„Wir tauschen keine Rechte gegen Wählerstimmen“

von Sylvia R. Torres

(Lima, 30. August 2011, semlac).- “No cambiamos derechos por votos” – „Wir tauschen keine Rechte gegen Wählerstimmen.“ So las man vor der Wahl auf einigen Bussen des öffentlichen Nahverkehrs in Managua. Unterzeichnet war der Slogan von einem Zusammenschluss mehrerer Organisationen, der sich „El Movimiento Feminista“ – „Feministische Bewegung“ nennt.

Immer wenn es um Ereignisse von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung geht, seien es nun Kriege oder nur die nächsten Wahlen, dann erinnert sich die politische Kaste plötzlich an die Frauen und versucht entweder, sie durch Schmeicheleien auf ihre Seite zu ziehen, oder sie bemüht sich um Unterstützung durch bestimmte Machtgruppen und setzt dafür Frauenrechte als Tauschpfand ein.

Darin liegt nach Meinung von Martha María Blandón (1) auch der Grund für die Anklage, die im Oktober 2007 gegen neun Feministinnen aus unterschiedlichen sozialen Netzwerken erhoben wurde. Als Klägerin trat seinerzeit eine von Monseñor Abelardo Mata, dem Erzbischof von Estelí, geführte NGO auf. Dabei wurden vier schwerwiegende Vorwürfe geltend gemacht: Vergehen gegen die Justizbehörden, Verheimlichung einer Vergewaltigung, Bildung einer Vereinigung mit dem Ziel, gemeinschaftlich eine Straftat zu begehen, sowie explizite Zustimmung zu einer Straftat. Nachdem sich zahlreiche Menschenrechtsorganisationen dem Protest der Frauen gegen die Vorwürfe angeschlossen hatte, entschied die Staatsanwaltschaft zwei Jahre und drei Monate später, die Anklage fallenzulassen.

Protest verhinderte Prozesseröffnung

Wie Blandón und Juanita Jiménez (2) im Mai 2011 gegenüber SEMlac erklärten, hätte die Anklage niemals erhoben werden dürfen. Beide waren als Vertreterinnen sozialer Netzwerke direkt von den Vorwürfen betroffen. Die Anschuldigungen richteten sich gegen die Initiativen Contra la violencia (Gegen Gewalt), Campaña 28 de Septiembre (Kampagne 28. September), Coordinadora civil (Koordination ziviler Bewegungen), Movimiento Autónomo de Mujeres (Autonome Frauenbewegung) und Movimiento Feminista (Feministische Bewegung). Den Vertreter*innen dieser Netzwerke drohten Gefängnisstrafen und Beschränkungen des Rechts auf Bewegungsfreiheit.

Mit seinem Versuch, Politiker*innen zu diskreditieren, die sich für ein freies Abtreibungsrecht einsetzen, folgt Nicaragua nach Ansicht Blandóns einem Trend, der überall in Lateinamerika und auch in den USA sehr verbreitet ist. „Nicht einmal Präsident Obama hat sich den konservativen Kräften in seinem Land entgegenstellen können“, so Blandón gegenüber SEMlac. Letztendlich sei es dem „von Feministinnen auf nationalem und internationalem Boden losgetretenen Protest“ zu verdanken, dass der Strafprozess gegen die neun Angeklagten nicht eröffnet wurde. Sie hätten es geschafft, Amnesty International sowie Menschenrechtsverbände der Vereinten Nationen, der Organisation Amerikanischer Staaten und der Europäischen Union zu mobilisieren.

Der Fall „Rosita“

Die konservativen Kreise in Nicaragua stützten ihre Anklage auf einen Fall aus dem Jahre 2003, der als beispielhaft gelten sollte. Damals hatten Feministinnen einem neunjährigen Mädchen eine Abtreibung ermöglicht, das durch eine Vergewaltigung schwanger geworden war. Man vermutete, dass ein Nachbar der in Costa Rica lebenden Familie die Tat begangen hatte. In der Presse wurde das Verbrechen seinerzeit als „der Fall Rosita“ bekannt. Da Armut und Not sowie historische Konflikte zwischen beiden Ländern die Familie zur Migration ins Nachbarland gezwungen hatten, wurde in der nationalen und internationalen Presse über das Verbrechen berichtet. Obwohl das Gesetz in beiden Ländern zu jenem Zeitpunkt ein Schwangerschaftsabbruch aus medizinischen Gründen erlaubte, wurde ihr die Möglichkeit zur Abtreibung verweigert. Die Feministinnen erklärten, es sei ein „mit dem geltenden Recht vereinbarer, jedoch heimlich durchgeführter“ Abbruch gewesen, da der Staat Nicaragua sich weigerte, das Leben des Mädchens zu schützen, das durch die Schwangerschaft in Gefahr war.

