Als Chile singen lernte Lieder, Kino und Wandmalereien der Unidad Popular

Auf dem Flohmarkt Bío-Bío, Chile 2019

Chile im April 2019. Einen knappen Monat sind wir nun schon hier. Der 1. Mai steht an. Sicher wird es wieder einige Demos geben. Wir dagegen bereiten fieberhaft ein partizipatives Theaterstück vor, das in der Hafenstadt Valparaiso aufgeführt werden soll. Auf der Bühne mitwirken wird auch der Wandmaler Alejandro „Mono“ Gonzalez. Wer das ist? Geduld, das kommt gleich.

 

Viel spannender ist zunächst, wie wir ihn gefunden haben. Dazu mussten wir in die verwinkelten Gänge des Flohmarkts Bio-Bio eindringen, in Franklin, einem alten Stadtteil Santiagos. Hier hat „El Mono“ seine Werkstatt und hier empfängt er jedes Wochenende Besucher*innen. Als wir ankommen, hängt er gerade einige seiner Siebdrucke auf. Auf Tischen ausgebreitet liegen weitere Grafiken. Leute bleiben stehen, sagen Hallo oder stellen Fragen.

 

 

Die Bilder um uns herum werden in Chile als arte popular bezeichnet, ein schwer zu übersetzender Begriff, der immer situationsgebunden ist. Hier chargiert er zwischen Volkskunst, Agit-Prop und street art und katapultiert uns zurück in die Zeit der Unidad Popular. Bereits in den 1960er Jahren entsteht auf den Straßen Chiles eine ganz eigene künstlerische Ausdrucksform, die während der Regierungszeit Salvador Allendes (1970-1773) richtig – nun ja – populär wird. Die meist kollektiven Werke kreisen um das Leben der armen und urbanen Bevölkerung. Diese Kunst hat eine klare Aufgabe: die Ungerechtigkeiten anzuprangern und für eine andere Welt zu kämpfen. Zu dieser Schule gehört auch der muralista den wir hier vor uns haben. Sein Markenzeichen sind dicke schwarze Linien, klare Farben und sozialkritische Inhalte. Mono Gonzalez nimmt uns mit, in jene Tage, an denen alles begann:

 

 

 

„Wir waren Studenten, Aktivisten. Wir gingen gingen auf die Straße, um Propaganda zu machen. Ich arbeitete in   studentischen Organisationen, aber auch in Kultur- und Propagandakommissionen. Ich war immer der Kultur und politischen Propaganda verbunden. Denn auch ich bin ein Straßenmensch. Ich kenne die Straße, und bis heute bin ich gern auf der Straße und arbeite in öffentlichen Räumen, so wie hier im Franklin-Viertel. Aus diesem Grund gibt es hier auch so viele Wandmalereien. Wir sperren uns nicht ein, sondern besetzen lieber den Raum, ein zugleich öffentlicher und intimer Ort. Die Straße ist immer öffentlich und deshalb gibt es hier auch immer Kontakt mit einem Publikum. Von klein auf war das unsere Schule. Das was ihr heute hier seht, ist das Ergebnis dieser Kindheit und Jugend.“

 

Wir sehen uns in Valparaiso…

 

 

Von Violeta Parra zur Nueva Canción Chilena

In den 1930er und 1940er Jahren gibt aus auf den Straßen Chiles ein sehr beliebtes Medium, die Lira Popular. Das sind Bilder, die auf Schnürchen zwischen zwei Bäumen aufgehängt werden. Und begleitet werden diese großformatigen Comic-Strips von der Stimme eines Dichters, der die Empfindungen der Menschen teilte. Auch in der Musik widmen sich bekannte Interpret*innen und Komponist*innen seit Ende der 1950er Jahre dem Kampf für Gleichberechtigung und gegen die Armut. Zu ihnen gehören Violeta Parra, Roberto Parra, Rolando Alarcón, Héctor Pavez, die Gruppe Cuncumén und viele andere.

 

1966 veröffentlicht Violeta Parra ihr letztes Album Las última composiciones, auf dem einige ihrer bekanntesten Lieder zu finden sind, darunter Gracias a la vida und Volver a los 17, aber auch Stücke wie El Rin del Angelito, die soziale Missstände anprangern. Der Historiker Mario Garcés, der vor allem zur sozialen Geschichte der chilenischen Städte forscht, erklärt:

 

 

