„So diffus die Bewegung ist, an einem Politikwechsel haben viele ein großes Interesse“

von onda/poonal

(Berlin, 26. Juni 2013, npl).- Interview zur Protestbewegung in Brasilien mit Nils Brock, der für den Weltverband der Community Radios (AMARC) in Brasilien tätig ist.

 

 

Wenn man von Deutschland aus nach Brasilien schaut, wirkt der Protest zunächst einmal beeindruckend, aber irgendwie auch unübersichtlich, es sind ja immer wieder Hunderttausende, die dort auf die Straße gehen. Wie ist das, wenn man vor Ort ist?

Ja, es ist auch hier ein bisschen unübersichtlich. Ein großes Rätselraten, wer die ganzen Leute auf den Demonstrationen sind. Wenn man dann zu einigen Dingen hingeht, sieht man selbst, dass da alle möglichen Forderungen angebracht werden. Die Fahrpreise im Nahverkehr sind nur noch ein Teil.

Viele tragen ihre Forderungen in diese Proteste hinein, links wie rechts. Man hat auf der einen Seite Autonome, die radikale Forderungen stellen, aber auch Neonazis tauchen auf den Protestmärschen auf. Es gibt immer mehr Leute mit Brasilienfahnen, die eine ganz diffuse nationalistische Kritik anbringen, sich gegen Parteien aussprechen und jetzt dafür sind, dass jetzt irgendwo alle zusammen irgendetwas tun, was aber auch nicht ganz klar herauskommt.

Und die konservativen Tageszeitungen versuchen ihrerseits, den Demonstrationen ihren Stempel aufzudrücken. Im Moment gibt’s auch keine so richtige Diskurshoheit, was die Demonstrationen angeht.

Das könnte ja auch aber eine Chance für Gruppen sein, sich zu positionieren und Dinge aufzubrechen. Wie siehst du das?

Klar, diese Möglichkeiten gibt’s auch. Die sind emanzipativen Gruppen sind natürlich da, die Gruppen des comitê popular, des Komitees, das in ganz Brasilien jetzt vor den sportlichen Großereignissen auch als Netzwerk organisiert ist, die haben natürlich mitmobilisiert, was die Zwangsumsiedlung vor der WM angeht, was auch die Nutzung von Steuergeldern für diese Großevents angeht, während anderswo im Bildungs- und im Gesundheitswesen gespart wird.

Daneben überlegen viele Bewegungen, wie die Landlosenbewegung MST oder die Gewerkschaften, die sich aus Treue zur regierenden Arbeiterpartei bisher zurückhielten, inwiefern sie jetzt auch in die Demonstrationen eingreifen sollten.

Auch aus dem Kalkül heraus, der Regierung jetzt ein bisschen unter die Arme zu greifen, damit sich das Ganze – wie es von der rechten, konservativen Seite versucht wird – nicht zu einer Regierungskrise hin entwickelt, die so aufgebläht wird, als müsste es jetzt zwingend einen Regierungswechsel geben, und keinen Politikwechsel.

An einem Politikwechsel haben, so diffus die ganze Bewegung ist, viele ein großes Interesse.

Verschiedentlich wurde berichtet: Es ist die neue Mittelschicht, die es vorher nicht gab, die sich da jetzt auf die Straße bewegt hat. Ist das die „Mehrheit“ der Protestierenden?

Die Umfragen sind wirklich mit Vorsicht zu genießen. Es gibt Umfragen von den Tageszeitungen selbst oder von Meinungsforschungsinstituten, die behaupten, der Durchschnittsdemonstrant sei so und so – aber das sind kleine Erhebungen, die nicht wirklich einen Einblick geben.

