Informelle rassistische Todestrafe

von Andreas Behn, Rio de Janeiro

(Berlin, 30. Juni 2013, taz).- „Am Sonntag werde ich nicht auf die Demo gehen. Ich bin schwarz, und ich bin eine Frau,“ sagt Fabíola mit fester Stimme. „Leute wie ich sind bevorzugtes Ziel der Polizeiübergriffe.“ Und die Staatsmacht habe schon angekündigt, dass das Maracanã-Stadion mit allen Mitteln verteidigt wird.

Acht junge Leute sitzen am Kneipentisch in einer engen Gasse im Zentrum von Rio de Janeiro. Diskutiert wird auch dort die Protestwelle im Land, wie wird es weitergehen, gelingt es der Regierung, den Unmut im Land mit ihren wohlklingenden Versprechen zu besänftigen? Am Sonntag spielt Brasilien im Endspiel des Confed-Cups gegen Spanien, mindestens vier Protestmärsche sind geplant.

„Stoppt die Auslöschung der schwarzen Jugend“

„Es geht nicht um Angst, meine Entscheidung ist politisch.“ Fabíola spricht etwas lauter. „Mein Platz ist in der Favela Maré, dort wird zum Protest gegen das letzte Massaker mobilisiert“. Montagnacht hatte die Polizei das Armenviertel unweit des Zentrums nach einer Demonstration gestürmt und neun Bewohner getötet. Angeblich war sie auf der Jagd nach Drogenhändlern.

Laut Presse gehörten drei der Toten nicht zu den „Verdächtigten“. „Seit wann herrscht bei uns die Todesstrafe? Ist ein Verdacht ausreichend für tödlich Schüsse“, fragt Fabíola. Natürlich seien Buspreise, Bildung und Gesundheit wichtig, auf den meisten Demonstrationen war sie dabei gewesen. „Unser Slogan ist jetzt wieder ‘Stoppt die Auslöschung der schwarzen Jugend’, das ist das Problem, mit dem wir konfrontiert sind.“

Rachefeldzug durch die Favelas

Einige der Umstehenden kannten die Forderung nicht, Fabíola konnte wieder leiser sprechen. Vergangenes Jahr hatte die Polizei in São Paulo wochenlang Favelas überfallen und wahllos Menschen erschossen. Es war ein Rachefeldzug gegen das Organisierte Verbrechen, das begonnen hatte, gezielt Uniformierte zu ermorden. Auslöser war wahrscheinlich das Ende eines Stillhalte-Paktes zwischen Regierung und den Kriminellen – eine übliche Art der Verbrechensbekämpfung in brasilianischen Großstädten, die natürlich von allen Seiten geleugnet wird.

Seitdem thematisieren Teile der Schwarzenbewegung nicht mehr nur die Polizeigewalt, sondern die existenzielle Gefahr für Jugendliche in den Armenvierteln. Allein in Rio de Janeiro werden jedes Jahr Hunderte Menschen in Favelas von der Polizei erschossen, in anderen Städten sieht es nicht besser aus. Ermittlungen werden selten eingeleitet, Grund der Todesschüsse ist fast immer „Notwehr“. Zu den schlimmsten Zeiten im vergangenen Jahrzehnt wurden in Rio de Janeiro durchschnittlich drei Menschen pro Nacht erschossen, die meisten von ihnen waren: Schwarz, arm, jung und männlich.

Diese Zustände jenseits der Probleme mit prekären öffentlichen Dienstleistungen und Korruption in der Politik stehen nicht im Zentrum der Massendemonstrationen der vergangenen Tage, in den Medien sind sie höchstens am Rande zu finden. Deswegen nutzt das „Komitee gegen WM und Olympia“ das Confed-Cup-Endspiel, um auf einer Demonstration am Sonntagvormittag (Ortszeit) die Anliegen der Armenviertel zu thematisieren.

8.000 Familien wegen WM von Räumung bedroht

Neben der Polizeigewalt geht es vor allem um die Räumungen, mit denen Platz für Sportstädten und neue Verkehrswege geschafft wird. Die landesweite Bewegung der Komitees zählte bis Mai dieses Jahres 3.100 Familien, die ihre Wohnungen bereits verlassen mussten, weitere 8.000 sind in den 12 Austragungsorten der WM von Räumung bedroht.

Auch sollen die Machenschaften der Fifa wieder in den Mittelpunkt gerückt werden. Im Gegensatz zu den Zugeständnissen der Regierung bei den Forderungen nach mehr Geld für öffentliche Dienstleistungen sowie der Ankündigung einer Politikreform kommt der korrupte Fußballverband bisher völlig ungeschoren davon. Allerdings sind sich die Leute am Kneipentisch einig: Das eigentliche Problem ist nicht die Fifa, sondern die Regierungen, die deren Bedingungen akzeptieren und ohne jede öffentliche Diskussion Fifa-Gesetze verabschiedet, die im Widerspruch zur nationalen Gesetzgebung stehen.

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