„Die chilenische Folklore, oder das was heute als Nueva Canción Chilena (Neuer Chilenischer Gesang) bekannt ist, entstand in den 1960er Jahren. Das sind sehr ausdrucksstarke Stücke, sie erzählen von der verarmten Bevölkerung, aber zugleich auch von Menschen, die sich organisieren. Sie fordern Gerechtigkeit und das kann man in Violetas Liedern hören und auch in den Liedern Victor Jaras. Wenn man über Violetas Lieder nachdenkt, gibt es da einige, die eine dramatische, gelebte Realität offenbaren, wie zum Beispiel El Rin del Angelito. Der Hintergrund ist, dass in Chile bis in die 1950er Jahre jedes Jahr viele Kinder starben. Chile hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die höchste Kindersterblichkeit. Und so entstand in der Populärkultur ein Abschiedsritual für diese „kleinen Engel“. Damit waren die Kindern gemeint, die noch nicht gesündigt hatten und frei von jeder Schuld waren. Davon singt Violeta. Aber sie singt auch Arriba Quemando el Sol und darüber, wie arme Frauen Wasser holen müssen, um Kleider zu waschen und wie im Norden die Arbeiter ausgebeutet werden. Oder im Lied Qué dirá el santo padre, da geht es darum, dass die soziale Ungerechtigkeit nicht im Einklang mit dem Christentum steht und auch nicht mit dem, was der Papst sagt. Violeta behandelt all diese Themen und Victor [Jara] in gewisser Weise auch. Victor singt für die Bevölkerung. Er hat eine berühmte Platte aufgenommen, die dem Armenviertl Herminda de la Victoria gewidmet ist und dem kleinen Luchín – und dem Leben der Armen.“

 

 

1967, ein paar Monate nach der Veröffentlichung ihres letzten Albums nimmt sich Violeta Parra in ihrem Theaterzelt das Leben. Ihr Tod löst einen großen Schock aus. Denn zu diesem Zeitpunkt ist Violetas Einfluss auf das Genre der Neo-Folklore bereits sehr groß. Ihre Lieder stehen in direkter Verbindung mit den sozialen Kämpfen. Persönlichkeiten wie Víctor Jara, Inti- Illimani, Patricio Manns, Isabel und Ángel Parra, Quilapayún und die Amerindios treten ihr Erbe an, mit eigenen Werken, die ebenfalls einen kritischen Geist wach halten. Sie klagen die tagtägliche Ausbeutung an und verfolgen das Ziel „den Menschen“ aus der Unwissenheit zu befreien, der er unterworfen ist. Dafür müsse das Land auch kulturell unabhängig werden. Und so schwingt Mitte der 1960er Jahre in der lateinamerikanischen Musik immer eine soziale Realität einer gemeinsamen Geschichte und Zukunft mit.

 

Sänger und Sängerinnen wie Atahualpa Yupanqui, Mercedes Sosa, César Isella, Daniel Viglietti, die Kubaner Silvio Rodríguez, Pablo Milanés und Noel Nicola, der Brasilianer Chico Buarque und viele andere kommen nach Chile, um in der Peña de los Parra, einer von Violeta Parra 1965 gegründeten Musikhalle, aufzutreten. Der neue chilenische Gesang umfasst Rhythmen und Genres wie die Zamba, die Guajira, den Bolero und eine endlose Anzahl eigener lateinamerikanischer Stile. In ihnen hallt viel Sozialkritik wieder. Die kubanische Revolution und der Widerstand gegen die militärische Intervention der USA in Vietnam werden besungen, oder auch mythische Figuren wie Ernesto „Che“ Guevara und Joaquin Murieta. So wird die Musik zur kulturellen Referenz der chilenischen Linken.

Erstes Festival des Nueva Canción Chilena: das Revolutionslied

Im Juli 1969 findet an der Katholischen Universität Chiles das erste Festival des Neuen Chilenischen Liedes statt, das im ganzen Land schnell ein fester Begriff wird. Das von Ricardo García, einem bekannten Radiomoderator geleitete Festival, ist ein großer Erfolg. Gleich zwei erste Preise werden vergeben, einen für La chilenera von Richard Rojas und einer für Plegaria a un labrador von Víctor Jara. Letzteres Lied würde im  folgenden Jahr auf dem Album Pongo en tus manos abiertas beim Plattenlabel DICAP (Discoteca del cantar popular) des Kommunistischen Jugendverbands erscheinen. Bei der Aufnahme wird Víctor Jara begleitet von Quilapayún, einer der damals bekanntesten „revolutionären Musikgruppen“.

 

 

 

Quilapayún (auf Mapudungun: drei Bärte) machen  sich in der linken Musikszene mit der Veröffentlichung ihres Albums X Vietnam bereits im Jahr 1968 einen Namen. 1969 folgt Basta, erneut eine musikalische Anklage, die unter der sorgfältigen künstlerischen Leitung von Víctor Jara entsteht. In beiden Werken nimmt die Gruppe eine entschiedene anti-imperialistische Position ein:  „Genug mit der Yankee-Herrschaft“.