Was ich spannend finde: Leute, die in den 1990er Jahren, beim Amtsenthebungsverfahren gegen den damaligen Präsidenten Fernando Collor mitgemacht haben, sagen: „Damals war es eine reine Mittelklassenveranstaltung.“ Heute gibt es viel mehr Leute aus den comunidades, aus den Favelas, die mitmachen, auch manchmal die so genannte „neue Mittelklasse“. Leute, die den sozialen Aufstieg in den letzten Jahren miterlebt haben und sich jetzt darauf besinnen, weitergehende Forderungen zu stellen. Ich würde sagen, es ist eine bunte Mischung.

Auch in den sozialen Netzwerken wurde vor den Demos aufgerufen und sogar angekündigt: jetzt zieht der Block aus der Favela Maré los, jetzt zieht der Block vom Complexo do Alemão los… daran ist zu sehen: Auch da wird mobilisiert.

Am vergangenen Wochenende gab es in verschiedenen Städten auch Zusammenschlüsse und Treffen von comitês populares, also lokale Versammlungen. Soziale Bewegungen und auch Stadtteilvertretungen und Nachbarschaftskomitees sind dort zusammengekommen und haben sich darüber ausgetauscht, wie sie sich in den nächsten Tagen und Wochen gemeinsam artikulieren wollen.

Daran sieht man, dass es auch eine Breite gibt und inzwischen auch eine Zunahme von der Organisation auf der linken Seite. Wie es auf der rechten aussieht bleibt abzuwarten.

Die PT-Regierung von Dilma Rousseff hat sich ja auf die Protestbewegung zu bewegt…

Nun ja, die Präsidentin hat am vergangenen Freitag in der Nacht – hier sagen viele, halbherzige – Zusagen gemacht. Die sozialen Bewegungen oder der Teil der Demonstrationen, die organisiert sind, sagen jetzt: Okay, wir werden das analysieren und schauen, was diese Zusagen wert sind.

Könnten die Proteste noch zu einer Gefahr werden für die [Arbeiterpartei] PT?

Nun ja, die Umfragewerte sind seit Beginn der Demos um acht Prozentpunkte gefallen. Ich glaube, für die PT ist es inzwischen eine Zwickmühle geworden. Auf der einen Seite ist sie jetzt erst einmal auf die Demonstrierenden zugegangen und hat auch viel versprochen: die Einkünfte aus den Erdölgewinnen zu Hundert Prozent in die Bildung zu stecken, einen Nahverkehrsplan, mehr Ärzte im öffentlichen Gesundheitswesen.

Das hört sich alles gut an. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage: Wie wird das Ganze finanziert? Bisher hat die PT, trotz alle ihrer assistentialistischen Programme, eine neoliberale Politiklinie ein Stück weit mit getragen. Und sie wird auch daran gemessen und in den Zeitungen damit unter Druck gesetzt, dass jetzt die Inflation wieder zugenommen hätte, etc. Das hat sie immer gefürchtet, so in die Ecke gedrängt zu werden. Und Dilma Rousseff will sich auch als wirtschaftlich starke Präsidentin zeigen.

Nächstes Jahr sind Wahlen, es bleibt spannend, wie sie das vermitteln will: Für die Forderungen werden jetzt mehr staatliche Ausgaben locker macht, aber woher das Geld nehmen? Ob sie wirklich so weit gehen wird, eine generelle Steuerreform durchzuziehen, wo auch reiche Brasilianer in die Verantwortung genommen werden? Was dringend nötig wäre, da Brasilien eines der Länder ist, wo die direkte Besteuerung sehr niedrig und die indirekte sehr hoch ist, wodurch ärmere Teile der Bevölkerung unproportional stark an der Steuerlast beteiligt werden. Das sind Fragen, die offen sind und das Regieren wird auf alle Fälle nicht einfacher werden.

Glaubst du, das geht noch eine Weile so weiter?

Eigentlich sieht man jeden Morgen nach dem Aufstehen, dass es in verschiedenen Städten wieder große Demos gab. Relativ aktuell sind jetzt Straßenbesetzungen oder Straßenblockaden, von größeren Autobahnen etc.

In Fortaleza und in Belo Horizonte gab es auch gestern wieder sehr große Demonstrationen. Wenn die Bewegung dort auf repressive Gouverneure oder Bürgermeister trifft, schaukelt sich das Ganze natürlich auch noch schneller hoch.

