Der Baguazo und weitere Kurven des Falles (Teil I)

von Roxana Olivera

(Berlin, 30. November 2014, revista ideele-poonal).- Erinnern wir uns: Vor etwas mehr 5 Jahren, am 5. Juli 2009, gab es einen Zusammenstoß zwischen Indigenen und Polizisten, der 34 Personen das Leben kostete und als Baguazo bekannt wurde. Die Konfliktursache war die Verabschiedung eines Gesetzespakets durch den damaligen Präsidenten Alan García, das die Rechte der indigenen Völker Perus verletzte und das Amazonasgebiet bedrohte.

Indigener Widerstand gegen das „Dschungelgesetz“

Dieses „Dschungelgesetz“ erleichterte zum Beispiel die Konzessionierung indigener Territorien, die als ungenutzt angesehen wurden und daher für die intensive, auf Export ausgerichtete Agrarproduktion und die extraktive Industrie bereit gestellt werden sollten. Des weiteren ermöglichte es den Verkauf indigenen Gemeindelandes, was mit dem Prinzip des nichtveräußerlichen Gemeindebesitzes brach.

Als Folge der Auseinandersetzungen wurden 110 Personen angeklagt. Die meisten von ihnen sind Indigene der Awajún und Wampis. Zur Zeit läuft das erste Gerichtsverfahren gegen 53 Angeklagte zu den Ereignissen in der „Teufelskurve“ (curva del diablo, nahe der Stadt Bagua gelegen).

Nicht ein einziger Prozess wurde gegen Staatsbeamt*innen eröffnet. Die Staatsanwaltschaft hat weder den Präsidenten noch die Minister, die auf diesem Gesetzespaket bestanden hatten, für verantwortlich erachtet, obwohl schon 2008 eine überparteiliche Kommission zu dem Ergebnis gekommen war, dass diese Getze gegen die Verfassung verstoßen würden.

Dem Baguazo vorausgegangen war eine öffentliche Verlautbarung des damaligen Präsidenten Alan García, in denen er die indigenen Völker herabsetzte. So schrieb er beispielsweise eine Reihe von Artikeln namens „Das Syndrom des Gärtnerhundes“ (in Anspielung auf die Fabel über den Hund, der das von ihm bewachte Gemüse im Garten zwar nicht frisst, aber auch niemand anderen davon fressen lässt), in denen er die Indigenen als Gegner*innen von Entwicklung anprangerte. In anderen Publikationen beschimpfte er sie als „rückständig“, „Wilde“ und „Terroristen“. In einem Fernsehinterview machte sich García über die indigene Weltanschauung lustig, die er als überholt bezeichnete.

Obwohl der Baguazo seinerzeit eine gewisse nationale Beachtung und sogar Solidaritätskundgebungen für die Indigenen und Proteste gegen die Regierung erfuhr, scheint er momentan ins Vergessen zu geraten. Die indigenen Angeklagten müssen die Schikanen eines Justizsystems über sich ergehen lassen, das kulturelle Unterschiede nicht anerkennt und ausblendet.

(Einführung: Gerardo Saravia)

***

Es war ungefähr 6:15 Uhr morgens an jenem Freitagmorgen des 5. Juni 2009.

Die Polizei schoss aufs Geratewohl mit Tränengasbomben. Die Teilnehmer*innen der Blockade für das Amazonasgebiet waren überrascht und erschrocken.

Sie waren doch, nach zwei Monaten des Protests, gerade dabei, ihren Rückzug von diesem Ort zu organisieren. Noch für denselben Tag. Alle Welt wusste das. Weshalb also dieser Überraschungsangriff der Polizei? Und warum zu solch früher Morgenstunde?

Der charismatische Awajún-Anführer Santiago Manuin Valera, 52 Jahre alt, machte sich auf die Suche nach dem Verantwortlichen für diese Aktion – wie einer, der versucht, die Wellen zu glätten. (Für das indigene Volk der Awajún-Wampis ist Santiago der Inbegriff für Weisheit und friedlichen Protest). Doch die Dunkelheit und die dichten Rauchwolken, verursacht durch die Tränengasgeschosse, verunmöglichten es ihm, den Verantwortlichen dieses Polizeieinsatzes in der Kurve des Teufels auszumachen.

„Was macht ihr da? Wir sind doch schon dabei zu gehen! Nicht schießen!“

Um der Polizei klarzumachen, dass weder er noch die anderen indigenen Protestierenden bewaffnet waren, stieg Santiago den Hügel hinauf, wo eine Gruppe einer Einheit der DINOES postiert war. Mit erhobenen Händen ging er auf sie zu und rief: „Was macht ihr da? Wir sind doch schon dabei zu gehen! Nicht schießen! Frieden! Frieden!“, als schon die ersten Schüsse des Konflikts zu hören waren. Und dieses Mal waren es keine Gummigeschosse. Zwei indigene Teilnehmer des Protests gingen verletzt zu Boden, ein weiterer starb.