 

 

Viele junge Chilenen und Chileninnen folgen damals diesem Sound, gegen auf auf die Straße, besetzen öffentliche Räume. Silvio Tendler, ein junger brasilianischer Filmemacher, der Anfang der 1970er Jahre im chilenischen Exil lebt, bekommt all das aus nächster Nähe mit:

 

 

 

„Ich kam in Chile zu einem Zeitpunkt an, an dem viel Gemeinsinn, viel Gemeinschaft, viel Geselligkeit herrschte. Zu diesem Zeitpunkt wurde gerade die Kantate Santa Maria de Iquique von Sergio Ortega [eigentlich von Luis Advis] uraufgeführt. Bald schon lernte ich auch die Musik von Violeta Parra und Victor Jara kennen. Ich freundete mich mit ein paar Sängern der Gruppe Amerindios an. Später lebte ich auch mit im Haus von einem von ihnen,  bei Julio Numhauser. Das waren Momente großer Brüderlichkeit. Viele Verbrüderung und Freude, viel Empanadas viel Wein, colo de mono [Likör], Chiromoya- und Pfirsichbowle, mit Weißwein gefüllte Melone. So was von lecker. Es war ein erfüllter Moment. Ich habe stets versucht aus dem Mittelklasse-Ghetto rauszukommen und mich in die chilenische Realität zu integrieren. So hab ich auch in den Ferienlagern am Strand mitgeholfen, bei er sogenannten Operation Graßhüpfer. Das war eine sehr glückliche Zeit.

 

Die Kantate von Santa María de Iquique: Luis Advis und der Stil Quilapayúns

Der Komponist Luis Advis besucht 1968  die Stadt Iquique im Norden Chiles. Inspiriert von den Leiden und Kämpfen des Bergbauproletariats in den Salpeterbergwerken zu Beginn des 20. Jahrhunderts schreibt er eine Reihe von Gedichten. Die Texte dienen als Grundlage für eine lange experimentelle Komposition, die Elemente klassischer Musik mit Folklore und zeitgenössischen Lieder vermischt. Das Werk ist eine soziale Anklage. Entsprechend der Gattung wird es als „Kantate“ benannt: Cantata Popular Santa María de Iquique.

 

 

Im Laufe des Jahres 1969 beginnt Advis gemeinsam mit der Gruppe Quilapayún an einer musikalischen Fassung zu arbeiten. Auch eine Reihe von Schauspieler*innen beteiligen sich. Nach langen Proben wird das Stück im Juli 1970 beim Label DICAP aufgenommen. Die öffentliche Premiere findet im Stadion von Chile – dem heutigen Victor-Jara-Stadion – statt, im Rahmen des 2. Festivals des Neuen Chilenischen Liedes. Die musikalische Interpretation übernimmt Quilapayún, als Erzähler leiht der Schauspielers Marcelo Romo seine Stimme.

 

 

Die Kantate dient auch der Regierung der Unidad Popular als Referenz für die Schaffung einer Populärkultur.

Populäres Konzert, programmatische Hymne

>Ein weiterer junger Komponist, der die gängigen Kanons durchbricht, ist Sergio Ortega. Er bringt Konzertmusik einem diversen und massiven Publikum näher. Ortega ist der musikalische Autor des Wahlkampf-Songs der Unidad Popular: Venceremos. Das Programm des Kandidaten Salvador Allende dreht sich nicht nur um Forderungen nach einer neuen Verfassung, der Bildung einer Volkskammer, der Verstaatlichung  großer Bergbaubetriebe und von Teilen der verarbeitenden Industrie. Nein, Allende sieht auch die Notwendigkeit, eine neue Kultur zu schaffen, welche die bürgerlichen Werte und den Kapitalismus als gesellschaftliche Grundlagen überwinden soll. Die kommenden Veränderungen bräuchten Menschen mit einem sozialen Bewusstsein, solidarisch und gebildet, auch um Macht auszuüben – und um zu diese Macht zu verteidigen.

 

 

So verwundert es nicht, dass bereits kurz nach dem Wahlsieg 1970 ein Nationales Instituts für Kunst und Kultur geschaffen wird und die künstlerische Ausbildung an Schulen in ganz Chile  vorangebracht wird. Auf diese Weise versucht der Staat, die Bevölkerung stärker als bisher in intellektuelle und künstlerische Tätigkeiten einzubeziehen.

