesellschaft Chile Films. Aber Littins Geschichte – und die eines Kinos, das sich seiner eigenen Realität stellt und dem sozialen Wandel verschreibt – begann bereits einige Jahre zuvor.
1967 findet in Viña del Mar das erste Festival des neuen lateinamerikanischen Kinos statt. Es wird begleitet von einem Treffen lateinamerikanischer Filmemacher, darunter Santiago Álvarez aus Kuba, Glauber Rocha aus Brasilien, der Bolivianer Jorge Sanjinés und die Argentinier Frenando Birri und Jorge Calderón. 1969 kommt es zu einer Neuauflage, die wichtigste und zugleich die letzte. Den kritischen Ton gibt der Kubaner Alfredo Guevara vom Kubanischen Institut für Kunst- und Kinoindustrie (ICAIC) vor. So werden beim zweiten Festival Filme von Rocha, Santiago Álvarez, Humberto Solás, Mario Handler, Eliseo Subiela, Raymundo Gleyzer und Sanjinés präsentiert. Gezeigt wird auch La Hora de los Hornos (1968), ein Film von Fernando Solanas und Octavio Getino, der die neokoloniale Gewalt anprangerte und eine baldige Befreiung verkündet. Direkt beteiligt an diesem engagierten Kino ist auch der chilenische Tontechniker Leonardo Céspedes:
„1969 trat ich der Filmabteilung der Universität von Chile bei. Experimentelles Kino wurde das damals genannt. Meine Aufgaben waren eher technischer Natur aber ich war in engem Kontakt mit den dort arbeitenden Personen, einer kleinen Gruppe von Leuten, darunter auch Pedro Chaskel, der die Experimentalfilmabteilung leitete. Dann war da noch der Kamaramann Héctor Ríos, Fernando Bellet, ebenfalls ein ausgezeichneter Kameramann, Luis Cornejo, der die Produktion leitete und Álvaro Ramírez, ein Dokumentarfilmer, durch den ich den Einstieg ins Experimentalkino schaffte. Wir kannten uns schon lange vorher und so begann ich Anfang 1969 dort zu arbeiten. Das ist jetzt 50 Jahre her. Und wenn ich mich 50 Jahre zurückerinnere, dann fällt mir auch wieder ein, dass im selben Jahr, Ende Oktober, das zweite Festival des neuen lateinamerikanischen Kinos in Viña del Mar stattfand, Diese Veranstaltung wurde im Wesentlichen vom Filmclub Viña del Mar unter Leitung von Aldo Francia und von der Filmschule der Universität von Chile in Viña del Mar organisiert. Dieses internationale Festival war eigentlich schon das zweite, das erste fand 1967 statt. Es war wirklich ein außergewöhnliches Ereignis.
In Wahrheit war die politische Lage schon extrem angespannt und mitten hinein platzte dann dieses internationale Filmfestival. Es zog unheimlich viele Menschen an. Gerechnet wurde mit 50 Gäste aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern aber am Ende kamen fast 300. Die Organisation des Festivals, das ja eine Woche lang dauerte, war eine große Herausforderung. Es gab Probleme bei der Unterbringung, der Verpflegung und den Finanzen, um all die Gäste und Leute, die ankamen, zu versorgen. Die Mehrheit waren junge Leute, von den Filmschulen verschiedener lateinamerikanischer Länder. Es waren Vertreter aus elf lateinamerikanischen Ländern da, von Mexiko bis zu unseren argentinischen Brüdern, von Brasilien bis nach Bolivien. Es wurden zwei Kurzfilme von Sanjinés gezeigt, einem der großen lateinamerikanischen Filmemacher. Dieses Festival brachte viele Leute zusammen und zeigte, dass Lateinamerika wirklich sein eigenes Kino machte.“
Chile war mit drei Filmen vertreten: Valparaíso mi amor, von Aldo Francia, Tres tristes tigres von Raúl Ruiz und El chacal de Nahueltoro von Miguel Littin. Die drei Filmemachern machten schon damals großen Eindruck und werden heute dem sogenannten Neuen Chilenischen Kino zugerechnet, zu dem auch Aldo Francia, Helvio Soto, Valeria Sarmiento, Álvaro Ramírez, Pedro Chaskel und andere gehören.
Obwohl die Unidad Popular anfangs gar keine politische Linie und keinen Plan für Kinoproduktionen und Filmindustrie hat, bilden sich schnell Filmemacherkollektive und Filmclubs. Auch die im Entstehen begriffenen Filmschulen werden schnell Teil einer von unten wachsenden Bewegung. Ausdruck findet diese Bewegung besonders in Miguel Littins Manifest der Filmemacher der Unidad Popular. Darin heißt es unter anderem: „Noch bevor wir Filmemacher sind, sind wir Männer, die den politischen und sozialen Phänomenen unseres Volkes und seiner großen Aufgabe verpflichtet sind: dem Aufbau des Sozialismus,“ und weiter: „Wir verstehen die revolutionäre Kunst als das, was aus der gemeinsamen Verwirklichung des Künstlers und des Volkes entsteht, die durch ein gemeinsames Ziel vereint sind: die Befreiung. Der eine, das Volk, als Motivator des Handelns und letztlich als Schöpfer, und der andere, der Filmemacher, als sein Kommunikationsinstrument.“
Das Manifest – angefochten von Ruiz und anderen – wird von der Mehrheit der chilenischen Filmemacher*innen unterzeichnet, ebenso von Organisationen wie der Experimentalfilmabteilung der Universität von Chile und der Fakultät für Kunst und Kommunikation der Katholischen Universität. Es ist eine klare Geste, ein Bekenntnis für ein Kino im Dienste des Sozialismus und der Unabhängigkeit, eines Kinos, das nicht planetarisch, sondern revolutionär seien will, weil es in der Aktion entsteht. Ein Kino, das mit Formen experimentieren und sich auch mit der Arbeit der Filmemacher*innen auseinandersetzen will, um den Zugang der Menschen zur Welt des Kinos zu demokratisieren.
Den Alltag filmen, „das was passiert”
Für die jungen Filmemacher ist es unerlässlich, die Ereignisse des Augenblicks festzuhalten, das, was sich auf der Straße abspielt. Aus verschiedenen Perspektiven stellt sich das chilenische Kino der Geschichte des Landes. Da ist zunächst die surrealistische und experimentelle Brille von Raúl Ruiz, der die Regeln des Filmemachens hinterfragt und in Streifen wie La expropiación, Palomita Blanca oder Te vamos a llamar hermano die Gesten und den Habitus der chilenischen Gesellschaft untersucht. Miguel Littin seinerseits versucht, das Kino den Massen näher zu bringen. Er will ein aktivistisches Kino, aber eines, das ohne platte Slogans auskommt. Er führt Regie bei dem 1971 entstandenen Film Compañero presidente und auch bei La tierra prometida (1972). Patricio Guzmán entwickelt derweil den Standpunkt eines Archivars und filmt unablässig die politischen und sozialen Ereignisse des chilenischen Weges zum Sozialismus. Zu seinen Filmen gehören: El primer año (1971) und La respuesta de octubre (1972). Gemeinsam mit dem Argentinier Jorge Müller beginnen sie die Dreharbeiten zu der Dokumentation La Batalla de Chile (der erst einige Jahre später von Pedro Chaskel im kubanischen Exil fertiggestellt wird). Im Jahr 1972 haben zwei weitere Produktionen Prämiere: Ya no basta con rezar von Aldo Francia und Voto + Fusil von Helvio Soto,
Der Regiseur Sergio Trabucco, ebenfalls aktiv in der chilenischen Kinobewegung und nach Miguel Littin Leiter von Chile Films, erinnert daran, wie dringlich dieser kreative Prozesses damals war
„Die Präsenz der Öffentlichkeit und des Publikums war so stark: die der Menschen auf der Straße, der Arbeiter. Sie verkörperten was in Chile passierte, was wirklich im Staat geschah. Wir hatten mehrere Filmprojekte, fast alle historisch. Das ist anfangs oft der Fall, um nicht gleich Probleme zu kriegen. Ein kontemplatives Kino ist unverfänglich, persönliche Geschichtchen, eine Nabelschau des Regisseurs. Deshalb wurden Drehbücher für Filme mit historischem Charakteren geschrieben, zum Beispiel über Lautaro. Also Kurzfilme und Projekten mit historischen Bezügen, die natürlich einen innovativen Zugang und einen anderen Blick entwickelten. Aber dann war alles was im Dokumentarkino geschah so stark, dass es diese Vorhaben auffraß. Die Spielfilmprojekte blieben in der Schwebe, da geschah sehr wenig. Das Dokumentarfilmkino verschlang alles, nicht wegen einer politischen Vision, sondern wegen der spezifischen Realität, die sich auf den Straßen abspielte.“
Der Film Brigada Ramona Parra
1970 produziert die Experimentalfilmabteilung der Universität Chile unter der Leitung von Álvaro Ramírez den Kurzdokumentarfilm Brigada Ramona Parra. Er zeigt Aufnahmen von Bildern und der Bildherstellung der BRP während des Präsidentschaftswahlkampfes von Allende. Zu sehen sind Brigadist*innen, die an verschiedenen strategischen Punkten Santiagos großformatige Propaganda-Wandbilder schaffen. Die Künstler*innen kommentieren selbst ihre Arbeit.
Ramona Parra Brigade_Álvaro Ramírez
„Die Wände waren unsere Tafel“. Die Brigaden Ramon Parra und die Entstehung der populären Wandmalerei
Ein kulturelles Phänomen der Unidad Popular ist die populäre Straßenkunst. So wie schon bei der Musik und öffentlichen Veranstaltungen sind erneut die jüngeren Generationen besonders aktiv. Auffällig im öffentlichen Raum sind bald schon große Wandbilder unter denen das Kürzel BRP steht, eine Abkürzung für Brigadas Ramona Parra. Die Propaganda-Brigade mobilisiert überall im Land Hunderte junger Menschen, die gemeinsam zu Malerinnen und Malern werden. Mono Gonzalez ist einer der Gründer der BRP. Ein Impuls für die Entstehung der Gruppe sei auf jeden Fall die Wahlkampagne Allendes gewesen, erinnert er sich:
„Na klar hat es viel mit Allende zu tun, er verkörperte einen Anführer. Aber es gab auch einen Prozess, denken wir an 1952, 1958, 1964 [als Allende erfolglos kandidierte] und dann 1970. Das ist eine Entstehungsgeschichte, ein Umzug, eine Reise in die Geschichte in Bezug auf, sagen wir, die Ausbildung und Reifung dieses Anführers, aber auch der sozialen Bewegung. Eine Sache ist sehr wichtig: Allende gewinnt die Wahl und wir begannen seine Worte in Bilder umzuwandeln. Bilder wie diese hier um uns herum. Das war meine Schule, die Umwandlung von Buchstaben in Bilder. Das heißt, wir malten einen Slogan oder platzierten ein Bild. Und langsam beginnt es sich abzuzeichnen, dass es unter der Regierung Allendes Raum für ein kulturelles Wachstum geben würde. Ich meine damit die Nueva Canción Chilena aber auch das populäre Grafikdesign, den muralismo, die Wandmalerei. Heute ist all das chilenisches Kulturerbe.
Die BRP arbeitet vom ersten Tag an für die Unidad Popular. Da Allende die Präsidentschaftswahl 1970 nur knapp gewinnt und weit von einer absoluten Mehrheit entfernt ist, muss er auf die Ratifizierung durch den Kongress warten:
„Wir zogen unsere Truppenteile zusammen, also in Anführungsstrichen, und hielten wichtige strategische Orte besetzt. Aber wir verteilten uns auch, um nachts auf die Straße zu gehen und Propaganda zu machen. Es gibt da eine Geschichte: Ich war in einem Haus in der Nähe der Avenida Cumming. Wir waren da versammelt und bereit, rauszugehen und zu malen. Wir begannen am 6. September mit der Arbeit an einer Wandmalerei, also nur zwei Tage nach der Wahl. Eines der Bilder war das vom „Neuen Menschen“. Chile war zu dieser Zeit von oben bis unten bemalt. Mit anderen Worten, alles war bepinselt. Die Wandmalereien lösen eine Veränderung aus, das ist sehr wichtig, das hatte eine strategische Bedeutung. Allende hatte ein Drittel der Wählerstimmen gewonnen aber nun musste er noch vom Kongress es ratifizieren werden. Mit anderen Worten, es gab einen langen Zeitraum von September bis Oktober, der vor der Ratifizierung im November lag. Das war lange hin, es gab viele Spannungen, ein Staatsstreich war nicht ausgeschlossen. Dann hätte er nicht sein Amt antreten können und die Wahl wäre für ungültig erklärt worden. Also mussten wir aktiv werden. Die Wandgemälde halfen dabei, die Lage etwas zu entsprannen. Das ist super interessant, das ist noch nie untersucht worden. Also bei der Präsenz der Wandgemälde, die wir zu malen begannen, da ging es nicht nur darum, ein paar Parolen hinzuschmieren, für die Unidad Popular zu trommeln oder den „neuen Menschen“ auszurufen. Nein, in den Wandgemälden kündigte sich auch eine neue Populärkultur von unten an.“
Eins zu Null für die chilenische Bevölkerung
Im November 1971 besucht Roberto Matta Chile. Der angesehene chilenische Künstler lebt seit längerem in Europa. Nun kommt er zurück, um die Regierung Salvador Allendes zu unterstützen. Während seines Aufenthalts schafft er eine Reihe von Werken, gemeinsam mit Wandmaler*innen der BRP und allen, die sich beteiligen wollen. Sie bemalen Gewerkschaftslokale und öffentliche Gebäude. Auf diese Weise entsteht im ersten Regierungsjahr der Unidad Poplar, an der Wand einer Schwimmhalle im Stadtteil La Granja, eines der emblematischsten Wandbilder dieser Zeit: Primer gol del pueblo chileno (Das erste Tor der chilenischen Bevölkerung).