Der Präfekt von Belo Horizonte sagte, die Militärpolizei hätte noch nicht hart genug eingegriffen, die müsste noch viel mehr Leute festnehmen. Daran kann man sehen, dass es auf politischer Seite auch noch keine Entschiedenheit gibt, sich jetzt bei den Polizeieinsätzen zurückzunehmen.

Für Donnerstag ist eine „Rote Welle“ angekündigt. Das ist eine Veranstaltung von PT-nahen Organisationen, die wie gesagt, auch stärker mit auf die Straße wollen. Und für den Tag des Endspiels, den 30. Juni, wird auch noch einmal zu einer massiven Mobilisierung aufgerufen.

Zumindest während des Confed -Cups wird es also intensiv weitergehen. Dann muss man schauen. Und, so unterschiedlich die Umfrageergebnisse hier ausfallen, so ähnlich sind sie sich, was die Einschätzung der Frage angeht, „Wie lange soll das hier noch gehen?“ Neunzig Prozent der Befragten sagen, sie glauben, dass das Ganze noch eine ganze Weile weiterlaufen wird.

Berichtet wird sehr viel von Protesten in den Großstädten, in den Mega-Cities. Ist das nur ein Protest der Städte? Wie ist die Situation auf dem Land?

Die Demonstration, bei der heute Morgen zwei Frauen überfahren wurden, war am Stadtrand, an der Peripherie. Bei dieser Demo ging es auch um eine Verbesserung der Lebensverhältnisse der Leute, die am Rand der großen Städte wohnen. Das zeigt, dass eine neue Dynamik entstanden ist, dort zu demonstrieren und nicht unbedingt in die Zentren zu ziehen. Was die ländliche Bevölkerung angeht, gibt es bisher relativ wenige Nachrichten.

Auf den Demonstrationen sind jedoch auch die Anliegen von Indigenen präsent. Dabei geht es nicht nur um die Großprojekte wie Staudämme, sondern auch um die Demarkierung von indigenen Gebieten. Die ist ins Stocken gekommen unter der Regierung von Dilma Rousseff.

Gibt es im Land so etwas wie „Aufbruchsstimmung“?

Egal wo man hingeht, im Supermarkt, in irgendeinem schicken Café, in der Schlange zum Flieger, die Leute reden darüber und versuchen, dem einen Sinn zu geben. Die meisten stehen den Demonstrationen auch wirklich zustimmend gegenüber. Die Frage ist natürlich auch, was jeder einzelne reininterpretiert.

Es ist im Moment das Thema in Brasilien und ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet ein großes Fußballereignis so von der Bildfläche gedrängt wird. Auch wenn gestern beim Brasilienspiel natürlich Jubelrufe zu hören waren, aber von großen Parties auf der Straße sieht man dann doch eher weniger, sondern da überwiegen klar die Demos.

Gibt es etwas, was du selbst noch wichtig findest, dass erwähnt werden sollte?

Überrascht bin ich von der Nutzung der sozialen Netzwerke, ob das nun Twitter, Facebook war, in Verbindung mit anderen klassischen Community-Medien oder freien Medien.

Weil dort auch eine Debatte stattgefunden hat, die über das hinausgeht, was man sonst kennt, das Hin- und Herschicken von Fotos etwa. Durchaus auch sehr differenziert wurden dort Beiträge aus Zeitungen kommentiert, eigene Beiträge geschrieben und während der Demos auch immer viele wichtige Informationen verteilt. Vor allem, als die Repression stattgefunden hat. Da hat, meiner Ansicht nach, eine Aneignung stattgefunden.

Jetzt, so haben viele gesagt, geht es darum, diese Debatten, die wichtig waren und viele Leute zusammengebracht haben, zu vertiefen und fortzusetzen. Offline, online, wo auch immer.

(Das Interview gibts auch als Audio bei onda)

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