 

Miriam Makeba grüßt Präsident Allende:

1972 findet wie jedes Jahr das Internationale Musikfestival in Viña del Mar statt. Angesichts der zunehmend polarisierten politischen Lage ist es eine wichtiges Event. Joan Manuel Serrat, Los Iracundos, Piero, Víctor Heredia, Peter Yarrow und andere kommen, um in Chile zu singen. Am Ende des Festivals kommt es zu einem Eklat. Zwischen Buhrufen, Pfiffen, Applaus und Jubel interpretiert die bekannte südafrikanische Sängerin Miriam Makeba ihren Hit Pata-Pata. Im Festivalsaal und im Fernsehen hört ganz Chile ihre offene Unterstützung für Präsident Allende, als sie ruft: „Es lebe die chilenische Revolution!“

 

 

Die Revolution braucht eine neue Kultur. Und diese Kultur soll nicht per Gesetz verordnet werden, sondern aus dem ständigen Kampf für das Kollektiv entstehen – und aus einer Kritik am Individualismus und bestehenden Werten. Doch wie könnte eines solche Kultur ihren Platz in einem revolutionären Prozess finden? Bekannt waren eher Erfahrungen, bei denen von oben herab kulturelle Modell konzipiert und in die Wirklichkeit der Menschen verpflanzt wurden. Nun dachten die Kulturschaffenden erstmals darüber nach, ihr eigenes Schaffen in einen produktiven Dialog mit der Populärkultur zu stellen. Die Impulse sollten auch von unten kommen und die Kultur nachhaltig verändern. Faride Zerán, Reporterin der 1972 gegründeten linken Zeitschrift Chile Hoy, erinnert sich:

 

 

„Ich beschloss, in die Armenviertel zu gehen. Ich ging zu Landbesetzungen. Ich ging in selbstverwaltete Fabriken, sprach mit Arbeitern und Gewerkschaftern. Ich ging zu den Demonstrationen und berichtete darüber, wie die Stimmung an der Basis war, also jener Basis natürlich, die Allende unterstützte. Ich erinnere mich, als Patricio Guzmán mich in der Redaktion von Chile Hoy aufsuchte und mich einlud, ihn bei den Dreharbeiten an dem Dokumentarfilm La Batalla de Chile zu begleiten. Auf eine gewisse Art und Weise war ich ein Freibrief, um mit den Industriearbeitern zu sprechen, die mich schon kannten. Ich war bekannt, weil sie meine Artikel in Chile Hoy lasen, auch meine Kolumnen und Interviews, mit denen ich den politischen Prozess in Chile begleitete.“

Kino als Mittel der Befreiung

Wenige Monate nachdem Allende sein Amt als Präsident antritt, übernimmt der junge und engagierte Filmemacher Miguel Littin die Leitung der staatliche Filmgesellschaft Chile Films. Aber Littins Geschichte – und die eines Kinos, das sich seiner eigenen Realität stellt und dem sozialen Wandel verschreibt – begann bereits einige Jahre zuvor.

 

 

1967 findet in Viña del Mar das erste Festival des neuen lateinamerikanischen Kinos statt. Es wird begleitet von einem Treffen lateinamerikanischer Filmemacher, darunter Santiago Álvarez aus Kuba, Glauber Rocha aus Brasilien, der Bolivianer Jorge Sanjinés und die Argentinier Frenando Birri und Jorge Calderón. 1969 kommt es zu einer Neuauflage, die wichtigste und zugleich die letzte. Den kritischen Ton gibt der Kubaner Alfredo Guevara vom Kubanischen Institut für Kunst- und Kinoindustrie (ICAIC) vor. So werden beim zweiten Festival Filme von Rocha, Santiago Álvarez, Humberto Solás, Mario Handler, Eliseo Subiela, Raymundo Gleyzer und Sanjinés präsentiert. Gezeigt wird auch La Hora de los Hornos (1968), ein Film von Fernando Solanas und Octavio Getino, der die neokoloniale Gewalt anprangerte und eine baldige Befreiung verkündet. Direkt beteiligt an diesem engagierten Kino ist auch der chilenische Tontechniker Leonardo Céspedes:

 

 

 

„1969 trat ich der Filmabteilung der Universität von Chile bei. Experimentelles Kino wurde das damals genannt. Meine Aufgaben waren eher technischer Natur aber ich war in engem Kontakt mit den dort arbeitenden Personen, einer kleinen Gruppe von Leuten, darunter auch Pedro Chaskel, der die Experimentalfilmabteilung leitete. Dann war da noch der Kamaramann Héctor Ríos, Fernando Bellet, ebenfalls ein ausgezeichneter Kameramann, Luis Cornejo, der die Produktion leitete und Álvaro Ramírez, ein Dokumentarfilmer, durch den ich den Einstieg ins Experimentalkino schaffte. Wir kannten uns schon lange vorher und so begann ich Anfang 1969 dort zu arbeiten. Das ist jetzt 50 Jahre her. Und wenn ich mich 50 Jahre zurückerinnere, dann fällt mir auch wieder ein, dass im selben Jahr, Ende Oktober, das zweite Festival des neuen lateinamerikanischen Kinos in Viña del Mar stattfand, Diese Veranstaltung wurde im Wesentlichen vom Filmclub Viña del Mar unter Leitung von Aldo Francia und von der Filmschule der Universität von Chile in Viña del Mar organisiert. Dieses internationale Festival war eigentlich schon das zweite, das erste fand 1967 statt. Es war wirklich ein außergewöhnliches Ereignis.