Rot dämmert die Präsenz auf der Straße
Das Leben auf der Straße und das Demonstrationsrecht im öffentlichen Raum erhält Anfang der 1970er Jahre eine große politische Bedeutung. Die Aktionen der unterschiedlichen politischen Lager überkreuzen sich und kommen oft genug in direkten Konflikt miteinander. In kritischen Momenten organisieren die Brigaden Ramona Parra eine massive Präsenz auf der Straßen, die als rote Dämmerung bekannt wird. El Mono erklärt die Idee dahinter:
„Klar, zunächst mal gab es viele geheime Operationen und illegale Aktionen, die sich gegen Verhaftungen usw. richteten. Darüber hinaus mussten wir es aber auch mit den [rechten] „Mumien“ aufnehmen und der Nationalpartei, die sich Brigada Rolando Matus nannten. All diese Typen, das war wirklich nicht einfach. Wir musste die Straße für uns gewinnen. In der Tat gibt es einige Bilder der „roten Dämmerung“. Dahinter steckte, dass , wir an bestimmten Momenten alle gemeinsam auf die Straße gingen. Wir waren zu diesem Zeitpunkt schon extrem arbeitsteilig organisiert. Diese massiven Auftritte wurden von denen gesteuerten, die bereits Erfahrungen bei den Brigaden gemacht hatten. Mit anderen Worten, die Straße war sehr wichtig. Es ging immer auch um öffentliche Bilder: Positionierungen, Landnahmen, des Aufhängens von Flaggen – Präsenz eben.“
Der Fluss der Farben…
Die Zusammenarbeit der Straßenbrigaden mit professionellen Künstler*innen wird immer enger und fruchtbarer. 1972 schaffen die bildenden Künstler Gracia Barrios und José Balmes gemeinsam mit der BRP ein Wandbild an den Ufermauern des Mapocho-Flusses in Santiago. Das traditionell graue Bild des Flusses und seiner elendigen Bretterbuden an den Ufer verwandelt sich mit den farbenfrohen Wandmalereien. Sie zeigen Szenen, die die Würde und Solidarität der chilenischen Bevölkerung hervorheben. Daran erinnert sich auch gern die bekannte politische Schriftstellerin, Theatermacherin und Feministin Mónica Echeverría:
„Nun, ich würde sagen, dass in all den Jahren der Unidad Popular die Kultur in Chile zu 100 Prozent aufblühte. Also ich rede jetzt davon, was Abseits der allgemeinen Lesart geschah. Klar es gab auch populäre Bücher [günstige Auflagen des staatlichen Verlags Quimantú], die an jeder Ecke verkauft worden. Davon mal abgesehen gab es aber auch wirkliche Schöpfungsprozesse, ganz wunderbarer Lieder, wunderbare Theaterwerke, kreative Neuerungen überall. Das war eine Ouvertüre, ein wunderbare Explosion. Und das erreichte einfach jede und jeden. Ganz Santiago war bemalt, die Wände waren bemalt, die Ufermauern des Mapocho-Flusses waren bemalt. Jeden Tag entstanden neue Lieder. Ich hatte eine Theatergruppe, wir haben die ganze Zeit Theater gespielt. Kreativ und intellektuell betrachtet war es eine besondere Zeit. Es war die Zeit in Chile, in der am meisten gelesen wurde. Und klar, die billigen Bücher wurden auch verkauft, berühmte Bücher für wenig Geld. Die Unidad Popular war eine Wiedergeburt kreativer Inbrunst und Schöpfung, unglaublich, wunderbar.“
Aufgrund der aufgeheizten politischen Stimmung und der gesellschaftlichen Polarisierung sind die BRP ab 1972 häufig gezwungen, die Umsetzung aufwändiger Wandmalereien aufzugeben und sich wieder der Produktion von Texten und politischen Slogans zu widmen. Damit versuchen sie die Regierung der Unidad Popular zu unterstützen. Es ist eine Abwehrschlacht. Die Wände werden ein alternatives Medium, um der dominanten oppositionellen Presse etwas entgegenzusetzen, die eine erbitterte Kampagne gegen Allende führt.
Valparaiso: von der Asamblea Popular zur Oktoberrevolte
Und dann ist er da, der 30. April 2019. Bei all den Vorbereitungen und Aktivitäten sind die Tage schnell verflogen. Während des partizipativen Theaterstücks Valparaiso 1970-2030. Interventionen aus der Zukunft kommt es zu einem Wiedersehen mit dem Mono González. Zusammen mit weiteren Gästen auf der Bühne und dem Publikum debattiert er von einem fiktionalen Szenario in der nahen Zukunft aus über das in Chile vorherrschende neoliberalen Lebensmodell. Wie lässt sich das Recht auf Stadt verteidigen, heute und morgen? Der Mono hat darauf eine klare Antwort:
„Es ist immer wichtig, was auf der Straße passiert. Die Straße prägt das Selbstwertgefühl in den Nachbarschaften und städtischen Räumen. Die Präsenz auf der Straße zählt und die Wandmalereien mit ihren Farben, liefern dazu bis heute einen entscheidenden Beitrag. Sie sind das historische Ergebnis von all dem, worüber wir hier gesprochen haben. Es gibt sie heute auch Freilichtmuseen zu sehen, noch so eine chilenische Erfindung. Auch in anderen Teilen der Welt findet dieses Modell heute Nachahmung, manchmal sind es ganze Städte.“
Nur sechs Monate nach dieser Veranstaltung füllen sich die Straßen Chiles wieder mit Menschen, Liedern, Fahnen und Straßenkunst. Es ist die größte Revolte seit vielen Jahrzehnten. Ein Wutausbruch, begleitet von politischen Forderungen und populären künstlerischen Wortmeldungen. Es sind Momente der Kreativität und Solidarität, bei denen sich neue und alte „Brigaden“ zusammenschließen, um an den Mauern und auf den Straßen eine klare Botschaft zu hinterlassen: „Wir werden nicht aufhören, bis die Würde zur Gewohnheit wird.“
„Ein würdevolles Zuhause.” Urbane Siedler, Projekte und städtische Utopien in Zeiten der Unidad Popular.
Ein Meer aus Marmor und Schlamm: Santiago um 1910
Im Jahr 1910, im selben Jahr, in dem Chile den 100. Jahrestag seiner Unabhängigkeit feiert, schreibt der Pädagoge Alejando Venegas Sinceridad, eine Reihe von Briefen, die an den Präsidenten der Republik, Ramón Barros Luco, gerichtet sind. Darin prangert er die mangelhafte Stadtentwicklung an. Den Ursprung sieht er darin, dass diese Aufgabe leichtfertig den Gemeinden übertragen wurde. Sie seien so zu einer einflussreichen Macht bei Wahlen und in der Wirtschaft geworden – fest in den Händen skrupellosester und unmoralischer Gruppen. Obendrein seien die Gemeinden dafür verantwortlich, dass die chilenischen Städte, insbesondere Santiago, zu einer einzigen:
„Masse aus Marmor und Schlamm werden, aus Villen, die Paläste seien wollen und aus Slums, die wie Schweineställe aussehen. Hier eingebildete Größe, da eine Kleinheit, die beschämend ist“.
Während Chile sich darauf vorbereite, „mit Würde“ sein hundertjähriges Jubiläum als unabhängige Nation zu feiern, sei die Hauptstadt nicht auf die Feierlichkeiten vorbereitet. Santiago gelinge es nicht:
„seine schlecht gepflasterten und staubigen Straßen, stinkenden Gräben, schrecklichen Mietskasernen zu verbergen und seine endlosen und ungepflegten Slums zu verstecken“.
Etwa zur gleichen Zeit schreibt der Schweizer Reisende Albert Malsch ironisch, dass in Chile alles „Schein“ sei, und beschreibt unverblümt die Situation der so genannten „conventillos“:
„Dort, eingesperrt wie die Chinesen, versammeln sich die Elendsten um einen Innenhof, wo jede Familie ein Abteil bewohnt. Man nennt dies „conventillo“, eine Art Phalanster, in dem sich Schweine, Hühner und Kinder unter den Müll mischen. Wolken von Fliegen schlängeln sich über die rötlichen Gräben, die Richtung Eingang fließen und landen auf den Mündern der Neugeborenen. Sie alle schlafen auf der Stampferde. Das Essen wird in einem alten Eisentopf zubereitet, und es gibt kein anderes Wasser als das der Abwasserkanäle, die den Typhus und Tod mit sich bringen.“
Die Hundertjahrfeier hat trotzdem ihr gutes: verschiedene Urbanisierungsprojekte werden aufgenommen. Mehrere Eisenbahnniederlassungen werden geschaffen, um die Stadt mit den Vororten zu verbinden. Eine breite Straße von der Plaza Baquedano – seit dem vergangenen Jahr bekannt als Plaza de la Dignidad – ins Vorgebirge der Anden, den Cajón del Maipo, wird eingeweiht. Im Norden der Stadt entsteht ein neuer Bahnhof: die Estación Mapocho. Gemeinsam mit dem kurz zuvor eröffneten Museum der Schönen Künste im Stadtpark Parque Forestal bringt sie etwas modernistisches Flair in die Hauptstadt.
Doch 1929 kommt es zum Debakel: Infolge der Weltwirtschaftskrise gehen die Salpeterbergwerke im Norden Chiles in Konkurs und Tausende von Arbeitern ziehen auf der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten in die Städte. Hier treffen sie auf die armen Bauern und Bäuerinnen, die vor den feudalen Verhältnissen auf dem Land fliehen.
Santiago zieht als Industriezentrum das größte Kontingent an Arbeitern, Arbeitslosen und armen Bauern an. Nur dank der gegenseitiger Hilfe gelingt das Überleben. „Ollas comunes“ genannte Volksküchen schießen aus dem Boden. Aber das Problem der Unterbringung und des Zugangs zu Dienstleistungen bleibt. Vielorts herrschen Krankheit und Tod.
Urbane Besetzungen und staatlicher Wohnungsbau
Tausende neuer Siedler*innen, die auf der Suche nach Arbeit und Bildung in die Städte kommen, bauen sich Unterkünfte, wo sie können, meist auf unerschlossenem öffentlichem Land. Anfang der 1950er Jahre lebte ein Drittel der Einwohner Santiagos in Slums, in Chile bekannt als „poblaciones callampa”, elende Orte ohne Zugang zu Dienstleistungen und Grundversorgung, erklärt der chilenische Soziologe Mario Garcés.
„Was Studien und Statistiken betrifft, so wurde 1952 die erste nationale Wohnungszählung in Chile durchgeführt. Und diese Volkszählung bildete bereits gut die Realität ab. Es zeigte sich, dass auf nationaler Ebene das vom Wohnraumdefizit ein Drittel aller Chilenen betroffen waren, also eine Größenordnung von 30 Prozent. In meinen Studien, vor allem Untersuchungen in Santiago, stellte ich fest, dass das Defizit sogar 36 Prozent erreichte. Das bedeutet, dass, in Santiago, das Anfang der 1950er Jahre 1,5 Millionen Einwohner hatte, eine halbe Million in Slums oder Mietskasernen lebte. In Chile gibt es dafür einen euphemistischen Ausdruck: „Ich wohn3 in der Nähe…“
Diese überwältigenden Zahlen spiegeln sich auch in politischen Aktionen weiter, sowohl seitens des Staates als auch bei den betroffenen Bevölkerungsgruppen, die sich immer besser organisieren. Die Regierung des Präsidenten Carlos Ibáñez del Campo ruft 1953 die staatliche Wohnungsbaugesellschaft (Corvi) ins Leben. Ziel der Organisation ist es landesweit die Elendssiedlungen zu beseitigen und Wohnraumlösungen anzubieten. Doch obwohl Corvi mehrere Zehntausend Menschen umeiedelt – auch unter der Nachfolgeregierung Jorge Alessandris (1958-1964) -, hat die Institut Schwierigkeiten mit den sozialen Bedürfnissen Schritt zu halten, sagt Mario Garcés.