Auch auf Santiago wurde geschossen. Er ging unverzüglich zu Boden. Seine Begleiter glaubten, er sei tot. Und nicht ohne Grund: acht Durchschüsse der Eingeweide und Schussverletzungen an Harnblase und Dickdarm. Angesichts eines derartigen Gewaltszenarios reagierten die Demonstrant*innen unverzüglich. Sie traten den Polizisten entgegen und entrissen ihnen die Waffen. So begann die Auseinandersetzung, die heute als „Baguazo“ bekannt ist.

Und sobald bekannt war, dass Santiago überlebt hatte, zögerte Richter Francisco Miranda Caramutti vom Ersten Strafgericht in Utcubamba keinen Moment, einen Strafprozess gegen Santiago einzuleiten und einen Haftbefehl auszustellen.

Sandra

Als die 23-jährige Sandra Quincho an jenem Morgen im Haus von Freunden in Bagua Grande aufwachte und das Radio anschaltete, hörte sie, dass die Polizei auf der Überlandstraße Fernando Belaunde Terry Indígenas und Mestizen tötet. Sandra überkamen Panik und Verzweiflung.

„Ich glaubte, dass ich meine Familie nie mehr lebend wiedersehen würde“, erinnert sie sich mit Tränen in den Augen. Ihre Mutter und ihre gerade einmal neun Jahre alte Schwester befanden sich allein in ihrem Haus in der Siedlung Siempre Viva, einem Ort, der sich ganz in der Nähe der in den Radionachrichten geschilderten Ereignisse befand.

Sandra nahm unverzüglich das nächste Auto, das sie allerdings nur bis in den Ort El Reposo brachte. Zu ihrer großen Überraschung war auch dort eine Polizeioperation im Gange und die Sicherheitskräfte nahmen Demonstrant*innen fest. Als die Polizei Tränengasbomben warf und aus Hubschraubern mit Schusswaffen auf jene Menschen schoss, die um Sandra herumstanden, stoben diese verzweifelt auf der Suche nach einem geschützten Ort auseinander. Sandra tat dasselbe. Mit dem Gefühl, dass sie in Folge des Tränengases fast erstickte, rannte sie in ein Haus hinein.

Hier nahm die Polizei, die Sandra zu jedem Zeitpunkt beschuldigte, „Indígena“ zu sein, sie später fest. Die Polizisten sagten ihr nicht, was ihr vorgeworfen wurde. Sie wurde stattdessen mit Tritten malträtiert und gezwungen, den Kopf zu senken.

Anders ausgedrückt: Für die Polizei bedeutete „Indígena“ sein, automatisch „schuld“ zu haben. Sandra ist Lehrerin und ist Mestizin, die aufgrund dieser Vorkommnisse momentan keine Arbeit hat und als vorbestraft gilt.

Der Fall Curva del Diablo

Santiago und Sandra sind sich während der Auseinandersetzungen, die sich an jenem unseligen 5. Juni in Bagua ereigneten, und bei denen laut offiziellen Zahlen 23 Polizisten und zehn Zivilpersonen ihr Leben verloren, nie begegnet. (Neben einem vermissten Beamten gab es noch mehr als 200 verletzte Zivilpersonen zu beklagen, von denen 82 – mehrheitlich Indígenas – Schussverletzungen davontrugen. Drei von ihnen starben später im Untergrund, ohne medizinische Hilfe erhalten zu haben).

Dennoch sind Santiago und Sandra nach den Ereignissen in Bagua zu zweien der insgesamt 52 Protagonist*innen des Falles Curva del Diablo geworden – einem Prozess, bei dem um jeden Preis versucht wird, die Verantwortung von Ex-Präsident Alan García Pérez, die Verantwortung der ehemaligen Ministerinnen Mercedes Cabanillas und Mercedes Aráoz sowie die des ehemaligen Premierministers Yehude Simon zu negieren. Stattdessen ist man bemüht, die volle juristische Verantwortung für die Ereignisse auf die Opfer abzuladen. Von den 52 Angeklagten sind 29 Mestizen, 23 sind Indígenas.

Die Anklagen

Santiago sieht sich schweren Anschuldigungen wegen des Todes der elf Polizisten in der Curva del Diablo ausgesetzt. Gegen ihn wurde ein Prozess eröffnet, in dem er wegen besonders schweren Mordes und schwerer Körperverletzung, wegen des Angreifens öffentlicher Verkehrsmittel, schwerer Sachbeschädigung, Zusammenrottung, der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, des Angriffs auf Güter und illegalen Waffenbesitzes angeklagt ist.