Konservative Verbände, allen voran die Kirche, starteten eine Großoffensive, die mit der gesetzlichen Einführung eines Abtreibungsverbots unter allen Umständen endete, auch wenn das Leben einer Frau oder eines Mädchens auf dem Spiel steht, die Schwangerschaft das Ergebnis einer inzestuösen Nötigung oder Vergewaltigung ist oder der Fötus keine Überlebenschancen hat. Die Frente Sandinista de Liberación Nacional (FSLN) hatte sich mit den Liberalen und den Konservativen auf das neue Gesetz geeinigt. Nur die Partei Movimiento Renovador Sandinista stimmte dagegen und ließ bei den Präsidentschaftswahlen 2006 durch ihren Kandidaten Edmundo Jarquín verlauten, sie habe vor, das Recht auf Abtreibung wieder einzuführen.

2007 beschuldigten Rosita und ihre Mutter den Stiefvater des Mädchens der Vergewaltigung. Bis dahin hatte er immer als der biologische Vater gegolten. Die Initiative Red de Mujeres Contra la Violencia (Frauennetzwerk gegen Gewalt) trat im Prozess als Nebenklägerin auf. Der Stiefvater wurde schuldig gesprochen.

Ungerechtfertigte Anschuldigungen

Dennoch warfen Monseñor Mata und seine Unterstützer den Frauen trotzdem unter anderem Verheimlichung einer Vergewaltigung vor. Das erschien Juanita Jiménez geradezu absurd, denn die Polizei sei an den Nachforschungen im Jahr 2003 beteiligt gewesen. „Hätte sich der Staat Nicaragua an das geltende Recht gehalten, hätte er die Klage gleich zurückweisen müssen, denn alles, was 2003 geschah, bewegte sich innerhalb des gesetzlichen Rahmens“, so auch Martha María Blandón. Die Anschuldigungen seien völlig ungerechtfertigt, denn sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Polizei waren an den Untersuchungen beteiligt.

Die Frauen hätten niemals eine Kopie der Anklageschrift oder der Beweisführung erhalten und somit keine Möglichkeit gehabt, sich zu verteidigen, betont Blandón. So sahen sie sich einerseits der justiziellen Macht ausgeliefert, bekamen jedoch glücklicherweise große Rückendeckung durch zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen. Die Anklage habe zahlreiche Solidaritätsbekundungen mobilisiert. Dazu hätten sich etwa 20 einflussreiche nicaraguanische Persönlichkeiten, darunter die Ärzte Carlos Tunermann, Vilma Núñez und Francisco Báez den Protesten angeschlossen und die Eröffnung des Strafverfahrens gegen die Angeklagten erfolgreich verhindert, so Blandón.

Internationale Verbände wie Human Rights Watch, Amnesty International, das Europaparlament und der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hatten die nicaraguanische Regierung aufgefordert, die Klage abzuweisen, waren jedoch ohne Antwort geblieben.

Auch wenn man davon ausgehen sollte, dass in einem demokratischen System Gewaltenteilung herrscht, schaltete sich die Präsidentschaft ein und trug der Staatsanwaltschaft auf, den Fall an die stellvertretende Staatsanwältin zu übertragen, die ein Mitglied der Regierungspartei ist.

Was die Behörden nun genau dazu veranlasst hat, die Akte zu schließen, bleibt offen. Nach Meinung Blandóns steht dahinter ein politisches Kalkül. Angesichts der landesweiten und internationalen Solidaritätsbekundungen fühlte sich die Regierung anscheinend nicht mehr geneigt, Erklärungen zu dem Fall abzugeben. Dennoch war sie offensichtlich erleichtert, als die Anklage fallengelassen wurde, denn im Zuge der heftigen Proteste, die auf das Verbot der Abtreibung aufgrund einer medizinischen Indikation gefolgt waren, wurde mit Bestrafungen gerechnet, insofern sei es bei dem Beschluss um Selbstschutz gegangen. „Die Staatsanwaltschaft hat die Anklage im Namen der Regierung fallenlassen, weil die Vorwürfe ethisch und juristisch nicht haltbar waren“, meint Violeta Delgado Sarmiento.