„Das Problem ist, dass der Wohnungsbau von Corvi nur für die den Teil der armen Bevölkerung ausreichte, der zumindest über eine Beschäftigung und einige Ressourcen verfügte und somit Teil dieser Pläne werden konnten. Die Armen aus den poblaciones callampas und conventillos hatten keine Möglichkeit, sich für Wohnungen zu bewerben. Die Arbeit des Corvi hatte viele Grenzen und Schwächen. Dies führte 1957 zu einer großen Invasion urbaner Flächen. In Chile wird diese Aneignung als „Belagerung“ oder „Landraub“ bezeichnet. Aus diesen Aktionen ging die Siedlung La Victoria hervor. Ich denke, dass da der eigentliche Konflikt mit dem Staat seinen Anfang hat. Die Botschaft der Besetzer von La Victoria an den Staat war eindeutig: „Wenn ihr nicht baut, wenn der Staat nicht baut, werden wir unsere Häuser eben einfach selbst bauen“.
Tatsächlich übernehmen viele Basis- und Stadtteilorganisationen die Methode der Selbstkonstruktion, die international vom Architekten John Turner vertreten wird, eine ganz eigene Philosophie von Gemeinschaft.
1957: die Besetzung von “La Victoria”
In der Nacht vom 30. Oktober 1957 nahmen etwa 1.200 Familien aus dem Elendsviertel am Ufer des Flusses Mapocho in Santiago ein Stück Land namens „La Chacra, La Feria“ in einem relativ zentralen Gebiet von Santiago in Besitz.
„Die Bewegung hatte gelernt, dass mindestens 500 Familien in einer Nacht gleichzeitig zusammenkommen mussten, um mit einer Besetzung Erfolg zu haben. Alle wurden mit einer chilenischen Flagge und einem Zelt oder einem anderen Gegenstand ausgestattet, dar ihnen erlaubte, Schutz zu suchen. Es war Oktober, das Wetter war von der Temperatur her gesehen recht gut. Und los ging es. Die Besetzung begann circa 1:00 Uhr morgens. Die Menschen kamen mit den unglaublichsten Transportmitteln, auf dem Fahrrad, auf der Straße an, per Anhalter, mit dem Bus, all das. Sie überwanden die Gitter und bewegten sich geräuschlos, bis sie sich gut installiert hatten“.
Die organisierte Aktion der Besetzer führen sofort zum Eingreifen der Polizei. Aber die Menschen sind gut organisiert und die Bevölkerung leistet Widerstand. Darüber hinaus intervenieren mehrere der Kommunistischen Partei nahe stehende Fachleute, um mit Kardinal José María Caro zu sprechen, der sich bereit erklärt, mit der Regierung zu vermitteln. Wenige Tage später lenkt die Regierung ein, die Besetzer können bleiben. Die Menschen feiern ihren Erfolg und geben der neuen Siedlung einen passenden Namen: La Victoria.
Der von La Victoria eingeschlagene Weg findet schnell Nachahmer. Andere Obdachlose und Wohnungsuchende lösen eine Welle weiterer Besetzungen aus. Die Botschaft halt nach: Das Recht auf Wohnen legitimiert sich nicht aus den Verfahren des Staatsapparat heraus, sondern aus einem organisierten kollektiven Handeln. Die direkte Aktion der „toma“ wird so zu einer festen Praxis. Im Zuge der urbanen Besetzungen entstehen in Santiago neue Stadtviertel, unter der aktiven Beteiligung von Abertausenden von Siedlern.
Die Regierungszeit von Eduardo Frei: Von der “Operación Sitio” zur “Operación Tiza”
1964 gewinnt der Christdemokrat Eduardo Frei Montalva die Präsidentschaftswahlen, getragen vom Wunsch nach Veränderungen und angetrieben von gesellschaftspolitischen Forderungen die unter dem Ausdruck „Revolution in Freiheit“ Ausdruck finden. Frei verspricht den Armen, sie besser in die Städte zu integrieren und die informellen Siedlungen zu beseitigen. 1965 wird das Ministerium für Wohnungswesen (Minvu) geschaffen und die „Operación sitio” gestartet.
„Die Christdemokraten (DC) begannen zu bauen, aber sehr bald blieben die Pläne hinter dem zurück, was wirklich benötigt wurde. Besonders deutlich wurde dies 1965 und 1966. Die Slums litten besonders unter den Folgen eines Erdbebens in Zentralchile. Die Wohnungsproblematik verschlimmert sich weiter, so dass die DC parallel zu ihren formelleren Wohnungsplänen ein weiteres Programm auf den Weg brachte, das den Namen „Operación sitio“ trug. Das Programm bestand darin bestimmte Orte zu urbanisieren, d.h. sie mit Trinkwasser, Elektrizität und wenn möglich mit Abwasser zu versorgen, wenn auch nicht vollständig, so doch zumindest in Ansätzen. Kleine Fertighäuser bauen, das war der Plan. Das geschah auch unter Berücksichtigung vieler technologischer Fortschritte, zum Beispiel einer weiter entwickelten Holzindustrie, die solche Fertighäuser erst möglich machte. Kurz gesagt, im Jahr 1965 hatte die DC über etwa 10.000 Häuser dieses Typs gefertigt. Der Aufbau an bestimmten Orten konnte beginnen. Die Ärmsten wurden aufgerufen, sich bei staatlichen Stellen und Ministerien registrieren zu lassen, um Teil dieses Programms zu werden. Die Registrierung dauerte fast eine Woche und bereits am ersten Tag wurden 10.000 Menschen und am zweiten Tag weitere 10.000 registriert. Kurz gesagt, am Ende der Woche waren etwa 56.000 Menschen registriert. Da das Programm 10.000 Häuser bot war die Nachfrage als fast sechsmal größer.“
Zwischen 1965 und 1970 wurden diese Häuser an etwa 70.000 Standorte ausgeliefert und insgesamt kam das Programm mehr als 380.000 Menschen zugute. Die Qualität der Urbanisierung war jedoch so unterschiedlich, so dass Siedler und Gegner dieser öffentlichen Politik begannen, sie „Operation Kreide“ zu nennen, da in vielen Fällen waren die Lieferungen einfach nicht ausreichend.
Die Kunst engagiert sich für die städtischen Armen
Ende der 1960er Jahre sind in Santiago mehr als eine Million Menschen „obdachlos“ -fast ein Drittel der städtischen Gesamtbevölkerung. Die Basisorganisationen gehen wieder in die Offensive und gewinnen auch die Sympathie der Mittelschichten. Intellektuelle und Künstler*innen werden auf die Bewegung aufmerksam. Sie machen die wichtigen Veränderungsprozesse in den chilenischen Städten zum Thema ihrer Arbeit.
1966, im Rahmen einer weiteren wichtigen urbanen Besetzung, Herminda de la Victoria, entstehen verschiedene künstlerische Arbeiten, wie der experimentelle Film Herminda de la Victoria (1966) von Douglas Hübner und das musikalische Konzeptalbum La Población (1967) von Victor Jara.
Zur gleichen Zeit erscheinen an den Stadtmauern immer mehr Slogans und Wandbilder, die das Entstehen einer neuen populären Kultur ankündigen, in der die Bewohner*innen ein wichtiger politischer Akteur sind.
Die Unidad Popular: würdevolles Wohnen und Stadtentwicklung „mit den Menschen”.
Die wachsende Siedlerbewegung und mehr als 150 Besetzungen in Santiago und anderen Städten beeinflussen auch das Regierungsprogramm von Salvador Allende, Kandidat der linken Koalition Unidad Popular. Allende macht den Wohnungsbau zu einem zentralen politischen Thema. Als er 1970 die Wahlen gewinnt, künfigt er das ambitionierteste Programm in der Geschichte des öffentlichen Wohnungsbaus an: den Bau von 79.250 Wohnungen im Jahr 1971 und die Urbanisierung von 120.505 Standorten. Dabei soll eng mit der Bevölkerung zusammengearbeitet werden. Der Architekt Miguel Lawner leitet damals viele dieser Initiativen:
„Wir hatten bereits im Wahlprogramm festgelegt, dass wir den Bevölkerungsteilen Vorrang einräumen würden, die bis dahin nie eine Chance für die Lösung ihrer Wohnprobleme hatten.“
„Wir setzten die bisherige Poltiik außer Kraft und führten einen neuen Faktor ein, den wir Wohnungsnotstand nannten. Darin wurden Prioritäten definiert, um Lösungen und Kriterien zu finden, wen wir mit unserem Programm bevorzugen würden. Auf diesen Weise setzten wir Vorschläge in die Realität um. Die städtische soziale Politik sollte nicht nur proklamiert sondern praktiziert werden. Weil wir dem städtischen Grund und Boden keinen spekulativen Wert beimaßen, erlaubten wir es uns auch, in guten Wohnlagenlagen den sozialen Wohnungsbau voranzutreiben. Denn im Allgemeinen, gestern wie heute, ist die Nachfrage nach Wohnraum immer dort angesiedelt, wo Menschen bereits leben und wo sie ihre Wurzelnhaben.“
„Im ersten Jahr gelang uns die Fertigstellung von 100.000 Wohnungen. Das nationale Statistikamt hat das genau dokumentiert. Wir wissen, dass es auch in ländlichen Gebieten viele Wohnungen gebaut wurden, im Zuge der chilenischen Agrarreform. Die tauchen aber gar nicht in den offiziellen Statistiken auf. Aber da lief trotzdem viel, vorrangig für Obdachlose.“
Die Villa „San Luis”: eine Utopie wird Wirklichkeit
An der Spitze der Stadtentwicklungsbehörde Cormu setzt sich Lawner für die Bekämpfung der sozialen Segregation in den Städten Chiles ein. Unter seiner Leitung arbeitet Cormu direkt mit lokalen Wohnungsbauausschüssen und wird zu einem Modell für horizontale Kooperation. Das Motto lautet: Stadtverbesserungen dürfen nicht auf Vorurteilen gegenüber Menschen fußen, sondern mit den Menschen gemacht werden.
1971 setzt die Unidad Popular eine deutliche Zeichen gegenüber der Wohnungslosenbewegung und startet das Projekt „Villa San Luis“, ein groß Bauvorhaben mitten in einer der wohlhabendsten Gegenden der Hauptstadt.
„Es hatte schon seinen Grund, warum wird die Villa de San Luis in Las Condes umsetzen wollten. Das Projekt war für die Wohnungssuchenden Menschen in Las Condes bestimmt. Das waren im Allgemeinen einfache Leute, Bauarbeiter, die in Las Condes wohnten und dort in der Nähe arbeiteten, in Las Condes, Vitacura und Lo Barnechea. Dazu kamen Hausangestellte, Gärtner, Choffeure usw. Die wollten alle in er Nähe ihrer Arbeitsplätze wohnen und kamen teils von weit her, Viertel wie La Pintana. Es gab also keien Grund nicht zu bauen, es sei man spekuliert über den Wert des Grundstücks, was normaler Weise der Fall ist, aber das haben wir nicht getan. Es war möglich, die Wohnungsnachfrage auf unsere Weise zu lösen, das gesamte Cormu-Programm in Zeiten der Unidad Popular ist geprägt davon. Wir bauten auch die Umgehungsstraße Américo Vespucio. Das kam direkt Menschen zugute, die wirklich Bedarf an Wohnraum hatten. Ein großartiges Projekt“.
Das Projekt „Villa San Luis“ wird 1972 umgesetzt. Der Urbanisierungsplan umfasst eine Wohnstruktur von 27 Gebäuden und 1.038 Wohnungen und wird zu einer der emblematischsten städtischen Intervention der Unidad Popular.
