Initiative will Calderón vor den Internationalen Strafgerichtshof bringen

von Wolf-Dieter Vogel

(Berlin, 14. Oktober 2011, npl).- Wer der Meinung ist, die Situation in Mexiko erfordere eine Klage beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), hat eine falsche Wahrnehmung der Realität des Landes. Das erklärte der mexikanische Präsident Felipe Calderón am Donnerstag (13. Oktober). Der Staatschef reagierte damit auf eine Aktion von Anwälten, Menschenrechtsverteidigerinnen, Journalisten und Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft, die Calderón sowie andere ranghohe Politiker und Mafiabosse bei den Haager Richtern anzeigen wollen. „In unserem Land ist die Gesellschaft nicht Opfer einer autoritären Regierung oder von systematischem Missbrauch durch die Armee“, sagte Calderón und wies die Vorwürfe der Gruppe zurück.

50.000 Tote durch Calderóns „Drogenkrieg“

Die Initiator*innen der Klage hatten ihr Projekt am Dienstag (11. Oktober) der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Grund: Mit seiner Kriegserklärung an die Mafia vom Dezember 2006 habe der Präsident Mexiko in eine humanitäre Krise gestürzt, wie sie das Land in ihrer neueren Geschichte noch nicht erlebt habe. 50.000 Menschen seien seither gestorben, 230.000 vertrieben worden, 10.000 verschwunden. „Es findet eine konstante Verletzung von Menschenrechten an der Zivilbevölkerung statt, besonders betroffen sind Frauen und Migranten, die zu ständigen Opfern von Akteuren der Regierung und der Organisierten Kriminalität werden,“ heißt es in der Klage, die bereits von 20.000 Menschen per Unterschrift unterstützt wird.

Zwischen 2006 und 2011 habe es 5.369 Menschenrechtsklagen gegen Armeeangehörige gegeben, reagierte der Anwalt der Kläger*innen, Netzaí Sandoval, auf Calderóns neuerlichen Versuche, das Militär in Schutz zu nehmen. „Das ist keine Frage der Meinung“, sagte er, „die Nationale Menschenrechtskommission hat die Verbrechen von Angehörigen der Streitkräfte, der Marine und des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit dokumentiert: Folter, Vergewaltigungen, Morde.“

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Neben Calderón und drei seiner Minister steht auch der Chef des Sinaloa-Kartells, Joaquín „Chapo“ Guzmán auf der Liste, die die Gruppe am 25. November dem Chefankläger des IStGH Luis Moreno Ocampo überreichen will. Der Vorwurf: Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Auch in einem Krieg existierten Grenzen, heißt es in der Anzeige, und die seien von beiden Seiten in katastrophaler Weise überschritten worden.

Nach Ansicht Calderóns gibt es keinen Grund dafür, dass das internationale Gericht tätig werden müsse. Das sei nur dann notwendig, wenn ein Staat schwere Verbrechen nicht selbst strafrechtlich verfolgen wolle oder könne. Und dies sei in Mexiko nicht der Fall, findet der Staatschef. Die Kläger*innen sind gegenteiliger Meinung und wenden sich gerade deshalb an das internationale Gericht. Sie sprechen von einer „strukturellen Straflosigkeit“, in der nur zwölf Prozent aller Delikte angezeigt würden und nur in acht Prozent der Fälle ermittelt würde. „Die fehlende Autonomie der Generalstaatsanwaltschaft und die Immunität der Exekutive auf Bundesebene schaffen eine Situation, in der es faktisch unmöglich ist, dass nationale Instanzen gegen hohe zivile und militärische Funktionsträger wegen ihrer Verantwortung für diese humanitäre Krise prozessieren und ein Urteil fällen.“

„Es lohnt sich, ein Exempel zu statuieren“

Ob die Klage vor dem Internationalen Strafgerichtshof Aussicht auf Erfolg hat? „Es ist ein langer Weg, aber er lohnt sich, um eine Exempel zu statuieren“, erklärt Anwalt Sandoval. Ist die Klage erst einmal abgegeben, muss die Behörde zunächst prüfen, ob die Vorwürfe stichhaltig sind. Das könnte ein Jahr dauern, Calderóns Amtszeit endet im Dezember 2012. Anklage wird nur erhoben, wenn eines der vier Verbrechen vorliegt, für die das Haager Gericht zuständig ist: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Völkermord oder Angriffskrieg. Da Vergewaltigungen, Verschwindenlassen, Vertreibung und Folter als Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesehen werden, könnten also theoretisch eines Tages tatsächlich zwei Männer auf der Anklagebank sitzen, die derzeit noch – zumindest augenscheinlich – als Kontrahenten agieren: Felipe Calderón und Joaquín Chapo Guzmán.

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