Wachsende Unterstützung für straffreie Abtreibung

Die Aktionen zur Verteidigung des Lebens und der Gesundheit von Frauen rissen nicht ab. Trotz dieser mittelschweren Hürde, die der Bewegung durch die Repression auferlegt wurde, setzt sich der Kampf für das Recht auf Abtreibung und weitere Frauenrechte fort. Die NGO Ipas, bei der Blandón mitarbeitet, hat sich gemeinsam mit anderen Organisationen in der Grupo Estratégico por la despenalización del aborto („Strategische Gruppe für straffreie Abtreibung“) zusammengeschlossen. Ihre Schwerpunkte sind Bildungsarbeit mit Frauen und die Sensibilisierung der Bevölkerung sowie der politischen Entscheidungsträger, erklärt Blandón.

Die Zahl der Unterstützer*innen der straffreien Abtreibung wächst: 25 Prozent der Parlamentsmitglieder sprechen sich für die Wiedereinführung der straffreien Abtreibung aus, während die Unterstützung der Forderung in der Bevölkerung laut einer Umfrage des Marktforschungsinstituts Cid Galup aus dem Jahr 2009 bei etwa 65 Prozent liegt. Viele Todesfälle während der Schwangerschaft gehen nach Ansicht Blandóns auf unsachgemäß durchgeführte Abtreibungen zurück.

Zweifel an Zahlen der Regierung

Im März 2011 erklärte die nicaraguanische Regierung auf einem ihrer Internetportale, es sei gelungen, die Müttersterblichkeit um 60 Prozent gegenüber den 16 Jahren „neoliberaler Regierungen“ zu senken. Somit sei man kurz davor, das fünfte der Anfang 2000 von der Regierung festgelegten Millenniumsziele zu erreichen. 1999 kamen auf 100.000 Geburten 90 registrierte Todesfälle während der Schwangerschaft. Die Regierung hatte sich seinerzeit vorgenommen, diese Zahl auf 27 zu senken.

Magaly Quintana vom Verband Católicas por el Derecho a Decidir CDD (Katholikinnen für das Recht auf freie Entscheidung), äußerte gegenüber SEMlac große Zweifel an der Zuverlässigkeit der publizierten Daten. Zum einen werde die Öffentlichkeit nicht genügend informiert, und zum anderen sei die zivilgesellschaftlich besetzte Kommission zur Müttersterblichkeit mit dem Regierungsantritt Ortegas abgeschafft worden und könne nun keine unabhängigen Fakten mehr liefern. Vergleiche man die verschiedenen Webportale der Regierung, so bemerke man eine Reihe von Unstimmigkeiten, so Quintana weiter. Beispielsweise werde auf einer Webseite das Millenniumsziel mit einer Reduktion auf 27 Todesfälle in der Schwangerschaft pro 100.000 Geburten beziffert, an anderer Stelle ist von 40 die Rede. Auch bei der Zahl der jährlich verzeichneten Todesfälle unter Schwangeren gibt es Abweichungen. Waren es im ersten Regierungsjahr 2007 noch 107 Todesfälle, war die Zahl 2008 bereits wundersamerweise auf 70 gesunken. Im Jahr vor dem Regierungsantritt des neuen Präsidenten gehörte Nicaragua mit 140 Toten zu den Ländern mit den meisten Sterbefällen in der Schwangerschaft.

Expertinnen halten solche sprunghaften Veränderungen nicht für möglich, denn abgesehen von medizinischen Aspekten wie zum Beispiel etwa 400 registrierten Bauchhöhlenschwangerschaften pro Jahr, beeinflussen auch kulturelle Faktoren die Situation. Zur Unterstützung ihrer Angaben verwies die Regierung auf die Einrichtung mobiler medizinischer Versorgungsstellen, die über eine Million Haushalten auf dem Land aufgesucht hatten, die Ausbildung von über 500 Krankenschwestern und die Einrichtungen von Mütterhäusern, das sich um Frauen mit Risikoschwangerschaften kümmert.