Die KPD und die Solidarität der UdSSR
Obwohl die Regierung Allende den Wohnungsbau mit viel Energie vorantreibt, erschweren Probleme bei der Materialversorgung die Arbeit. Die Engpässe sind eine Folge von Widerständen in Chile und einer internationalen Embargopolitik. Als ob dies nicht genug wäre, erschüttert im Juli 1971 ein schweres Erdbeben der Stärke 7,5 Zentralchile und zerstört allein in der Provinz Valparaiso Tausende Häuser. Hilfe kommt aus dem Ostblock. Die UdSSR spendet ein komplettes Werk für Fertighausplatten und entsendet Techniker zur Schulung des örtlichen Personals, erinnert sich der Fabrikarbeiter Servando Mora:
„Ja, sie kamen mit einem Schiff an. Und es wird sogar viel darüber geredet, dass eine weitere Fabrik in Concepción geplant war, doch die Schiffe, mussten zurückgeschickt werden, weil sie vom Militärputsch überrascht worden. Die zweite Ladung hat das Land nicht erreicht, die Fabrik in Concepción wurde nie errichtet. Es war grondioses ein tolles Projekt. Die Wahrheit ist, wann wird in Chile ein Arbeiter je wieder so würdig leben? 56 Quadratmeter, Wohnungen in dieser Größenordnung würde man heute in Chile niemals für einen Arbeiter oder einfache Menschen bauen.“
Die KPD (die Übersetzung des russichen Akronyms КПД das so viel heißt wie „Gebäude mit großen Tafeln) wurde in Lateinamerika während der Regierungszeit von Nikita Chruschtschow gefördert. Es gab zwei unterschiedliche Versionen: die kubanische Variante „Großes Sowjetpanel“ (1965) und die „KPD“-Tafeln (1972), die chilenische Version. Servando Mora erzählt, wie seine Arbeit bei er KPD begann:
„Nun, und ich hab nicht lange gezögert. Ich war Schweißer, ich hatte einiges an Vorwissen in dem Bereich. Und ich dachte, dass ich, indem ich in die KPD ging, nicht nur neben der politischen Arbeit Zugang zu der Technologie haben würde, die sie aus Russland mitbrachten, und davon lernen würde, was dann geschah. Deshalb gingen wir zur Arbeit in der KPD, ich ging zur Arbeit in der KPD, was eine sehr bereichernde Etappe war, und abgesehen davon war der Stolz, an einem Projekt teilzunehmen, das das symbolische Projekt von Präsident Allende war, an Wohnraum zu arbeiten, und dass es für uns zu dieser Zeit über die professionelle Arbeit hinausging.
Das Unctad-III-Gebäude: Die Welt soll uns sehen.
1971 beschließen die Vereinten Nationen (UNO) die Dritte Konferenz für Handel und Entwicklung (Unctad III) nicht in Mexiko sondern in Chile stattfinden zu lassen. Die Regierung nimmt den Vorschlag an und beginnt mit dem Bau eines modernen Gebäudes, um die mehr als 3.000 Delegierten aus der ganzen Welt, die an der Konferenz teilnehmen würden, zu empfangen. Miguel Lawner erinnert sich
„Es muss Ende März 1971 gewesen sein, während einer öffentlichen Kundgebung auf dem Platz der Verfassung. Zum Schluss sprach [Salvador] Allende. Ich war an diesem Tag einfach ein weiterer Zuschauer und Zeuge, als der Präsident seine Ansprache mit den Worten schloss: „Ich möchte ihnen noch mitteilen, dass Chile die Ehre hat, Gastgeber der nächsten Weltkonferenz der Uunctad [Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung] zu sein.” Klar, niemand hatte den leisesten Schimmer, was das bedeutet. Der Präsident fügte hinzu: „Ist eine doppelte Herausforderung für uns. Zuerst einmal müssen wir diese Konferenz organisieren, an der 3000 Delegierte aus der ganzen Welt teilnehmen. Und zweitens müssen wir dafür ein Gebäude bauen, denn es gibt bisher kein Gebäude in Chile, in dem diese Konferenz stattfinden kann.“
Der Präsident beschließt, dass der Bau des Gebäudes in die Zuständigkeit der Cormu fällt, und ernennt Miguel Lawner als Verantwortlichen. Darüber entscheidet Allende, dass das Gebäude an der Alameda (der Hauptstraße Santiagos) errichtet werden soll, damit „es jeder und jede sehen kann“. So beginnt eine Wettlauf gegen die Zeit, denn das Team hat weniger als en Jahr für die Fertigstellung. Der Bau zieht die Aufmerksamkeit der Linken auf sich, die in dem Gebäude die Verwirklichung einer sozialistischen Zukunft sehen. Die Rechte dagegen hofft, dass das Werk scheitern würde. Die argentinische Soziologin Mirta Palomino wohnt während der Bauphase direkt gegenüber:
„Es gab ein leuchtendes Schild, auf dem stand: ‚Nur noch 48 Tage, 47 Tage, 46 Tage‘ . Es war sehr aufregend, weil es für die damalige Zeit ein gigantisches Gebäude war“.
Mit der Hilfe Tausender Freiwilliger wird in den letzten vier Monaten 24 Stunden am Tag gearbeitet, in 8-Stunden-Schichten. Mehrere chilenische und internationale Künstler*innen stellen Werke für das Projekt zur Verfügung, und es entsteht ein beeindruckende Symbiose von Kunst und Architektur, sagt Miguel Lawner:
„So etwas gab es nie zuvor in Chile und ich glaube eine solche Arbeit wieder auch nie wieder gemacht werden, mit diesem Grad an Schönheit und Engagement, dieser bewundernswerten Beziehung zwischen Kunst und Architektur. Die Künstler haben nicht einfach ein paar Leinwände an die Wände des Gebäudes gehängt, sondern uns geholfen, die Türen, die Laternen und die Glasdecken zu kreieren. Einige Bürgersteige, wie der Eingang zur Cafeteria, wurden von keinem Geringeren als Nemesio Antúnez entworfen. Auch Handwerker beteiligten sich und die Stickerinnen der Isla Negra stellten einen wunderbaren Wandteppich her, der großformatig die Geographie Chiles zeigte“.
Am 3. April 1972 weiht Präsident Salvador Allende das UNCTAD III-Gebäude offiziell ein. In seiner Antrittsrede sagte er:
„Die Leidenschaft und der Eifer, mit denen die Bevölkerung dieses Gebäude gebaut hat, sind ein Symbol der Leidenschaft und des Eifers, mit denen Chile zum Aufbau einer neuen Menschheit beitragen will, die Not, Armut und Angst verschwinden lässt…“
„Dass Gebäude fand in der Bevölkerung schnell unfassbar viel Anklang. Schon während der Konferenz war es erstaunlich zu sehen, wie sich eine Menschenmenge zu den Vorträgen drängte. Die Leute standen draußen, auf der Alameda, einer breiten Straße im Zentrum, einfach nur um zuzuschauen. Denn erstmals konnte man in Chile Afrikaner und Asiaten sehen, in ihrer spektakulären Kleidung, die die Leute ganz verrückt machte. Sie versuchten die Besucher im Vorübergehen anzufassen, baten um Autogramme. Das Gebäude war einfach als offener Ort geplant, für alle.
Zu den damaligen Besuchern gehört auch der argentinische Soziologe Héctor Palomino:
„Der Bau funktionierte hauptsächlich als Studentenkantine. Die Kantine war für uns ein. Da war immer was los und die meisten von uns gingen dort täglich zum Essen. Wir waren keine Studenten, aber der Ort stand allen offen. Zugleich gab im Unctad-Bau auch eine Menge weiterer Aktivitäten. Ein wichtiger Soziologiekongress fand dort nach der Eröffnung des Gebäudes statt. Es war fantastisch, alle Soziologen des Kontinents direkt vor unserer Haustür, es war einfach wunderbar.“
Neben offziellen Veranstaltungen und Konferenzen entwickelt sich das Unctad III-Gebäude, das später in Gabriela Mistral Kultuzentrum (GAM) umgetauft wird, auch zu einem Treffpunkt für populäre Künstler*innen, sagt Miguel Lawner.
„Und ziemlich schnell begannen die jungen Leute hier Gitarre zu spielen, ohne dass es jemand geplant hätte. Irgendwer stand auf, zeigte eine Pantomime-Nummer, sang etwas. Jeder konnte hier auftreten, es gab kein Programm, alles geschah einfach ganz natürlich. Folglich hatte das Gebäude ein pralles Leben. Es war ja auch als offener Raum für die Gemeinschaft konzipiert worden und genauso funktionierte es auch – bis zum Militärputsch.“
1973. Rückschritte: die zivil-militärische Diktatur und der Wohnungsbau als Ware.
Mit dem Militärputsch von 1973 und der Machtübernahme von Augusto Pinochet ist Wohnen nicht länger ein unveräußerliches Recht der Bevölkerung, sondern zu „einem Recht, das mit Mühe und Ersparnissen erworben wird“. Die Diktatur verbietet alle Stadtteilorganisationen und erklärt den Zugang zu Wohnraum zu einer individuelle Angelegenheit.
Mit der Liberalisierung des Imobilienmarktes nimmt die soziale Segregation stark zu. Der Wert des zentral gelegener städtischer Grundstücke steigt erheblich, Bodenspekulationen sind an der Tagesordnung. Davon betroffen ist insbesondere die informelle Bevölkerung in diesem Gebiet, die gewaltsam vom Stadtzentrum an die Peripherie gedrängt wird. In den dortigen Komunen konzentriert sich nun die Armut auf Gemeinden und es fehlt an Jobs, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, bestätigt der Stadtforscher Mario Garcés:
„Die Errungenschaften der Bevölkerung waren so groß, dass sie sich nach dem Putsch nicht so leicht umzukehren ließen. Man konnte die Nachbarschaften und Stadtteile, die seit den 1960er Jahren entstanden waren, nicht einfach eliminieren. Aber was das Militär schon tun konnte und tat, war, sie aus den besseren Wohngegenden zu vertreiben, dort wo sich der Reichtum und die hohen Einkommen des Landes konzentrierten. Die großen gewaltsamen Umsiedlungen in den 1980er Jahren betreffen vor allem die Armen, die es geschafft hatten, sich in Las Condes und anderen gutbetuchten Vierteln anzusiedeln. Auf anderer Ebene schuf die Diktatur Nachbarschaftsräte ein, ein System aus Informanten für die administrative und polizeiliche Kontrolle.“
Die Diktatur beginnt schnell, die Symbole zu zerstören, die die Regierung der Unidad Popular in der Stadt errichtet hatte. Das Unctad-III-Gebäude wird besetzt, geschlossen und viele seiner Kunstwerke zerstört und geplündert. Die Villa San Luis wird unter militärische Kontrolle gestellt, ständig werden Razzien durchgeführt und Oppostionelle festgenommen. Ganze Familien werden gewaltsam gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und auf auf Armeelastwagen zum Stadtrand gebracht, wo sie sich selbst überlassen bleiben. Ihre Wohnungen fallen Militärfamilien zu. In den 1990er Jahren legalisiert die erste zivile Regierung der Concertación diese gewaltsame Aneignung durch das Militär. Villa San Luis wird an eine Immobiliengesellschaft verkauft, die seit dem nach und nach ihre Gebäude abreißt. Was bleibt ist nur die Erinnerung…
Epilog: der Kampf für ein menschenwürdiges Wohnen geht weiter.
Während der 17 Jahre währenden militärisch-zivilen Diktatur (1973-1990) wird die Erinnerung an die Unidad Popular geächtet, ihre Symbole zerstört oder diffamiert. Nach dem Ende des autoritären Regimes prägt das neoliberale Wirtschaftsmodell einen auf Individualismus und Konsum basierenden Lebensstil, sehr zu Lasten von Solidarität und einem kollektiven Gemeinsinn, der die Zeit der Unidad Popular kennzeichnete. Und doch bewahren viele Stadtviertel diese Erinnerung und an manchen Orten hat eine neue Generation von Bewohner*innen den Kampf für ein menschenwürdiges Wohnen für alle aufgenommen.
Die momentan grasierende COVID-19-Pandemie verstärkt die ererbten sozialen Ungleichheiten nun täglich weiter. Die sozialen Aufstände vom Oktober 2019 hatten den Blick auf das „Recht auf Stadt“ bereits wieder geschärft. Doch die Quarantäne erstickte die dynamische Protestbewegung auf der Straße. Beobachten lässt sich in diesen schwierigen Zeiten dagegen wieder ein solidarischeres Miteinander. In vielen ärmeren Vierteln werden Ollas Comunes organisiert. Die Volksküchen versorgen Tausende Menschen, deren Nahrungsbedarf nicht gedeckt ist. Vielleicht ist diese Rückkehr der Ollas Comunes ein Vorbote eines neuen Zyklus sozialer Kämpfe für ein gerechteres Miteinander in Chiles Städten.