 

In Wahrheit war die politische Lage schon extrem angespannt und mitten hinein platzte dann dieses internationale Filmfestival. Es zog unheimlich viele Menschen an. Gerechnet wurde mit 50 Gäste aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern aber am Ende kamen fast 300. Die Organisation des Festivals, das ja eine Woche lang dauerte, war eine große Herausforderung. Es gab Probleme bei der Unterbringung, der Verpflegung und den Finanzen, um all die Gäste und Leute, die ankamen, zu versorgen. Die Mehrheit waren junge Leute, von den Filmschulen verschiedener lateinamerikanischer Länder. Es waren Vertreter aus elf lateinamerikanischen Ländern da, von Mexiko bis zu unseren argentinischen Brüdern, von Brasilien bis nach Bolivien. Es wurden zwei Kurzfilme von Sanjinés gezeigt, einem der großen lateinamerikanischen Filmemacher. Dieses Festival brachte viele Leute zusammen und zeigte, dass Lateinamerika wirklich sein eigenes Kino machte.“

 

 

Chile war mit drei Filmen vertreten: Valparaíso mi amor, von Aldo Francia, Tres tristes tigres von Raúl Ruiz und El chacal de Nahueltoro von Miguel Littin. Die drei Filmemachern machten schon damals großen Eindruck und werden heute dem sogenannten Neuen Chilenischen Kino zugerechnet, zu dem auch Aldo Francia, Helvio Soto, Valeria Sarmiento, Álvaro Ramírez, Pedro Chaskel und andere gehören.

 

 

Obwohl die Unidad Popular anfangs gar keine politische Linie und keinen Plan für Kinoproduktionen und Filmindustrie hat, bilden sich schnell Filmemacherkollektive und Filmclubs. Auch die im Entstehen begriffenen Filmschulen werden schnell Teil einer von unten wachsenden Bewegung. Ausdruck findet diese Bewegung besonders in Miguel Littins Manifest der Filmemacher der Unidad Popular. Darin heißt es unter anderem: „Noch bevor wir Filmemacher sind, sind wir Männer, die den politischen und sozialen Phänomenen unseres Volkes und seiner großen Aufgabe verpflichtet sind: dem Aufbau des Sozialismus,“ und weiter: „Wir verstehen die revolutionäre Kunst als das, was aus der gemeinsamen Verwirklichung des Künstlers und des Volkes entsteht, die durch ein gemeinsames Ziel vereint sind: die Befreiung. Der eine, das Volk, als Motivator des Handelns und letztlich als Schöpfer, und der andere, der Filmemacher, als sein Kommunikationsinstrument.“

 

 

Das Manifest – angefochten von Ruiz und anderen – wird von der Mehrheit der chilenischen Filmemacher*innen unterzeichnet, ebenso von Organisationen wie der Experimentalfilmabteilung der Universität von Chile und der Fakultät für Kunst und Kommunikation  der Katholischen Universität. Es ist eine klare Geste, ein Bekenntnis für ein Kino im Dienste des Sozialismus und der Unabhängigkeit, eines Kinos, das nicht planetarisch, sondern revolutionär seien will, weil es in der Aktion entsteht. Ein Kino, das mit Formen experimentieren und sich auch mit der Arbeit der Filmemacher*innen auseinandersetzen will, um den Zugang der Menschen zur Welt des Kinos zu demokratisieren.