Kritik von Menschenrechtsorganisationen

Die in Washington ansässigen Organisation Human Rights Watch verfasste einen Bericht mit dem Titel: „Höre ihre Stimmen und handle: Gegen Vergewaltigung und sexualisierte Gewalt in Nicaragua“. Der im November 2010 veröffentlichte Bericht spricht von durchschnittlich 170 Todesfällen von Schwangeren auf 100.000 Lebendgeburten pro Jahr.

Auch Amnesty International fordert die Wiedereinführung der medizinischen Indikation. Die Reform des Strafgesetzes sei „ein Rückschritt im Hinblick auf den internationalen Rechtsstandard und entfernt sich bewusst von den Grundsätzen der bewährten Gesundheitspolitik“, so heißt es in einem 51-seitigen Bericht, der Mitte des letzten Jahres veröffentlicht wurde.

Streit um Statistiken

Im Rahmen der 55. Sitzungsperiode des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes, die am 13. September bis 1. Oktober 2010 in Genf stattfand, wurde der Vierte periodische Bericht aus Nicaragua vorgelegt. Die Autonome Frauenbewegung kritisierte an diesem Bericht, dass die Auswirkungen der Abschaffung der medizinischen Indikation in diesem Bericht nicht deutlich würden. Außerdem würden nur „direkte“, das heißt, mit der Schwangerschaft und dem Geburtsvorgang verbundene Todesfälle erfasst sowie diejenigen „indirekten“, die das Resultat eines verschlechterten Gesundheitszustands aufgrund der Schwangerschaft oder eines neu auftretenden gesundheitlichen Problems während der Schwangerschaft sind.

Unberücksichtigt blieben jedoch Morde, Selbsttötungen und tödliche Unfälle. Die Zahl der so genannten indirekten Todesfälle, die durch Krebs, Schilddrüsenunterfunktion und Venenthrombose hervorgerufen werden, ist laut des feministischen Gegenberichts zwischen 2006 und 2007 um zehn Prozent gestiegen. Zwölf der 30 Todesfälle im Jahr 2007 traten infolge eines durch die Schwangerschaft verschlechterten Gesundheitszustands ein und hätten durch eine Abtreibung mit medizinischer Indikation wahrscheinlich vermieden werden können. Die Frauen waren mehrheitlich unter 30 Jahre alt und wohnten in ländlichen Gebieten. Ihr Tod habe etwa 30 Kinder zu Waisen gemacht, erklärt die Autonome Frauenbewegung und bezieht sich dabei auf den Bericht: „Müttersterblichkeit in Nicaragua. Das Leben jeder Frau zählt”(3).

Erhebliche Auswirkungen durch Müttersterblichkeit

Die Auswirkungen der Müttersterblichkeit auf nicaraguanische Familien sind erheblich: Von den 115 Frauen, die im Jahr 2007 an den Folgen einer Schwangerschaft starben, waren 87 bereits Mütter. Mit ihren Tod mussten insgesamt 305 Kinder in Waisenhäusern untergebracht werden.

Expert*innen gehen davon aus, dass durch das Verbot der Abtreibung aus medizinischen Gründen die Zahl der Todesfälle, die eigentlich hätten vermieden werden können, weiter steigen wird. Die Verweigerung der Möglichkeit, aufgrund eines gesundheitlichen Risikos abzutreiben, kommt ihrer Meinung nach einer Todesstrafe für Frauen gleich.

Der Bericht der Autonomen Frauenbewegung bringt seine Kritik an der Strafgesetzreform folgendermaßen auf den Punkt: Den Frauen wird die Möglichkeit zur Abtreibung auch dann verweigert, wenn Leib und Leben in Gefahr sind; gynäkologische Notfälle, die unter anderem durch heimliche Abtreibungen entstehen, werden zeitverzögert behandelt oder gar nicht versorgt, Frauen haben Angst, sich Hilfe zu holen, wenn ein solcher Notfall eintritt, und auch unter dem medizinischen Personal kursiert die Angst, durch ein Eingreifen in Notsituationen den engen gesetzlichen Rahmen zu übertreten.