Agrarreform – Das Land denen, die es bestellen
Chile: ein armes feudales Land
Chile 1916. Schon seit Tagen notiert der als Tagelöhner verkleidete Politiker und Publizist Tancredo Pinochet Le-Brun die Zustände des Landlebens auf der Hacienda Camarica in sein Notizbuch. Aus nächster Nähe erlebt er einen Arbeitsalbtraum:
„Es wird von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gearbeitet. Zum Frühstück gibt es ein Stück Brot, ohne Kaffee oder Tee, ohne heißes Wasser; ein Teller Bohnen zum Mittag, ohne Brot; und noch ein Stück Brot am Tagesende. Nach all dem geht das menschliche Tier […] nicht in ein Schlafzimmer, um sich auszukleiden: es wirft sich unter freiem Himmel auf einen Strohhaufen, und am nächsten Tag steht es wieder auf, ohne sich zu waschen, streckt sich und beginnt von neuem zu arbeiten, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang…
Die Schilderungen des Alltags auf dem Gutssitz des damals amtierenden Präsidenten Juan Luis Sanfuentes sorgen für einen Sturm der Empörung – für die mehr als zwei Millionen betroffenen Menschen, die ohne ausreichende Grundversorgung und ohne Bildungsmöglichkeiten in quasi-feudalen Verhältnissen auf dem Land leben, ändert sich in den nächsten drei Jahrzehnten jedoch kaum etwas.
Von der 1954 in Guatemala gewaltsam vereitelten Agrarreform bekommt die chilenischen Landbevölkerung nichts mit. Dafür sprechen sich die Erfolge der Kubanische Revolution (1953-1959) herum, die für eine noch radikale Umverteilung der Äcker steht…
Inquilinos en la hacienda de Su Excelencia
Frankreich: Verarmtes Zentrum, umkämpfte Peripherie
Europa kämpft zu Beginn der 1950er Jahre derweil noch immer mit den Folgen des 2. Weltkriegs. Auch hier sind große Teile der Bevölkerung verarmt, in Paris grassieren, unbeachtet von der urbanen Bourgeoisie, Hunger und Obdachlosigkeit. Gerade hat der 27-jährige Henri Antoine Grouès, der später in aller Welt als Abbé Pierre bekannt werden sollte, die Wohltätigkeitsorganisation Emmaus gegründet. Er teilt seinen relativen Wohlstand mit den Ärmsten und versucht das Land auf die soziale Misere aufmerksam zu machen:
„Eine Frau ist heute früh auf dem Bürgersteig des Boulevards von Sebastopol erfroren, in der Hand hielt sich noch immer den Ausweisungsbescheid aus ihrer Wohnung,”
empört sich Abbé Pierre während des harten Winters 1954 im Sender Radio Luxembourg.
“Wir können nicht akzeptieren, dass Menschen wie sie weiterhin sterben. Möge so viel Schmerz die wunderbare Seele Frankreichs erwecken!”
Die Wut des überkonfessionellen Kapuziner-Aktivisten richtet sich auch gegen die herrschenden Verhältnisse in jenem Teil der Erde, der zu dieser Zeit als „Dritte Welt“ bezeichnet wird. Gemeinsam mit dem Soziologen Yves Goussault gründet er Iram (Institut de recherche et d’application de méthodes de développement), ein Forschungsinstitut, um praktische Aktionen gegen das globale Elend anzuleiten.
Hommage Yves Goussault in Revue Tiers Monde_2003_4
1956 nehmen Goussault und einige Mitstreiter im gerade unabhängig gewordenen Marokko die Arbeit auf. Während die französischen Regierungen ihre Kolonien nur ungern aufgeben und in Algerien sogar Krieg führen, schauen junge Absolventen der Agrarschulen wie Dominique Genty mit anderen Augen nach Afrika: Sie wollen den jungen Staaten beim Weg in die Unabhängigkeit helfen, sie als Fachkräfte von Iram bei der ländlichen Entwicklung unterstützen.
„Die meisten Leute bei Iram waren politisch vom Algerienkrieg geprägt, der uns in mehrfacher Hinsicht Sorgen bereitete. Wir haben die Epoche der Unabhängigkeitskämpfe gelebt, unsere Generation war für die Unabhängigkeit. Und so schien es ganz natürlich zu sagen: Das Ziel unserer Generation ist es, beim Aufbau der Unabhängigkeit zu helfen. Wir waren technisch interessiert, aber ich denke, dass wir auch politisch alle sensibel für die Entwicklungsprobleme waren, die die Unabhängigkeit mit sich brachte: die Ausbildung von Nationalkadern, andere Beziehungen zu den Bauern usw.“
USA: Eine Allianz für den Fortschritt für Ruhe im Hinterhof
Politisches Aufbegehren in Afrika, bärtige Guerilleros in der Karibik – die USA sehen sich in ihrer Rolle als Weltpolizist unter Zugzwang. 1961, im gleichen Jahr als Franz Fanon in seinem bekannten Werk Die Verdammten dieser Erde offen zum Kampf gegen den Kolonialismus und Imperialismus aufruft, wendet sich US-Präsident John F- Kennedy in einer Fernsehansprache an die Bewohner*innen Lateinamerikas:
“In ganz Lateinamerika, einem Kontinent, der reich an Ressourcen und an den spirituellen und kulturellen Errungenschaften seiner Menschen ist, leiden Millionen von Männern und Frauen unter den täglich Erniedrigungen von Armut und Hunger. Es fehlt ihnen an einer angemessenen Unterkunft oder am Schutz vor Krankheiten. Ihre Kinder werden der Bildung oder der Arbeit beraubt, die das Tor zu einem besseren Leben sind.
Deshalb rufe ich alle Menschen der Hemisphäre auf, sich einer neuen Allianz für den Fortschritt – Alianza para [el] Progreso – anzuschließen, einer gewaltigen kooperativen Anstrengung, die in Größe und Zweckmäßigkeit beispiellos ist, um die Grundbedürfnisse der amerikanischen Bevölkerungen nach Haus, Arbeit und Land, Gesundheit und Schulen – Techo, Trabajo y Tierra, Salud y Escuela – zu befriedigen.”
Tierra – Land ist ein Bedürfnis, dem in Lateinamerika vor allem der Großgrundbesitz im Wege steht. In Chile konzentrieren noch Mitte der 1950er Jahre 10.000 Ländereien 80 Prozent aller Agrarflächen, während die Hälfte der Bauern überhaupt kein Land besitzt.
Und diese soziale Ungleichheit hat Folgen: die seit den 1920er Jahren aktiven Landarbeitergwerkschaften (Ligas Campesinas) bekommen Zulauf und linke Parteien, wie die 1933 gegründete Sozialistische Partei (Ps), finden auch auf dem Land Unterstützung. So muss die seit 1958 regierende liberal-konservative Koalition von Präsident Jorge Alessandri bei den Parlamentswahlen 1961 große Verluste hinnehmen.
Die Regierung kann nicht länger die soziale Frage auf dem Land ignorieren – noch dazu wo die USA nun unverhohlen droht, allen Ländern die Wirtschaftshilfe zu streichen, die keine strukturellen Veränderungen einleiten.
Barraclough und die Blumentopfreform
1962 erlässt Alessandri schließlich ein Gesetz dass in Chile heute als „Blumentopfreform“ bekannt ist. Statt weitreichender Veränderungen umfasst es einige Absichtserklärungen, macht theoretisch zwar Enteignungen möglich, führt unterm Strich jedoch nur zum Kauf und der Umverteilung von 50.000 Hektar Land – damals gerade mal ein Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche.
Vor allem die Großgrundbesitzer – oftmals direkt vertreten im Kongress – setzen alles daran, die Landbevölkerung über ihre neuen Rechte im Unklaren zu lassen. Flugblätter werden zerstört, Gewerkschaftern der Zugang auf ihr Güter verwehrt. So schmuggeln Kinder und Jugendlich wie Francisca Rodríguez die Nachrichten zu den Arbeiter*innen:
„Wir waren diejenigen, die rein konnten. […] Wir waren es gewohnt, Propaganda zu schmuggeln. Und die Propaganda war immer mit Zeichnungen versehen, weil die Bauern nicht lesen konnten. Die Felder der Landgüter lagen hinter verschlossenen Toren. Nur wir konnten rein und über mitternächtliche Treffen informieren. Es war eine absolut geheime Arbeit. […] Zuerst habe ich die Botengänge unbewusst gemacht, wie so viele Dinge auf dem Land, die einem einfach befohlen wurden. In meinem Fall schickte mich mein Großvater. Er war einer der ersten Anarchosyndikalisten.“
Trotz aller Unzulänglichkeiten legt das neue Gesetz den Grundstein für das Nationale Institut für landwirtschaftliche Entwicklung (Indap), den Rat für landwirtschaftliche Entwicklung (Consfa) und das staatliche Unternehmen Cora – später, unter anderen politischen Vorzeichen, allesamt wichtige Instrumente einer progressiven Agrarpolitik. Gemeinsam mit dem interamerikanischen Komitee für Agrarentwicklung (Cida) verändern diese Organisationen allmählich den Blick der Stadtbewohner*innen auf das Landleben, erinnert sich der damalige Student Luis Salinas:
„Die Frage der Agrarreform stellte sich aus akademischer Sicht so: wir können keine vernünftige Landwirtschaft betreiben, wenn der Staat nur den Interessen einiger Weniger dient und die Produktion auf verwaisten Flächen mit geringen Erträgen stattfindet. Dazu kamen die technischen Berichte, im Jahre 1965 dann auch eine Studie von Cida, die offen sagte, die Landverteilung in Chile sei schlicht ein Skandal.“
Treibende Kraft hinter vielen dieser Berichte ist der Harvard-Absolvent Solon Barraclough, der sich zuvor als kritischer Ökonom in den Südstaaten der USA einen Namen gemacht hatte, wo er sich auch für Landlose und Tagelöhner einsetzte.
Die Frankreich-Brasilien-Connection
Auch Iram bereitete 1963 erste Einsätze in Lateinamerika vor. In Paris wirbt der junge chilenische Agrarwirt Jacques Chonchol, der gerade an der Sorbonne promoviert, für einen Einsatz in Chile. Doch die Leitung von Iram will lieber nach Brasilien gehen, wo die Regierung von João „Jango“ Goulart im März 1964 eine große Enteignung und Umverteilung von Ackerland ankündigt – und deshalb nur drei Wochen später von putschenden Militärs ins Exil getrieben wird.
Also doch Chile. Ein Berater des französischen Außenministeriums empfiehlt in Kontakt mit einem gewissen „Chonchol“ zu treten, der zurück in Santiago gerade Vizedirektor des Indap geworden ist und nur zur gern internationale Helfer ins Land holen will…
Die Agrarreform der Christdemokraten
Seit 1964 regiert in Chile Eduardo Frei Montalva von der Christdemokratischen Partei (Dc). Fortschrittliche Geistliche der Katholischen Kirche organisieren für die Landbevölkerung schon seit längerem Bildungsangebote und unterstützen sie bei arbeitsrechtlichen Forderungen. Mit einem zweiten Gesetz erweitert die Regierung Frei 1967 die Agrarreform entscheidend. Die Enteignung und Umverteilung von Land sollen erleichtert werden und die Grundversorgung der Bevölkerung weiter verbessert.
Im Weiterbildungsinstitut Incira (das dem Indap angehört) treffen bald auch die ersten Agrarwirte aus Frankreich ein. Olivier Delahaye von Iram erinnert sich gut an den ersten Kulturschock:
“In Chile hatten wir einen ganz anderen Kontext, als in Algerien oder im Niger. Dort gab es eine, wie es schien, fest verwurzelte Latifundienstruktur. Mit den chilenischen Bauern zu arbeiten war etwas ganz anderes. Die chilenischen Bauern hatten die Idee eines Patrons, eines Herren verinnerlicht. Zu Beginn der Agrarreform redeten sie oft auch die Leiter der Agrarsiedlungen, die von der Behörde geschickt wurden, mit „Patron“ oder „Chef“ an. Wo sollte man da machen? Es war ein bisschen kompliziert und wir dachten damals, dass man wohl ganz unten anfangen müsse.”
