Auf der Todesliste: Nicinha. Eine Aktivistin erzählt, warum allein Frauen die Landarbeitergewerkschaft leiten

von Ismael Machado

(Fortaleza, 16. August 2013, adital-Agencia Pública-Diário do Pará).- Zuldemir dos Santos de Jesús, genannt ‘Nicinha’, hütet den abgegriffenen Ordner mit großer Sorgfalt. Über 20 Blätter sind darin, Kopien von Strafanzeigen bei der Polizei, von Erklärungen und Dokumenten, die bei der Staatlichen Stelle zum Schutz für Menschenrechtsaktivist*innen (Programa Nacional de Protección a Defensores de Derechos Humanos) eingereicht wurden.

Kampf gegen Todesdrohungen

Die Sammlung dokumentiert Nicinhas Kampf gegen die Todesdrohungen, die ihren Alltag begleiten, seit sie in der Landarbeitergewerkschaft „Sindicato dos Trabalhadores Rurais de Rondon do Pará“ (STR) im Südosten Brasiliens aktiv ist.

Die 52-Jährige ist Vizepräsidentin und Leiterin der Abteilung Sozialpolitik. Das Gefühl, bedroht zu werden, ist Teil ihres Alltags: Zu Beginn des Jahres, am 29. Januar, hörte ein Nachbar etwa gegen 23 Uhr ein Auto halten. Dann lief jemand zu Nicinhas Haus und machte sich an der Eingangstür zu schaffen. Als der Nachbar das Licht einschaltete, floh der Unbekannte in seinem Auto.

Zwei Jahre zuvor hatte jemand mit einem Messer Nicinhas Fensterscheiben zerkratzt. Im Oktober 2012 versuchte jemand, durch eins der Fenster in ihre Wohnung einzudringen, während Nicinha zu Hause war. Nicinha weiß, dass Morddrohungen oft schnell in die Tat umgesetzt werden. Zwei Gewerkschaftsführer wurden bereits umgebracht, seit sie aktives Mitglied ist. Sie hat keine Lust, die nächste auf der Liste zu sein.

Anonyme Anrufe und seltsame Begegnungen

Nie hätte sie gedacht, dass sich ihr Leben so entwickeln würde, als sie 1996 der Landarbeitergewerkschaft beitrat. Sechs Jahre zuvor, als ihre Mutter, eine ehemalige Landarbeiterin, in Rente gehen wollte, hatte sie sich an die STR gewandt und um Unterstützung bei der Antragstellung gebeten. Was sie dort sah, gefiel ihr auf Anhieb, insbesondere der gewerkschaftliche Kampf für die Agrarreform. So lernte sie María Joel da Costa und José Dutra, den Präsidenten der Gewerkschaft, kennen. Dutra, auch bekannt unter dem Spitznamen ‘Dezinho’, wurde im Jahr 2000 vor seiner Haustür erschossen.

Zuldemir begann ihre Laufbahn bei der Gewerkschaft als Sekretärin. Dank der Unterstützung eines guten Freundes, des Gewerkschaftsführers Ribamar Francisco dos Santos, stieg sie 2002 in die Leitung auf. Dos Santos wurde 2004 ermordet. „Das war eins der schockierendsten Ereignisse in meinem Leben“, erzählt Nicinha. Danach sei es mit der Ruhe vorbei gewesen: Als Wortführerin der gewerkschaftlichen Kämpfe wurde sie unweigerlich zur Zielscheibe der Wut ihrer Gegner*innen.

„Ich bekam anonyme Anrufe von Leuten, die drohten, mich und meine Familie umzubringen. Das waren schwierige Situationen, ich war ganz schön verzweifelt“, erinnert sich Nicinha.

Die Bedrohungen nahmen oft seltsame Gestalt an: Einmal wurde ich von einem angeblichen Anwalt angerufen, der sagte, er wolle mich sprechen, allerdings nicht in meinem Büro bei der Gewerkschaft sondern bei mir zu Hause. Ich weiß, dass es hier üblich ist, Gewerkschafter*innen in ihrem Haus zu ermorden. Dieser angebliche Anwalt ließ sich von unserer Sekretärin bei der Gewerkschaft meine Telefonnummer geben und stellte sich dann als Mitarbeiter des Instituts für Landfragen Iterpa (Instituto de Tierras de Pará) vor.