Backlash für Frauenrechte

Laut Violeta Delgado Sarmiento hat die Rücknahme der gesetzlich garantierten Straffreiheit in Abtreibungsfällen, bei denen eine medizinische Indikation vorlag, die Bewegung sehr in die Defensive abgedrängt. „Die national und international geführten Kampagnen konzentrieren sich seither fast ausschließlich auf die Wiedereinführung der medizinischen Indikation. Im öffentlichen Diskurs geht unsere ursprüngliche Forderung nach Selbstbestimmung über unsere eigenen Körper unter in der Kampagne: ‚Für das Recht auf Abtreibung bei medizinischer Indikation’“, erklärte Delgado gegenüber SEMlac. Welche Auswirkungen die Gesetzesreform beispielsweise auf das Leben von Frauen hat, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind, werde derzeit überhaupt nicht berücksichtigt.

Die von Profamilia im Jahr 2008 durchgeführte Auswertung staatlicher Statistiken zu sexueller Gewalt brachte in Erfahrung, dass auf 4.736 Strafanzeigen wegen sexueller Gewalt lediglich 172 Verurteilungen folgten; das entspricht 3,6 Prozent. Im Rahmen der Studie konnte nicht ermittelt werden, wie viele der sexuellen Übergriffe zu Schwangerschaften führten. Ein großer Teil der Opfer sind jedoch Frauen im gebärfähigen Alter. Was die Untersuchung außerdem zu Tage führte, war die Tatsache, dass ein Viertel der Übergriffe von einem Erziehungsberechtigten (Vater oder Stiefvater) begangen wurden. Etwa die Hälfte gab den Freund oder Verlobten als Täter an. Darin zeigt sich, wie alltäglich sexueller Missbrauch innerhalb von Beziehungen auftritt. 85 Prozent der betroffenen Frauen sind unter 18 Jahre. Die Untersuchung macht ferner deutlich, dass Beeinträchtigung der Fruchtbarkeit, psychische und soziale Probleme bis hin zu Selbstmord, posttraumatischem Stresssyndrom, psychischen Krankheiten und ungewollten Schwangerschaften zu den häufigsten Folgen einer Vergewaltigung zählen. Dazu kommen durch Geschlechtsverkehr übertragbare Krankheiten, HIV/Aids, selbst zugefügte Verletzungen sowie ein vermindertes Gespür für den eigenen Selbstschutz, das sich in häufigem Wechsel der Partner oder in Drogenkonsum ausdrückt, dies insbesondere als Folge von sexuellen Missbrauchserfahrungen in der Kindheit.

Staatliche Gleichgültigkeit gegenüber sexuellem Missbrauch

Wie im März 2011 bei der Anhörung über die Situation der Frauen in Nicaragua vor dem Interamerikanischen Gerichtshof bekannt wurde, waren Medienberichten zufolge zwischen 2005 und 2007 198 Schwangerschaften als Folge von sexuellem Missbrauch entstanden. 172 der betroffenen Mädchen waren zwischen 10 und 14 Jahre alt und in manchen Fällen sogar gezwungen, die Mutterrolle für die durch Vergewaltigung entstandenen Geschwister zu übernehmen.

Nach Ansicht Delgados bedarf es dringend einer verbesserten Kommunikationsstruktur, damit in der Öffentlichkeit stärker wahrgenommen wird, wie wenig sich die Behörden mit diesem Problem befassen. Die Gleichgültigkeit der rechtlichen Instanzen fördere die Straflosigkeit und die Verletzung der Menschenrechte von Frauen bis hin zum fundamentalen Recht auf Leben. Es sei wichtig, sich mit anderen Gruppierungen zu vernetzen, „damit die Forderung nach straffreier Abtreibung von allen Frauengruppen getragen und als gesamtgesellschaftliche Forderung anerkannt wird.“

Gemeldete Missbrauchsfälle steigen an

Aus den Listen der Kommissariate für Delikte gegen Frauen in Nicaragua geht hervor, dass die Anzeigen wegen häuslicher Gewalt von 8.856 im Jahr 2007 auf 24.647 im Folgejahr gestiegen sind. 76 Prozent der Verbrechen wurden innerhalb der Familie im eigenen Haushalt verübt. Wie die Polizei berichtet, wurden zwischen 1998 und 2008 14.377 Fälle von sexuellem Missbrauch gemeldet, das heißt, jeden Tag werden durchschnittlich fast vier Frauen sexuell belästigt oder vergewaltigt. Von den Opfern sind zwei Drittel unter 17 und etwa die Hälfte weniger als 14 Jahre alt (4).