Sollte er für schuldig befunden werden, würde er eine lebenslange Strafe erhalten.

Sandra, die einzige Frau unter den Angeklagten, ist wegen des Angreifens öffentlicher Verkehrsmittel, Zusammenrottung, Störung der öffentlichen Sicherheit und des Angriffs auf Güter angeklagt. Sollte sie für schuldig befunden werden, würde sie für 26 Jahre hinter Gittern verschwinden.

Angeklagte und Zeugin

Bis heute hat – außer dem Vikariat – keine Organisation Interesse an Sandras Fall gezeigt. Während ihrer Festnahme wurde Sandra Zeugin der inoffiziellen Version: Sie erzählt, wie brutal die peruanische Polizei mit den Indígenas umsprang: „Einen von ihnen hat die Polizei besonders schlimm misshandelt, von dem Moment an, als sie ihn festnahmen. Weil er nicht verstand, was sie ihm sagten, haben sie ihn erbarmungslos zusammengeschlagen. Ihn beleidigt. Ihn getreten. Ihn erneut geschlagen. Er schrie – ich nehme an, wegen der Schmerzen, die er empfand. Er konnte nicht einmal mehr aufstehen. Ich glaubte, sie würden ihn zu Tode prügeln“, erzählt Sandra mit von Tränenschleiern glänzenden Augen. „Es schmerzte mich, ihn so zu sehen, denn er sah richtig schlimm aus. Und ich fühlte mich schuldig, weil ich nichts für ihn tun konnte. Aber: Was konnte ich in solch einer Situation denn schon tun?“

Sandra kannte diesen Mann nicht. Sie wusste weder seinen Vornamen noch seinen Nachnamen. Sie wusste gar nichts über ihn, sie wusste nur, dass er einer der Indigenen war, der an der Blockade des Amazonas beteiligt gewesen war, und dass er deshalb schwer misshandelt worden war. Das war alles, was sie von ihm wusste.

Das sollte sich fünf Jahre später ändern. In der ersten Sitzung der Hauptverhandlung mochte sie ihren Augen kaum trauen und bekam Herzklopfen: „An diesem Tag sah ich ihn wieder! Genau hier habe ich ihn wiedergesehen!“, erinnert sich Sandra mit einem ironischen Grinsen auf ihren Lippen. „Ich dachte, den würde ich niemals mehr wiedersehen.“

Es stellte sich heraus, dass Sandra Zeugin dessen geworden war, was mit einem anderen Angeklagten im Prozess geschehen war: Roldán EtsakuaYuuk, Indígena vom Volk der Awajún aus der Gemeinschaft Yumigkus im Distrikt Nieva. Ein bescheidener und einfacher Mann, der noch nie aus seiner Gemeinschaft herausgekommen war und der nur sehr wenige Brocken Spanisch aufgeschnappt hatte. Auf Awajún erklärt er – und der Dolmetscher übersetzt: „Als ich hörte, dass sie unser Territorium verkauften und Gesetze dafür erließen, entschied ich mich, die Blockade zu unterstützen”. Weiter führte er aus, dass, weil er Lust hatte, Bagua kennenzulernen, dass sich etwa zehn Stunden von seiner Gemeinschaft entfernt, befindet, keinen Moment zögerte und seine zehn Soles einsetzte, um auf einen LKW zu klettern, der für diese Reise angeheuert worden war. Als er ankam, half Roldán als Koch beim Vorbereiten des Gemeinschaftsessens.

Verhaftet wurde er am 5. Juni. Nach den Torturen durch die Polizei, deren Zeugin Sandra geworden war, wurde Roldán gezwungen, eine Erklärung zu unterzeichnen, deren Inhalt er nicht kannte. Dieses Dokument, in dem steht, dass Santiago Manuin den Demonstrant*innen gesagt habe, dass sie an der Blockade des Amazonas teilnehmen müssten, war ihm nicht nur niemals von einem Anwalt vorgelesen worden, man hatte es ihm auch nie übersetzt.

Dies ist der erste Teil einer Reportage von Roxana Olivera, die in der Spezialausgabe der Revista Ideele “Memorias de un juicio olvidado“ (Zeugnisse eines vergessenen Gerichtsprozesses) erschienen ist. In der Spezialausgabe werden das Leiden und die Misshandlungen der Indigenen, aber auch die unermüdliche Arbeit einiger, für die Gerichtsprozesse wesentlicher Persönlichkeiten beschrieben. Letztlich ist es wichtig zu begreifen, dass das Gericht nicht über eine Gruppe von Angeklagten urteilt, sondern über zwei ganze indigene Völker, die Awajún und Wampis.

Zu Teil II (Schlussteil) geht es hier.

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