Sein Wagen hatte getönte Scheiben, das Nummernschild fehlte. Dieser Mann rief mich also an. Er sagte, er heiße Marabá und sei Anwalt, weiter ausgewiesen hat er sich aber nicht. Ich habe gesagt, bei mir könnten wir uns nicht treffen, er solle doch bitte ins Gewerkschaftsgebäude kommen. Dort ist er dann niemals aufgetaucht.“

Motorradfahrer mit Pistole an der Hüfte

Ein anderes Mal erhielt Nicinha eine telefonische Warnung: Sie solle nicht zu einem Treffen gehen, wo über eine von Räumung bedrohte Besetzung gesprochen werden sollte. Auf dem Weg dorthin lauere ihr jemand auf, der vorhabe, sie zu töten. Aus Sicherheitsgründen ging Nicinha nicht zu dem Treffen sondern zum Haus der Gewerkschaftspräsidentin María Eva Santos Dias. Vom Fenster aus sahen die beiden auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Motorradfahrer mit einer Pistole an der Hüfte. Für sie sei klar, dass der Mann ihr bis zu Evas Haus gefolgt war, so Nicinha.

Auch vor dem Gewerkschaftsgebäude erschien einmal ein verdächtig aussehender Kleinlaster mit vier Personen, die Nicinha bei ihrer Arbeit observierten. Namen möchte sie nicht nennen, erzählt jedoch, dass der Mörder des Koordinators einer Besetzung, der zurzeit im Gefängnis sitzt, sie ebenfalls bedroht habe. „Dieser Mensch hat ganz klar gesagt, dass er ein Gemetzel unter den Gewerkschafter*innen veranstalten wird, wenn er erstmal aus dem Gefängnis raus ist.“

Unerwarteter Polizeischutz – für zunächst nur drei Monate

Am 23. Oktober 2011 erhielt Nicinha einen Anruf aus Brasilia. Sie hat keine Ahnung wie, aber auf irgendeinem Weg drangen die Gerüchte um die Morddrohungen gegen sie bis in die Hauptstadt. Die Staatliche Stelle zum Schutz von Menschenrechtsaktivist*innen des Regierungssekretariats für Menschenrechte drückte persönlich ihre Besorgnis angesichts der Situation aus. Fünf Tage später kamen zwölf Polizisten nach Rondon do Pará, die eigens zu Nicinhas Schutz abgestellt waren. „Leider hatten sie vergessen, mir zu sagen, dass diese Maßnahme nur für drei Monate Bestand haben sollte“, erinnert sich die Gewerkschaftsführerin. Schließlich wurde die Bewachung um weitere drei Monate verlängert.

Warum Frauen die leitenden Funktionen übernehmen Seit April 2012 ist Zuldemir nun ohne Polizeischutz. „Gerade, als die Situation sich am meisten zuspitzte, der Kampf um die Landreform sich verkomplizierte und die Lage für mich entsprechend gefährlicher wurde – genau da wurden die Polizisten wieder abgezogen.“

Nach Ansicht Zuldemirs ist die Situation in Rondon do Pará insgesamt sehr schwierig. „Ich glaube, die Morddrohungen gehen von der gleichen Gruppe aus, die auch Dezinho und Ribamar, den Schatzmeister der Gewerkschaft, auf dem Gewissen hat. Eines der Mitglieder dieser Gruppe, die die Bedrohungen zu verantworten hat, ein Gutsbesitzer, ist der Vater der derzeitigen Bürgermeisterin. Natürlich wurde diese Gruppe nie für irgendwas zur Rechenschaft gezogen.“

Morddrohungen zerstören die Familie

Die Drohungen und Anfeindungen bestimmen Zuldemirs Leben. Ihr Mann hielt dem Druck nicht stand und trennte sich von ihr. Ein weiterer Schlag für eine Person, die ihr Leben zwischen der Familie, der Gewerkschaft und der Unterstützung der Landbesetzungen aufteilt.

Die Gewerkschaft unterstützt etwa 2.500 Familien, die in selbst geschaffenen Ansiedlungen leben und sich durch den Verkauf eigener Produkte finanzieren. Aufgrund der zahlreichen Mordfälle stellte sich kein Mann mehr für einen leitenden Posten zur Verfügung. Sämtliche leitenden Funktionen werden inzwischen von Frauen getragen.

„Manchmal, wenn ich morgens aus dem Haus gehe, denke ich, wer weiß, ob ich heute Abend zurückkomme. Am Wochenende, wenn ich allein zu Hause bin, kann ich oft nicht schlafen, sondern lausche auf jedes Geräusch. Zweimal haben sie schon versucht, meine Tür aufzubrechen. In Ruhe leben habe ich mittlerweile komplett verlernt.“

*Die Serie „Auf der Todesliste – Marcadas para Morir” erscheint in Zusammenarbeit mit Agencia Pública und der Tageszeitung Diário do Pará. Reportagen: Ismael Machado, Fotos: Antonio Cicero. Veröffentlicht von Adital mit Genehmigung der Agencia Pública. Ismael Machado, Diário do Pará/ Agência Pública*.

 

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