Ganz unten, das heißt die Menschen darin zu stärken, selbst zu entscheiden. Lesen und Schreiben sind dabei wichtige Voraussetzungen, die jedoch die wenigsten Landarbeiter*innen beherrschen. Dieser Aufgabe widmet sich der brasilianische Pädagoge Paulo Freire, der gemeinsam mit vielen weiteren Exilenten bei Incira tätig wird, darunter Minister und Berater der gestürzten Regierung Goularts. Gemeinsam bringen sie viel technische Expertise für Agrarfragen mit. Und Freire sorgt neben speziellen Alpahebtisierungskursen auch dafür, dass die technischen Weiterbildungen für alle verständlich sind, erinnert sich Francisca Rodríguez:
„Die gesamte Struktur des staatlichen Ausbildungsinstituts Incira wurde von Paulo Freire konzipiert. Er schuf ein ganzes System aus Schaubildern. Ich denke bis heute daran, die waren sehr schön gemacht und vor allem für die Alphabetisierung nützlich. Die Grafiken waren ebenso entscheidend wie die Alphabetisierungslehrer. Es gab richtige Alphabetisierungsbrigaden. Nicht nur Paulo Freire, sondern alle, sahen Bildung immer aus Sicht der ländlichen Gemeinden und ihrer Organisation.“
Für die regierende Dc ist es wichtig, bei all diesen Veränderungen tonangebend zu bleiben, denn die Landbevölkerung bildet für sie eine wachsende Wählerbasis. Seit 1949 können in Chile auch Frauen wählen. Ihre politische Organisation ist jedoch gering, die Rollenverteilung eindeutig: Gerade mal sechs Prozent der ländlichen Gewerkschaftsmitglieder sind zu dieser Zeit Frauen. In sogenannten „Mütterzentren“ (Centros de Madres) soll deshalb auch die weibliche Landbevölkerung einen Raum für Begegnungen und Bildung erhalten. Alicia Muñoz, die seit klein auf als Hilfskraft für eine Gutsherrin arbeitete, warnt davor diese Orte wegen ihres wenig emanzipativen Titels vorschnell abzulehnen:
„Der Besuch des Mütterzentrums war für mich von grundlegender Bedeutung. Denn hier traf ich Menschen aus Kleinstädten, die den Prozess der Agrarreform unterstützten, die uns Lesen und Schreiben beibrachten. Sie waren unsere Lehrer.“
Zugleich knüpfen in diesen Kursen auch die Frauen vom Land einen engeren Kontakt:
„Zum ersten Mal konnte wir aus den Häusern raus und uns an einem öffentlichen Ort treffen. Das Mütterzentrum war klein aber wir konnten hier über verschiedene Dinge sprechen. Denn sonst lebten wir alle in weit entfernten Häusern. Um uns zu besuchen, und sei es nur um ein Huhn zu verschenken, mussten wir viele Kilometer laufen. Manchmal ging für so einen Besuch der ganze Tag drauf oder du musstest von vornherein eine Übernachtung einplanen.“
Was die Enteignungen angeht kommt die Agrarreform jedoch nicht so schnell voran wie geplant. Auch wenn bis zum Ende von Freis Regierungszeit über drei Millionen Hektar Land sozialisiert werden, macht das insgesamt nur 13 Prozent aller Anbauflächen aus. Die Christdemokraten versuchen sich in einem schwierigen Spagat: sie wollen die Forderungen der Bauern nicht der politischen Linken überlassen und es sich zugleich nicht mit der ländlichen Oligarchie verscherzen. Als eine „Revolution in Freiheit“ verkauft Frei diese Idee – doch bei den Großgrundbesitzern kann er damit wenig punkten, schreibt der engagierte Ökonom Solon Barraclough 1968:
„Wissen Sie, was viele der traditionellen Grundbesitzer in Chile, die in letzter Zeit durch eine äußerst bescheidene Agrarreform etwas Land verloren haben, am meisten verärgert? Wissen sie, warum sie bereit wären, fast alles zu tun, um das wieder rückgängig zu machen? Es ist nicht so sehr der Verlust von Reichtum oder gar Land, sondern, dass die Campesinos nicht mehr so bescheiden und ehrerbietig sind.“
Auch junge Christdemokraten wie der Agrarwirt Luis Salinas verlieren Ende der 1960er Jahre so langsam die Geduld mit der Dc. Es kommt zu einer Reihe von Parteiaustritten und 1969 gründen die Dissidenten – unter ihnen auch Jacques Chonchol – die Bewegung der Unitaren Volksaktion (kurz: Mapu). Für Salinas und die anderen ist klar: die Agrarreform muss mit anderen Mitteln fortgesetzt werden:
„Da der Prozess nicht in Gang kam, weil die Agrarunternehmer sich in den Tarifverhandlungen nicht bewegten, drängten die Bauern auf andere Mittel. Sie begannen Ländereien zu besetzten. Die Presse kam und berichtete ausführlich. Studenten kamen, um sie zu unterstützen. Auch andere Arbeiterorganisationen gingen hin, und die Mapu stand auch dahinter. Alle besuchten die Besetzungen und zeigten ihre Solidarität.“
Der christdemokratische Interessenausgleich ist gescheitert. Zwischen 1968 und 1970 nimmt die Zahl der Landarbeiterstreiks um ein zehnfaches zu, auf ganze 1.580 Arbeitsniederlegungen. Die Besetzung von Äckern vervierfacht sich im selben Zeitraum auf fast 2.000. Unter den angeeigneten Flächen befinden sich auch Ländereien im Süden des Landes, die den Mapuche-Indigenas seit dem 19. Jahrhundert von Siedlern europäischer Abstammung gewaltsam geraubt worden. Nun stehen einige Mapuche Seite an Seite mit Aktivist*innen der Bewegung der revolutionären Linken (MIR) und machen Ansprüche geltend…
Ein neuer Aufbruch auf dem Land
QUIMANTU Nosotros los chilenos. La lucha por la tierra
1970 ist in Chile Wahljahr, an dass die Schriftenreihe Nosotros los Chilenos im Band „Der Kampf ums Land“ (La Lucha por la tierra) rückblickend so erinnert:
„Die ersten Monate des Jahres 1970 vergingen und das Datum der Präsidentschaftswahlen, die die Zukunft Chiles bestimmen sollten, rückte näher. Die Großgrundbesitzer wurden immer wagemutiger und hofften auf eine erneute Wahl des inzwischen senilen Jorge Alessandri. Es wurde bereits offen über die auf den Haciendas gelagerten Waffenarsenale gesprochen, ‚um sich vor Enteignungen zu schützen‘. Doch Angesichts der Mobilmachung der Patrone vervielfachte sich die Besetzungen von Besitztümern, vor allem in den Provinzen Cautín und Valdívia.“
Der Kandidat der Dc, Radomir Tomic versucht eine Mehrheit für die Fortsetzung der Regierungsarbeit zu finden, verspricht zudem die Agrarreform zu intensivieren – vergeblich. Am Ende entscheidet das linke Bündnis Unidad Popular (UP) um den Sozialisten Salvador Allende die Abstimmung für sich.
Im Maßnahmenkatalog der UP heißt es unter Punkt 24:
EINE ECHTE AGRARREFORM
Wir werden die Agrarreform vertiefen, die auch den Mittel- und Kleinbauern, Kleinunternehmern, Zwischenhändlern, Angestellten und Außenstehenden zugute kommen wird. Wir werden die Agrarkredite ausweiten. Wir werden einen Markt für alle landwirtschaftlichen Produkte sicherstellen.
Doch die Vertiefung der Agrarreform entpuppt sich schwierig. Tagelöhner haben oft andere Visionen vom Landleben als Kleinbauern. Und die Parteien der Regierungskoalition verkomplizierten diese Debatten auf ihre Weise, erinnert sich Olivier Delahaye von Iram:
„Die Unidad Popular war ja ein Bündnis aus sieben Parteien. Und es gab etwas ganz Fatales, nämlich Quotenreglungen. Mit anderen Worten, überall wurden Verantwortliche strikt nach dem bei den Wahlen erzielten Stimmenproporz registriert, gewählt und ernannt – auf allen Ebenen, bis hin zur lokalen. Das war wirklich katastrophal.“
Alicia Muñoz dagegen meint, dass die Agrareform mit dem Regierungsantritt der UP eine neue Qualität entwickelt, besonders für die Frauen – und trotz aller Parteiquerelen:
„In der Zeit der Unidad Popular hab ich gelernt was Unterstützung von Außen heißt, vor allem von den Frauen in den Agrarkommissionen der Parteien. Die Agrarkommission der Sozialistischen Partei war für mich sehr wichtig. Deren Agrarwirtinnen, die aufs Land kamen, beteiligten sich auch an Bildungsmaßnahmen. Aber sie wollten die Bäuerinnen natürlich ebenfalls für ihre Parteien gewinnen und ich lernte, was eine politische Partei eigentlich ist. Ich denke, wenn zuerst die Kommunistische Partei gekommen wäre, wäre ich Kommunistin geworden, denn wir waren alle ziemlich naiv. Was uns an den Parteien gefiel war vor allem ihre Haltung, ihre Solidarität.“
Auch Agrarwirt Luis Salinas ist in dieser Zeit viel in den ländlichen Siedlungen unterwegs und versucht zu vermitteln. Gerade die hitzigen Debatten darüber, ob nach den Enteignungen eine individuelle Aufteilung des Landes oder der Aufbau von Genossenschaftsmodelle erfolgen soll, hätte anfangs unnötig Kraft gekostet:
„Im Grunde war das eine recht theoretische Frage. Denn laut Gesetz gab es ohnehin eine dreijährige Übergangszeit zwischen der Enteignung und der Vergabe von Landtiteln. In dieser Zeit sollten die Bauer beginnen selbst das Land zu verwalten. […] Ich glaube, dass alle Techniker der Meinung waren, der beste Weg sei es, dass Land in Form von Genossenschaften zu organisieren. Für die Produktion hätte so ein großflächigerer Maßstab Vorteile gebracht. Aber viele Campesinos waren dagegen, die dachten eher individuell und waren es gewohnt, ein kleines Stück Land zu beackern…“
Um diese endlose Eigentumsdebatte zu beenden, lenkt auch das Agrarministerium – inzwischen geleitet von Jacques Chonchol – den Blick immer wieder auf Weiterbildung und Selbstverwaltung. Kein einfaches Unterfangen, erinnert sich Olivier Delahaye:
„Eine großartige Idee kam von einem Chilenen, Gonzalo Pugas, der zu mir sagte: ‚Schau, nimm die großen Packpapierbögen hier und die Filzstifte. Die Bauern sollen selbst berechnen, wie ihre wirtschaftliche Bilanz im letzten Jahr ausgefallen ist und einen Wirtschaftsplan für das kommende Jahr machen. Sie sollen alle Kosten des Anbaus mit ihren eigenen Daten kalkulieren.‘ Das war außergewöhnlich und zweifellos eine große Entdeckung – für die Bauern ebenso wie für uns. Ein Bauer, mit einem Filzstift in der Hand, fühlte sich gestärkt. Und im Gespräch wussten die Genossen plötzlich, wie sie ihre Projekte ausarbeiten mussten. Das war ein großer Erfolg, Später entstand aus dieser Erfahrung auch ein Handbuch, das Blaue Buch, wenn ich mich recht erinnere.“
Beschleunigte Enteignungen, mangelnde Maschinen, neuer Streit
Ein halbes Jahr nach dem Amtsantritt Allendes hat die Regierung bereits 750.000 Hektar Land für die Agrarreform enteignet. Die Übergabe der Flächen läuft nicht immer ohne Konflikte ab. Mal zerstören die ehemaligen Eigentümer mutwillig Bewässerungsanlagen oder Produktionsmittel, mal sind die früheren Herrenhäuser Ziel von Angriffen, erinnert sich Francisca Rodríguez:
„Es gab viel Hass und Wut. Manchmal rächten sich die Bauern, indem sie das Haus der früheren Eigentümer niederbrannten. Dabei hätte das Haus des Patrons auch ein Gemeindezentrum oder eine Schule werden können. Klar, aber ihre Reaktion nach all den Jahren der Unterwerfung war leidenschaftlich und trieb die Menschen zu solchen Aktionen.“
Oftmals können die Latifundisten einen Teil ihres Landes behalten, wobei sie dann natürlich die fruchtbarsten Flächen wählen und dort alle mobilen Gerätschaften und Maschinen zusammentragen, um sie vor der Verstaatlichung zu schützen. Auch deshalb kann die Agrarreform ihr Ziel einer raschen Produktionssteigerung nicht erfüllen.