 

Manifiesto Cineastas de la UP

Den Alltag filmen, „das was passiert”

Für die jungen Filmemacher ist es unerlässlich, die Ereignisse des Augenblicks festzuhalten, das, was sich auf der Straße abspielt. Aus verschiedenen Perspektiven stellt sich das chilenische Kino der Geschichte des Landes. Da ist zunächst die surrealistische und experimentelle Brille von Raúl Ruiz, der die Regeln des Filmemachens hinterfragt und in Streifen wie La expropiación, Palomita Blanca oder Te vamos a llamar hermano die Gesten und den Habitus der chilenischen Gesellschaft untersucht. Miguel Littin seinerseits versucht, das Kino den Massen näher zu bringen. Er will ein aktivistisches Kino, aber eines, das ohne platte Slogans auskommt. Er führt Regie bei dem 1971 entstandenen Film Compañero presidente und auch bei La tierra prometida (1972). Patricio Guzmán entwickelt derweil den Standpunkt eines Archivars und filmt unablässig die politischen und sozialen Ereignisse des chilenischen Weges zum Sozialismus. Zu seinen Filmen gehören: El primer año (1971) und La respuesta de octubre (1972). Gemeinsam mit dem Argentinier Jorge Müller beginnen sie die Dreharbeiten zu der Dokumentation La Batalla de Chile (der erst einige Jahre später von Pedro Chaskel im kubanischen Exil fertiggestellt wird). Im Jahr 1972 haben zwei weitere Produktionen Prämiere: Ya no basta con rezar von Aldo Francia und Voto + Fusil von Helvio Soto,

 

Der Regiseur Sergio Trabucco, ebenfalls aktiv in der chilenischen Kinobewegung und nach Miguel Littin Leiter von Chile Films, erinnert daran, wie dringlich dieser kreative Prozesses damals war

 

 

 

„Die Präsenz der Öffentlichkeit und des Publikums war so stark: die der Menschen auf der Straße, der Arbeiter. Sie verkörperten was in Chile passierte, was wirklich im Staat geschah. Wir hatten mehrere Filmprojekte, fast alle historisch. Das ist anfangs oft der Fall, um nicht gleich Probleme zu kriegen. Ein kontemplatives Kino ist unverfänglich, persönliche Geschichtchen, eine Nabelschau des Regisseurs. Deshalb wurden Drehbücher für Filme mit historischem Charakteren geschrieben, zum Beispiel über Lautaro. Also Kurzfilme und Projekten mit historischen Bezügen, die natürlich einen innovativen Zugang und einen anderen  Blick entwickelten. Aber dann war alles was im Dokumentarkino geschah so stark, dass es diese Vorhaben auffraß. Die Spielfilmprojekte blieben in der Schwebe, da geschah sehr wenig. Das Dokumentarfilmkino verschlang alles, nicht wegen einer politischen Vision, sondern wegen der spezifischen Realität, die sich auf den Straßen abspielte.“

Der Film Brigada Ramona Parra

1970 produziert die Experimentalfilmabteilung der Universität Chile unter der Leitung von Álvaro Ramírez den Kurzdokumentarfilm Brigada Ramona Parra. Er zeigt Aufnahmen von Bildern und der Bildherstellung der BRP während des Präsidentschaftswahlkampfes von Allende. Zu sehen sind Brigadist*innen, die an verschiedenen strategischen Punkten Santiagos großformatige Propaganda-Wandbilder schaffen. Die Künstler*innen kommentieren selbst ihre Arbeit.

 
Ramona Parra Brigade_Álvaro Ramírez
 

„Die Wände waren unsere Tafel“. Die Brigaden Ramon Parra und die Entstehung der populären Wandmalerei

Ein kulturelles Phänomen der Unidad Popular ist die populäre Straßenkunst. So wie schon bei der Musik und öffentlichen Veranstaltungen sind erneut die jüngeren Generationen besonders aktiv. Auffällig im öffentlichen Raum sind bald schon große Wandbilder unter denen das Kürzel BRP steht, eine Abkürzung für Brigadas Ramona Parra. Die Propaganda-Brigade mobilisiert überall im Land Hunderte junger Menschen, die gemeinsam zu Malerinnen und Malern werden. Mono Gonzalez ist einer der Gründer der BRP. Ein Impuls für die Entstehung der Gruppe sei auf jeden Fall die Wahlkampagne Allendes gewesen, erinnert er sich:

 

 

„Na klar hat es viel mit Allende zu tun, er verkörperte einen Anführer. Aber es gab auch einen Prozess, denken wir an 1952, 1958, 1964 [als Allende erfolglos kandidierte] und dann 1970. Das ist eine Entstehungsgeschichte, ein Umzug, eine Reise in die Geschichte in Bezug auf, sagen wir, die Ausbildung und Reifung dieses Anführers, aber auch der sozialen Bewegung. Eine Sache ist sehr wichtig: Allende gewinnt die Wahl und wir begannen seine Worte in Bilder umzuwandeln. Bilder wie diese hier um uns herum. Das war meine Schule, die Umwandlung von Buchstaben in Bilder. Das heißt, wir malten einen Slogan oder platzierten ein Bild. Und langsam beginnt es sich abzuzeichnen, dass es unter der Regierung Allendes Raum für ein kulturelles Wachstum geben würde. Ich meine damit die Nueva Canción Chilena aber auch das populäre Grafikdesign, den muralismo, die Wandmalerei. Heute ist all das chilenisches Kulturerbe.