Wie das rechtsmedizinische Institut IML (Instituto de Medicina Legal) berichtet, ist in der Gerichtsmedizin die Zahl der Vergewaltigungsfälle im Jahr 2009 um 43,7 Prozent gegenüber 2005 gestiegen (5). Die meisten Opfer (60 Prozent) sind zwischen 11 und 17 Jahren alt, die nächstgrößte Altersgruppe ist bis zehn Jahre alt (25 Prozent). Das bedeutet, rund 85 Prozent der Opfer sind unter 18. Ein erschreckendes Resultat, insbesondere, wenn man die erheblichen physischen und psychischen Schäden bedenkt, die die Opfer durch die Übergriffe erleiden.

Im Jahr 2009 registrierte das IML 413 Fälle von sexueller Gewalt pro Monat, das bedeutet, alle zwei Stunden wird eine Frau Opfer eines sexuellen Übergriffs. Gleichzeitig wird vermutet, dass nur etwa zehn Prozent der tatsächlichen Fälle im ganzen Land überhaupt registriert werden (6).

Seit mit der Gesetzesreform 2007 auch die Abtreibung aus medizinischen Gründen kriminalisiert wurde, haben Mädchen, Jugendliche und erwachsene Frauen in Nicaragua keine Möglichkeit mehr, legal abzutreiben, auch wenn die Schwangerschaft das Ergebnis eines Verbrechens ist. Während immer mehr und mit immer größerer Brutalität verübte Gewalttaten registriert werden, ändert sich an dem Faktum der Straflosigkeit nichts. Selten gelangen die Fälle vor Gericht. Wenn es zur Verurteilung kommt, fallen die Strafen milde aus. Im Jahr 2007 wurde lediglich in einem Viertel der angezeigten Fälle, das heißt in 29.489 Fällen insgesamt, Klage erhoben. 2008 sank die Zahl auf 28.451, das entspricht 16 Prozent (7).

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums lag der Anteil der Minderjährigen an den im Jahr 2005 registrierten Fällen von Müttersterblichkeit bei 16,8 Prozent. Zwei Jahre später war er bereits auf 20 Prozent gestiegen. Besonders erschreckend sind die Selbsttötungen unter schwangeren Frauen und Mädchen. Etwa 30 Prozent sind unter 18, und bei einem großen Teil geht die Schwangerschaft auf eine Vergewaltigung zurück. Einige Ärzte zeigen sich besorgt angesichts der Tatsache, dass viele der jungen Frauen an einer Intoxikation durch Medikamente, die in die Vagina eingeführt werden, sterben. Während das Gesundheitsministerium auch diese Fälle als Selbstmorde deklariert, gehen viele Ärzte davon aus, dass es sich hier um die Folgen gescheiterter Abtreibungsversuche handelt (8).

Anmerkungen:

1 Martha María Blandón, IPAS-Leiterin und seit langem in der feministischen Bewegung aktiv.

2 Juanita Jiménez, feministische Anwältin und Koordinatorin der Autonomen Frauenbewegung (Movimiento Autónomo de Mujeres).

3 Siehe Karen Padilla K: Müttersterblichkeit in Nicaragua: Das Leben jeder Frau zählt”, Ipas Centroamérica, Managua, 2008.

4 Jährliche Polizeistatistik 2008, zitiert von Amnesty International. No más violación ni violencia sexual contra niñas en Nicaragua”, (Schluss mit der Gewalt und den Vergewaltigungen von Mädchen in Nicaragua), 2010, S. 5 5 Statistikabteilung der Rechtsmedizin. 2005: 3.450 Fälle. 2009: 4.961 Fälle.

6 Dr. Zacarías Duarte Castellón, Direktor des IML. Bericht über die Tendenzen im Problemfeld Gewalt innerhalb der Familien in Nicaragua 2005-2009.

7 Bericht zur Vorlage bei der Interamerikanischen Kommission über die Situation von Frauen in Nicaragua, März 2011.

8 Bericht über die Nichtbeachtung der Interessen von Mädchen und Jugendlichen durch die Kriminalisierung der medizinischen Indikation als Antwort auf den Vierten periodischen Bericht aus Nicaragua. Autonome Frauenbewegung. 55. Sitzungsperiode des Komitees für die Rechte des Kindes, die vom 13. September bis ersten Oktober 2010 in Genf stattfand.

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