Einfach neue Traktoren im Ausland zu kaufen, entpuppt sich als ein doppeltes Problem. Der chilenische Peso verliert 1971 zunehmend an Wert. Außerdem verhindert die US-Regierung von Richard M. Nixon gezielt den Export landwirtschaftlicher Maschinen nach Chile. Der Ausweg heißt Universal-650: ein orangefarbener Traktor made in Rumania, von dem die chilenische Regierung 10.000 Stück bestellt. Doch der Einsatz des unbekannten Gefährts ist nicht einfach, schildert der Landarbeiter Lucho Montoya rückblickend im Buch Viaje a las Estepas:
„Sie kamen, um den Traktor abzuholen, und als sie auf ihrem Feld ankamen, blieb er stehen. Die Treckerfahrer wussten wohl nicht, wie sie ihn Instand halten mussten und hatten vergessen genug Öl nachzufüllen.“
Ebenso schwierig wie die rumänischen Traktoren am Laufen zu halten, ist es die Bauern und Bäuerinnen für eine kollektive Produktionsweise zu gewinnen – für Olivier Delahaye von Iram eines der Haupthindernisse:
„Das Problem in einem kollektiven Unternehmen ist, dass viele Menschen dort nicht unbedingt fanatisch der Arbeit nachgehen, ganz im Gegenteil. Wie bringt man also Menschen dazu, zu arbeiten? Mit ideologischen Argumenten funktioniert das nicht. Am besten lief es dort, wo unter den neu angesiedelten Bauern auch ein früherer Vorarbeiter lebte. Dann war es sehr einfach, der Vorarbeiter legte z.B. fest, 600 Meter Salat pro Stunde zu jäten. Das war eine klare Ansage, die alle verstanden.“
Der Mangel an Maschinen und Motivation wird vielerorts mit Arbeitseinsätzen von Freiwilligen ausgeglichen. Nicht nur aus Chile, auch aus Argentinien und Uruguay kommen in den Sommerferien junge Helfer*innen aufs Land. Francisca Rodríguez ist bis heute begeistert von dieser solidarischen Zusammenarbeit:
“Die größte Unterstützung waren die Studierenden und Freiwilligen die aufs Land kamen. Die Freiwilligenbrigaden. Es wurden auch riesige Bauvorhaben umgesetzt. Ich hab mich erst neulich wieder gefragt, was ist eigentlich aus dem Cabildo-Zug geworden? 2000 junge Leute, Studierende und Dorfbewohner arbeiteten damals einen ganzen Sommer lang am Bau eines Staudamms, der eine bessere Bewässerung garantieren sollte. Auch viele weitere Arbeiten wurden von den jungen Leuten übernommen, die aufs Land kamen: der Bau von Schulen, Alphabetisierungskurse und Ernteeinsätze. Die Freude, das Gefühl dabei zu sein, war unvergleichlich. Wir fühlten uns alle wie Helden, bei dem, was wir taten.“
Den Held*innen schlägt Ende 1971 neuer Widerstand entgegen. Im Parlament hat die Vertiefung der Agrarreform viele politische Gegner, auch in Reihen der Christdemokraten, Die Dc ist längst in der Opposition aktiv. Zudem gibt es erste Anschläge von paramilitärischen Gruppen, um Produktion und Versorgung zu sabotieren. So zerstören Unbekannte bei einem Brandanschlag im November Tausende Tonnen Lebensmittel, die für den Einzelhandel in Valparaiso bestimmt waren.
Am 19. November verkündet die Bewegung der revolutionären Linken (MIR), an ihren Besetzungen für eine „revolutionäre Agrarreform“ festzuhalten. Solidarisch beteiligen sich auch Menschen aus der Stadt, unter ihnen Internationalisten, wie der deutsche Soziologe Klaus Meschkat:
„Ich erinnere mich, dass ich das Leben auf dem Land nie mochte – ich bin ein Stadtmensch. Aber einmal gingen wir nach Temuco, um an einer Aktion des MIR [Bewegung der Revolutionären Linken) teilzunehmen. Wir waren keine Mitglieder, eher Sympathisanten. Ich war mit einem befreundeten Journalisten aus Deutschland unterwegs und gemeinsam machten wir bei der Besetzung einer Hacienda in der Nähe von Temuco mit. Die Nacht verbrachten wir in einem Zelt. Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich die Nacht in einem Zelt verbrachte. Und ich werde diese Erfahrung sicher nicht wiederholen. Aber für die gute Sache, wie die Besetzung einer Hacienda, da macht man eben verrückte Dinge.“
Am 13. Dezember schlagen regionale Gruppen der Unidad Popular und die Bewegung der revolutionären Linken (MIR) im „Abkommen von Linares“ eine gemeinsame Linie für Enteignungen im Agrarsektor vor. Die Idee: die sofortige Auflösung allen privaten Großgrundbesitzes und die entschädigungslose Kollektivierung aller Agrarflächen ab einer Größe von 40 Hektar. Die Kommunistische Partei erklärt den Vorschlag als nichtig.
Noch mehr Brasilianer…
Anfang 1972 beteiligen sich bereits hunderte internationale Unterstützer*innen an der Agrarreform. Da sind zum Beispiel die Agrarwissenschaftler der University of California, die den Handelsboykott ihrer Regierung zu lindern suchen und ihre Erfahrungen mit einem vergleichbaren Klima einbringen. Oder auch Bewässerungsexperten der israelischen Kibuzbewegung, die im Valle de Choapa ein bis heute genutztes Kanalsystem anlegen. Auch ehemalige internationale Kommilitonen von Luis Salinas beteiligen sich:
„Ich weiß zum Beispiel, dass ich Kollegen in der Agrarschule hatte, die aus Ecuador oder Haiti kamen und später auf den Feldern arbeiteten oder auch in landwirtschaftlichen Institutionen in leitenden Positionen.“
Zu diesem Expertenkreis gesellen sich bald mehr und mehr Flüchtende. In Uruguay wird die militante Linke, vor allem die Tupamaru-Guerilla, gezielt verfolgt. In Brasilien nutzen inhaftierte Regimekritiker*innen die Chance, sich ins Ausland abschieben zu lassen – und vor allem die chilenische Regierung zeigt sich bereit Menschen aufzunehmen. Auf dem Land finden viele von ihnen ein neues Zuhause oder gründen gemeinsam mit chilenischen Bauern auf enteigneten Flächen neue Siedlungen. Alicia Muñoz kennt dafür einen besonders Fall, den der Choapinos:
„Die Chapinos waren Bauern aus dem Valle de Choapa. Deshalb tauften sie ihre neue Siedlung Los Chapinos. Und an diesem Ort, einem Dorf mitten im Aufbau, tauchten irgendwann brasilianischen Genossen auf. Die Menschen dort erinnern sich bis heute daran, wie sie auf den Feldern und in der Siedlung mithalfen.“
Um die einzelnen Siedlung und ihre Produktion effektiv und landesweit zu organisieren, schlägt die UP dem Kongress vor, Bauernräte einzuführen. Als die Regierung keine Mehrheit findet, bringt sie diese neuen Vertretungen per Dekret auf den Weg. Doch die praktische Einführung blieb konfliktreich, erinnert sich der frühere Agrarminister Jacques Chonchol anlässlich des 50. Jahrestags der Agrarreform in einem Artikel:
„Jede Bauerngruppe wollte, dass die ersten enteigneten Gutshöfe jene seien, die sie vorgeschlagen hatten […] Darüber hinaus gab es auch den Fall von Grundstücken, die laut Gesetzes nicht enteignet werden konnten. All dies wurde teilweise durch die Festlegung von Prioritäten in den einzelnen geographischen Gebieten gelöst, unter Vermittlung der entsprechenden Bauernräte. Es gab rechtliche Beschränkungen […] und dennoch konnten die Bauernräte in mehr als 150 Gemeinden des Landes eingeführt werden.“
“La revolución chilena en el campo.”
Mapuche und Kollektivierungen
Auffällig ist bei der Umsetzung aller Reformmaßnahmen, dass in der Regierungszeit der UP scheinbar wenig auf die Belange der Mapuche eingegangen wird. Luis Salinas erklärt warum:
„Die Bevölkerung der Mapuche wird nicht einbezogen, weil die Agrarreform nur Bauern kennt. Also werden auch die Mapuche als Bauern subsumiert und nicht als eigenes Volk, nicht als Ethnie. Es geht um Land, nicht um angestammte Territorien. Auf diese Idee kommt niemand, auch wenn uns das heute logisch erscheint. Niemand schenkte den Gemeinden der Mapuche große Bedeutung.“
Das stimmt so nicht ganz. Präsident Allende reagiert kurz nach seinem Amtsantritt schnell auf die Proteste und Vorschläge der Mapuche und bringt ein neues Indigenen-Gesetz auf den Weg. Zudem ordnet er die beschleunigte Enteignung von indigenem Land an. Allein von Dezember 1970 bis März 1971 werden 150.000 Hektar rückübertragen.
In diesen Tagen sucht Agrarminister Chonchol im südchilenischen Temuco Rat bei dem tschechischen Anthropologen Milan Stuchlik, der Seit Ende der 1960er in Mapuche-Gemeinden lebt und forscht. Der rät davon ab, die Mapuche-Siedlungen als Agrar-Kollektive zu reorganisieren, das sie jegliche staatliche Einmischung auf ihrem Land vehement ablehnen würden. Am Ende der Kontroverse steht ein Kompromiss, bei dem indigene Kleinbauern im Rahmen von Pilotprojekte die Vorzüge kollektiven Wirtschaften lernen sollen. Begleitet werden diese Initiativen erneute von Bildungsangeboten und dem staatlichen Ankauf von Handstrickwaren in indigenen Gemeinden. Die deutsche Pädagogin, Ilse Schimpf-Herken, die in dieser Zeit im Süden Chile arbeitet, sieht diese Vorgehen rückblickend ambivalent:
„Also es gab dann schon auch eine kommunikative Annäherung. Aber ich bin nicht kritisch genug gewesen, um mich zu fragen was bedeutet eigentlich Analphabetisierung auf Spanisch? Was bedeutet es, die indigenen Frauen so in die Marktwirtschaft zu integrieren? Was macht das mit ihrem Leben, ihrer kulturellen Rolle? An all das habe ich damals nicht gedacht. Wir waren so sicher dass der Sozialismus der richtige Weg ist.“
Zweifel am Gelingen der Agrarrefom kommen auch Milan Stuchlik und seine Partnerin Jarka, als sie 1972 einige enteignete Latifundien im Süden Chiles besuchen, zu denen die Unterstützung der staatlichen Landwirtschaftsinstitutionen nicht vordringt. Jarka Stuchlik schreibt:
„Während dieser Reisen stellten wir fest, dass in den Latifundien, in denen die Reform bereits angewendet wurde, absolutes Chaos herrschte. Niemand hat geerntet, niemand hat gesät, niemand hat gepflügt. Statt zu arbeiten, waren alle auf dem Kriegspfad. Die Bauern, die davon überzeugt waren, dass sie jeden Augenblick von ihren ehemaligen Herren angegriffen werden würden, patrouillierten Tag und Nacht mit dem Gewehr. Alle waren überzeugt, dass eine Hungersnot vor der Tür steht“.
Kampf um die Versorgung
Seit 1972 tobt in Chile ein offener Kampf um die Produktion – und um die Köpfe. So erklärt Am 11. März die nationale Vertretung der chilenischen Großgrundbesitzer, dass das Land 40 Prozent des Weizenverbrauchs durch Importe decken müsse. Die Situation auf dem Land sei katastrophal, die Erzeuger in einer instabilen Situation, „angesichts der Bedrohungen und illegalen Besetzungen der CORA, die einen dauerhaften Verstoß gegen Personen und Gesetze darstellen“. Die Regierung geht nicht direkt auf die Kritik ein, bestätigt jedoch, dass Chile mit einer Inflation zu kämpfen habe.
Auch Olivier Delahaye von Iram bekommt mit, wie sich die Versorgungslage langsam verschlechtert.
„Es fehlte doch vieles im Alltag, aber es war nicht so katastrophal wie später in Venezuela, nicht zu vergleichen. Es war oft so: Du sahst auf der Straße eine Menschenschlange, hieltst an und fragtest, wofür die Menschen anstanden, und oft stellte mensch sich einfach dazu.“
Auch wenn niemand hungern muss, sorgen solche Situation für Unmut. Handelsboykotte und Sabotage hin oder her, es gab auch selbst gemachte Probleme. Rückblickend empfindet Francisca Rodríguez es als großen Fehler, nicht das spezifische Wissen der Bäuerinnen stärker für den Aufbau selbstverwalteter Strukturen genutzt zu haben.