 

Die BRP arbeitet vom ersten Tag an für die Unidad Popular. Da Allende die Präsidentschaftswahl 1970 nur knapp gewinnt und weit von einer absoluten Mehrheit entfernt ist, muss er auf die Ratifizierung durch den Kongress warten:

 

 

„Wir zogen unsere Truppenteile zusammen, also in Anführungsstrichen, und hielten wichtige strategische Orte besetzt. Aber wir verteilten uns auch, um nachts auf die Straße zu gehen und Propaganda zu machen. Es gibt da eine Geschichte: Ich war in einem Haus in der Nähe der Avenida Cumming. Wir waren da versammelt und bereit, rauszugehen und zu malen. Wir begannen am 6. September mit der Arbeit an einer Wandmalerei, also nur zwei Tage nach der Wahl. Eines der Bilder war das vom „Neuen Menschen“. Chile war zu dieser Zeit von oben bis unten bemalt. Mit anderen Worten, alles war bepinselt. Die Wandmalereien lösen eine Veränderung aus, das ist sehr wichtig, das hatte eine strategische Bedeutung. Allende hatte ein Drittel der Wählerstimmen gewonnen aber nun musste er noch vom Kongress es ratifizieren werden. Mit anderen Worten, es gab einen langen Zeitraum von September bis Oktober, der vor der Ratifizierung im November lag. Das war lange hin, es gab viele Spannungen, ein Staatsstreich war nicht ausgeschlossen. Dann hätte er nicht sein Amt antreten können und die Wahl wäre für ungültig erklärt worden. Also mussten wir aktiv werden. Die Wandgemälde halfen dabei, die Lage etwas zu entsprannen. Das ist super interessant, das ist noch nie untersucht worden. Also bei der Präsenz der Wandgemälde, die wir zu malen begannen, da ging es nicht nur darum, ein paar Parolen hinzuschmieren, für die Unidad Popular zu trommeln oder den „neuen Menschen“ auszurufen. Nein, in den Wandgemälden kündigte sich auch eine neue Populärkultur von unten an.“

Eins zu Null für die chilenische Bevölkerung

 

 
Im November 1971 besucht Roberto Matta Chile. Der angesehene chilenische Künstler lebt seit längerem in Europa. Nun kommt er zurück, um die Regierung Salvador Allendes zu unterstützen. Während seines Aufenthalts schafft er eine Reihe von Werken, gemeinsam mit Wandmaler*innen der BRP und allen, die sich beteiligen wollen. Sie bemalen Gewerkschaftslokale und öffentliche Gebäude. Auf diese Weise entsteht im ersten Regierungsjahr der Unidad Poplar, an der Wand einer Schwimmhalle im Stadtteil La Granja, eines der emblematischsten Wandbilder dieser Zeit: Primer gol del pueblo chileno (Das erste Tor der chilenischen Bevölkerung).

Rot dämmert die Präsenz auf der Straße

Das Leben auf der Straße und das Demonstrationsrecht im öffentlichen Raum erhält Anfang der 1970er Jahre eine große politische Bedeutung. Die Aktionen der unterschiedlichen politischen Lager überkreuzen sich und kommen oft genug in direkten Konflikt miteinander. In kritischen Momenten organisieren die Brigaden Ramona Parra eine massive Präsenz auf der Straßen, die als rote Dämmerung bekannt wird. El Mono erklärt die Idee dahinter:

 

 

 

„Klar, zunächst mal gab es viele geheime Operationen und illegale Aktionen, die sich gegen Verhaftungen usw. richteten. Darüber hinaus mussten wir es aber auch mit den [rechten] „Mumien“ aufnehmen und der Nationalpartei, die sich Brigada Rolando Matus nannten. All diese Typen, das war wirklich nicht einfach. Wir musste die Straße für uns gewinnen. In der Tat gibt es einige Bilder der „roten Dämmerung“. Dahinter steckte, dass , wir an bestimmten Momenten alle gemeinsam auf die Straße gingen. Wir waren zu diesem Zeitpunkt schon extrem arbeitsteilig organisiert. Diese massiven Auftritte wurden von denen gesteuerten, die bereits Erfahrungen bei den Brigaden gemacht hatten. Mit anderen Worten, die Straße war sehr wichtig. Es ging immer auch um öffentliche Bilder: Positionierungen, Landnahmen, des Aufhängens von Flaggen – Präsenz eben.“

Der Fluss der Farben…

Die Zusammenarbeit der Straßenbrigaden mit professionellen Künstler*innen wird immer enger und fruchtbarer. 1972 schaffen die bildenden Künstler Gracia Barrios und José Balmes gemeinsam mit der BRP ein Wandbild an den Ufermauern des Mapocho-Flusses in Santiago. Das traditionell graue Bild des Flusses und seiner elendigen Bretterbuden an den Ufer verwandelt sich mit den farbenfrohen Wandmalereien. Sie zeigen Szenen, die die Würde und Solidarität der chilenischen Bevölkerung hervorheben. Daran erinnert sich auch gern die bekannte politische Schriftstellerin, Theatermacherin und Feministin Mónica Echeverría:

 

Wahlpropaganda auf einer Mauer in Santiago de Chile:
„Kinder werden geboren um glücklich zu sein“.

 

 

„Nun, ich würde sagen, dass in all den Jahren der Unidad Popular die Kultur in Chile zu 100 Prozent aufblühte. Also ich rede jetzt davon, was Abseits der allgemeinen Lesart geschah. Klar es gab auch populäre Bücher [günstige Auflagen des staatlichen Verlags Quimantú], die an jeder Ecke verkauft worden. Davon mal abgesehen gab es aber auch wirkliche Schöpfungsprozesse, ganz wunderbarer Lieder, wunderbare Theaterwerke, kreative Neuerungen überall. Das war eine Ouvertüre, ein wunderbare Explosion. Und das erreichte einfach jede und jeden. Ganz Santiago war bemalt, die Wände waren bemalt, die Ufermauern des Mapocho-Flusses waren bemalt. Jeden Tag entstanden neue Lieder. Ich hatte eine Theatergruppe, wir haben die ganze Zeit Theater gespielt. Kreativ und intellektuell betrachtet war es eine besondere Zeit. Es war die Zeit in Chile, in der am meisten gelesen wurde. Und klar, die billigen Bücher wurden auch verkauft, berühmte Bücher für wenig Geld. Die Unidad Popular war eine Wiedergeburt kreativer Inbrunst und Schöpfung, unglaublich, wunderbar.“

 

Aufgrund der aufgeheizten politischen Stimmung und der gesellschaftlichen Polarisierung sind die BRP ab 1972 häufig gezwungen, die Umsetzung aufwändiger Wandmalereien aufzugeben und sich wieder der Produktion von Texten und politischen Slogans zu widmen. Damit versuchen sie die Regierung der Unidad Popular zu unterstützen. Es ist eine Abwehrschlacht. Die Wände werden ein alternatives Medium,   um der dominanten oppositionellen Presse etwas entgegenzusetzen, die eine erbitterte Kampagne gegen Allende führt.

Valparaiso: von der Asamblea Popular zur Oktoberrevolte

Und dann ist er da, der 30. April 2019. Bei all den Vorbereitungen und Aktivitäten sind die Tage schnell verflogen.  Während des partizipativen Theaterstücks Valparaiso 1970-2030. Interventionen aus der Zukunft kommt es zu einem Wiedersehen mit dem Mono González. Zusammen mit weiteren Gästen auf der Bühne und dem Publikum debattiert er von einem fiktionalen Szenario in der nahen Zukunft aus über das in Chile vorherrschende neoliberalen Lebensmodell. Wie lässt sich das Recht auf Stadt verteidigen, heute und morgen? Der Mono hat darauf eine klare Antwort:
 

Asamblea Popular

 

 

 

„Es ist immer wichtig, was auf der Straße passiert. Die Straße prägt das Selbstwertgefühl in den Nachbarschaften und städtischen Räumen. Die Präsenz auf der Straße zählt und die Wandmalereien mit ihren Farben, liefern dazu bis heute einen entscheidenden Beitrag. Sie sind das historische Ergebnis von all dem, worüber wir hier gesprochen haben. Es gibt sie heute auch Freilichtmuseen zu sehen, noch so eine chilenische Erfindung. Auch in anderen Teilen der Welt findet dieses Modell heute Nachahmung, manchmal sind es ganze Städte.“

 

 

Nur sechs Monate nach dieser Veranstaltung füllen sich die Straßen Chiles wieder mit Menschen, Liedern, Fahnen und Straßenkunst. Es ist die größte Revolte seit vielen Jahrzehnten. Ein Wutausbruch, begleitet von politischen Forderungen und populären künstlerischen Wortmeldungen. Es sind Momente der Kreativität und Solidarität, bei denen sich neue und alte „Brigaden“ zusammenschließen, um an den Mauern und auf den Straßen eine klare Botschaft zu hinterlassen: „Wir werden nicht aufhören, bis die Würde zur Gewohnheit wird.“