„Das einzige selbständige Produktionssystem auf dem Land, war die Bestellung eines kleinen Felds, dass vor allem alten Menschen für den Eigenanbau zur Verfügung gestellt wurde. Und dieses Stück Land wurde meist Frauen und Kindern bearbeitet. Mit anderen Worten, die Fraun hatten viel mehr Klarheit über den Produktionsprozess, um die Familie zu ernähren, als die Bauern, die nur auf Anweisung hin arbeiteten. Es gab also Unterschiede und es war ein Fehler der Agrarrefom uns zu ignorieren. Frauen wurden nicht berücksichtigt.”
Frauen hatten auch nicht die Chance vollwertige Mitglieder in einer Agrarkooperative zu werden. Der US-Agrarexperte Solon Barraclough macht dafür weniger die regierende UP sondern eher die machistischen Strukturen auf dem Land verantwortlich. In einem Text beschreibt er ein Treffen zwischen einer Regierungsdelegation und einigen Bauern, das letztere mit den Worten beendeten:
„Wir haben immer für Don Salvador (Allende) gestimmt, aber wenn er darauf besteht, dass unsere Frauen und Töchter ihre Hausarbeit und Kinder vernachlässigen, um uns dabei zu helfen, unsere Genossenschaft zu führen, sollte er in Zukunft nicht auf uns zählen.”
Der gesellschaftlicher Wandel braucht Zeit und die hat die Unidad Popular nicht. Ständig gilt es neue Krisen zu meistern und zu improvisieren: Versorgungskommissionen, Arbeitseinsätze, Importe aus anderen sozialistischen Ländern. Langfristig soll die internationale Kooperation verbessert werden. Noch am 4. September 1973 werden Dutzende junge Bauern und Bäuerinnen zur Ausbildung an eine sowjetische Agrarschule entsandt.
Bis Mitte 1973 hatte die regierende UP 6,6 Millionen Hektar Land enteignet – der Grußgrundbesitz war in Chile nahezu Geschichte, sagt Luis Salinas:
„Der größte Teil der Agrarflächen wurde im letzten Jahr von Allendes Regierung enteignet. Aus diesem Grund war es für die Rechte sehr leicht, nach dem Putsch auf die alten Pfade zurückzukehren, denn der Prozess der Neuorganisation war nicht abgeschlossen, auch wenn es viele Fortschritte gab.“
Putsch, Exil und Gegenagrareform
Übers Radio erfährt auch die chilenische Landbevölkerung schnell, dass am 11. September 1973 ein Militärputsch die zivile Regierung der Unidad Popular gestürzt hat. Gezielt greifen die neuen Machthaber politisch aktive Bauern und Funktionäre der Agrarreform an. Luis Salinas, der gerade ist mit einem Gewerkschaftskomitee unterwegs und inspizierte Kooperativen als er verhaftet wird.
“Sie schoren mir die Haare ab. Nach der Verhaftung wurden wir bis in die Nacht hinein verhört. Schließlich wurden die Bauern freigelassen und die beiden Funktionäre und der Fahrer ins Gefängnis gesteckt und in Isolationshaft gehalten. Ich war zehn Tage lang dort. Dann wurde ich zu einem anderen Regiment gebracht, um dort unter Folter weiter verhört zu werden.”
Die französischen Agrarwirte von Iram kommen glimpflicher davon. Doch auch sie bekommen schnell zu spüren, dass bei der Landwirtschaftbehörde ICIRA nach dem Putsch ein anderer Wind weht, erzählt Olivier Delahaye:
„Der neue Direktor von ICIRA, ein junger 24-jähriger Agronom, kam in Begleitung von vier Soldaten auf Arbeit. Bald schickte er einen Brief an alle ausländischen Experten, in dem es schlicht hieß: ‚Sie sind entlassen‘. Was für ein Kündigungsschreiben! Und wir dachten, was tun wir jetzt? Also gehen wir in die Botschaft, zum Glück gab es einen Kulturberater, mit dem wir uns sehr gut verstanden. Dem sagten wir: ‚Hier sind wir und wir würden gerne hier bleiben, um Menschen bei der Flucht zu helfen. Aber wir haben diesen Brief hier bekommen.‘ Und er sagte: ‚Gut, dann müssen wir bluffen.‘ Und dann setzte er einen Brief mit dem gleichen Datum auf in dem stand, der erste Brief sei nicht mehr gültig. Und so blieben wir und verhalfen, überall wo wir konnten, Menschen zu politischem Asyl. Wir blieben drei Monate.“
Nachdem die Putschisten anfängliche Pläne eines punktuellen Bombardements von Agrarbetrieben verwerfen, verfolgt die militärisch-zivile Diktatur in den folgenden 17 Jahren um so konsequenter eine langwährende Gegenagrarreform. Ehemalige Führungskräfte werden verfolgt, ermordet oder ins Exil gezwungen, Ein Drittel der verstaatlichte Flächen wird an die latifundistas rückübertragen, ein anderes Drittel an Investoren verkauft – der Grundstein Chiles heutiger exportorientierter Monokulturen. Der Rest der Flächen wird unter den Campesino-Familien aufgeteilt, um sich deren stille Unterstützung zu erkaufen. Ein Ausnahme bilden die den Mapuche zugesprochenen Ländereien, die ihnen entschädigungslos und unter Einsatz von Gewalt fast vollständig wieder entrissen worden.
Es dauert eine Zeit, bis sich ein Teil der Landbevölkerung erneut organisiert. Die gewerkschaftliche Arbeit erfolgt nun wieder im Geheimen, wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Entscheidenden Anteil daran haben Frauen wie Alicia Munoz und Francisca Rodríguez:
„Ich habe ziemlich lange, also ein paar Jahre klandestine Gewerkschaftsarbeit gemacht, auch in der Organisation. Wir haben viel organisiert, so auch den ersten Hungerstreik der Frauen. Viele Dinge, die wir scherzhaft ‚Heldentaten‘ nannten. Vom Gefängnis aus bastelten die compañeros sogar Medaillen für die Frauen.“
Um internationale Unterstützer wie Solon Barraclough fernzuhalten, bezichtigt die Militärjunta die einstigen leitenden Mitarbeiten nachträglich der Unterstützung bewaffneter Gruppen und marxistischer Propagandarbeit gegen die chilenischen Streitkräfte. Haltlose Vorwürfe, die auch dazu genutzt werden Tonnen an Bildungsmaterial zu zerstören. Nichts soll bleiben von diesem gesellschaftlichen Wandel auf dem Land.
Dennoch wird die chilenische Agrarreform außerhalb des Landes fortgeschrieben, vor allem in sozialistischen und blockfreien Staaten Afrikas. Dort arbeiten chilenische Agronomen als Berater für Regierungen oder als Experten für NGOs und internationale Organisationen. Auch die Aktivitäten von Iram in Algerien werden 12 Jahre lange von Daniel Rey, einem ehemaligen Cora-Mitarbeiter koordiniert. Und der war nicht er einzige, erinnert sich der damalige Leiter von Iram, Dominique Genty:
„Mein Kontakt zu Chile entstand in der Zeit nach dem Putsch. Es gab damals viele Chilenen, denen wir halfen, nach Frankreich auszureisen. Außerdem hatten wir einen Einsatz in Algerien, bei dem es um landwirtschaftliche Beratung ging. In unserem Team vor Ort gab es acht Chilenen und einem Franzosen. Wir haben recht gut zusammengearbeitet, mit einigen Schwierigkeiten zuweilen, aber insgesamt lief es gut. Das war auch eine Form Chile zu unterstützen.“
Agrarreform Gestern und Heute
Heute, mehr als 50 Jahre nach Beginn der Blumentopfreform ist die chilenische Landwirtschaft weltweit in aller Munde: Wein, Heidelbeeren, Avacados – alles hecho en Chile. Die dörflichen Strukturen sind vielerorts verschwunden. Viele kleine Parzellen wurden in den 1990ern aufgekauft und sind heute Teil einer agroindustriellen grünen Wüste. Auf dem Land der Mapuche stehen heute die Waldplantagen einer Handvoll Unternehmerfamilien, die sich in den Jahren der Diktatur zu arrangieren wussten. Erntearbeiter*innen aus Peru, Haiti und Bolivien schuften als prekäre Saisonkräfte und kleinbäuerliche Familien kämpfen täglich ums Überleben und schimpfen auf importierte Kartoffeln aus Bulgarien.
Was also ist von der Agrarreform geblieben? Für die Kleinbauern sei die Situation wieder teils wieder wie in den 1950er Jahren, findet Luis Salinas:
„Die landwirtschaftliche Produktionsweise hat sich gewandelt, aber für die Landbevölkerung hat sich nicht viel verändert. Die alten Zeiten sind zurück. Natürlich gibt es ein paar Verbesserungen, alte Leute haben jetzt Fahrräder oder einen Lastwagen, aber die Lage ist immer noch sehr prekär, sehr schwierig für sie. Das Problem bleiben die geringen Preise, die sie mit dem Verkauf ihrer Produkte erzielen können.“
Doch die Regierenden Chiles vertrauen seit dem Ende der Diktatur rechts wie links der unsichtbaren Hand der Märkte, anstatt die landwirtschaftliche Entwicklung im Interesse der Bevölkerung aktiv mitzugestalten. Solon Barraclough, der nach seinem Wirken in Chile noch viele Jahre weltweit für eine gerechte Agrarpolitik kämpfte kritisierte dieses neoliberale Dogma 1999 sehr treffend:
„Der Beweis steht aus, dass wirksame Landreformen aus einer ‚marktfreundlichen‘ Politik allein resultieren könnten. Die Übertragung von Landtiteln und die Erleichterung von Immobilientransaktionen zwischen willigen Verkäufern und willigen Käufern verändern nicht die Machtverhältnisse zugunsten der armen Landbevölkerung. In vielen Situationen dürfte eine solche Politik die herrschenden Agrarstrukturen sogar stärken, indem sie Großgrundbesitzern und Spekulanten zusätzlichen Rechtsschutz bietet, während die Verhandlungsmacht der Armen unverändert bleibt oder geschmälert wird“.
Zudem gefährde die heute Exportorientierung die Ernährungssicherheit der Bevölkerung, warnt der französische Agronom Yves-Roger Marchant der Ende der 1960er mit Iram ebenfalls einige Jahre in Chile war:
„Im Jahr 2008 gab es in etwa 30 Ländern der Welt politische Unruhen, weil plötzlich der Preis für Reis und Weizen innerhalb weniger Monate um 50 oder 100 Prozent nach oben sprang. Länder, die zu sehr von Nahrungsmittelimporten abhängig sind, können so in eine extrem gefährliche Situation geraten. Also, ja, Ernährungssouveränität ist ein Konzept, das weiterentwickelt werden muss. Und deshalb ist für mich der Import von Trauben oder Äpfeln aus Chile, auch wenn ich Chile sehr mag, ein Irrweg. Es macht einfach in keiner Hinsicht Sinn.“
Ähnlich sehen das Alicia Muñoz und Francisca Rodriquez. Gemeinsam mit weiteren Frauen organisieren sie sich seit Jahren im landesweiten Verein von Campesinas und Indigenas, Anamuri. Ihr Anliegen ist klar. Chile braucht eine neue Agrarreform, sagt Muñoz:
„Wir werden nicht aufgeben. Ganz im Gegenteil. Vielleicht ist es eine Utopien, wie manche sagen. Vielleicht sind wir verrückt, aber dennoch wird der lateinamerikanische und weltweite Kampf weitergehen. Ich halte das für eine ungeheure Hoffnung,“
Damit diese Utopie Wirklichkeit wird, betreibt Anamuri eine feministische Agrarschule, organisiert Treffen und setzt sich ein für den Aufbau von Bio-Kooperativen, die für die lokale Bevölkerung produzieren statt für den Export. Es sind kleine Schritte aber Francisca Rodríguez ist sich sicher: es ist der richtige Weg.
„Jede unserer Aktionen ist ein Ausbildungsprozess. Jede noch so kleine Aktivität ist ein Entstehungsprozess. Ich glaube, wir haben viel von den Brasilianern gelernt. Wir haben eine Mystik der Organisation aufgebaut, die in all unserer Debatten präsent ist. Wir hüten die Symbole des Lebens. Die sind wichtig, um unseren Planten zu erhalten aber auch um Politik zu machen. Wir sind antikapitalistisch, wir sind antipatriarchalisch und wir sind antiimperialistisch.“
Wie wichtig eine wirkliche Alternative ist, zeigt ein Blick auf die Arbeitszeiten von Saisonkräften auf den chilenischen Latifundien des 21. Jahrhunderts. Die gehören heute zum Beispiel ehemaligen Ministern wie Gabriel Ruiz-Tagle. Vor allem Frauen ernten dort wochenlang für den Mindestlohn Trauben, oft mehr als 16 Stunden am Tag, “von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang…“