Baguazo: Über jeden Verdacht erhaben

von Patricia Wiesse Rizo-Patrón

(Berlin, 27. Juni 2011, servindi).- Das Parlament hat am vergangenen 10. Juni mehrheitlich dem Bericht über die Vorfälle von Bagua zugestimmt, in dem die damals zuständigen Ex-Minister*innen von jeder Verantwortung für die tödlichen Ereignisse freigesprochen werden. Eine abermalige Verhöhnung der Opfer.

Makellose Westen

In der zweiten Juniwoche konnte man noch einmal beobachten, dass Lektionen in diesem Land lediglich kurz aufgeschnappt und dann wieder vergessen werden. Dass Risse in der Amtstracht nach nur wenigen Tagen wieder zugenäht sind. Die Westen von Mercedes Cabanillas (ehemalige Innenministerin, Regierungspartei APRA), Yehude Simon (ehemaliger Premierminister von 2008 bis 2009 und aktueller Abgeordneter für die bürgerliche „Allianz für den großen Wandel“; Alianza por el Gran Cambio) und Mercedes Aráoz (ehemalige Außenhandels- und Tourismusministerin, parteilos) sind makellos, nachdem ein zaghafter und nichtssagender Bericht verfasst wurde – um sie von aller Schuld freizusprechen und dadurch Verbindungen und Gefälligkeiten zwischen APRA- und Fujimori-Anhänger*innen zu Gunsten einer stärkeren Zusammenarbeit beider Parteien zu fördern.

Die „Geburt der Vierlinge“

Um zu verstehen, weshalb dieser von Martha Moyano (Fuerza 2011), Juan Perry (Alianza Nacional) und Eduardo Espinoza (UPP – Union für Peru; Unión por el Perú;) eingebrachte Bericht zum einzigen im Parlament diskutierten Papier werden konnte, müssen wir uns vergegenwärtigen, wie es zu diesem Unsinn kommen konnte: Vor einem Jahr brachte das peruanische Parlament nämlich Vierlinge zur Welt. Dazu kam es, weil sich die zur Untersuchung der Vorfälle in Bagua gegründete Kommission nicht einigen konnte und sich aufspaltete.

So fasste Güido Lombardi zunächst einen Bericht ab, der zur Mutter aller anderen wurde. Ein anderes Mitglied der Kommission und Mitglied der Peruanischen Nationalistischen Partei PNP (Partido Nacionalista Peruano) des neuen Präsidenten Ollanta Humala, Víctor Isla, war mit den Schlussfolgerungen und Empfehlungen Lombardis nicht einverstanden und präsentierte eine abgewandelte Version des ursprünglichen Berichts. Die Abgeordneten Falla und Calderón von der Populären Revolutionären Amerikanischen Allianz APRA (Alianza Popular Revolucionaria Americana), der Partei des noch bis 28. Juli amtierenden Präsidenten Alan García, verloren dann auch alle Hemmungen und verfassten ein Papier, das peinlich berührt. Und schließlich geschah das Unerwartete: Moyano, Perry und Espinoza setzten sich durch – mit ihrem von allen Konfliktpunkten bereinigten Bericht.

Verstümmelter Lombardi-Bericht

Moyano und seinesgleichen haben das von Lombardi vorgestellte Papier schlichtweg verstümmelt. Sie strichen einen Teil der Analyse sowie einige Schlussfolgerungen und würzten den Bericht mit Anschuldigungen an Nichtregierungsorganisationen (NRO) und lokale Führungspersönlichkeiten. Sie fügten einen Teil des nicht vorzeigbaren Berichts der APRA-Abgeordneten ein, in dem die Position vertreten wird, die indigenen Gemeinden wären von subversiven Elementen infiltriert gewesen. Glücklicherweise haben sie jenen Teil vergessen einzufügen, in dem die APRA-Parlamentarier ohne rot zu werden konstatieren, die Polizisten von Major Bazán seien an jenem 5. Juli 2009 von Tausenden Indigenen in einen Hinterhalt gelockt und eingekesselt worden. Dann hätten sie den Sicherheitskräften die Waffen abgenommen und zuerst geschossen.

Übernommen haben sie allerdings die Schlussfolgerungen des Lombardi-Berichts zur politischen Verantwortung der Exekutive, weil diese Dekrete veröffentlicht habe, sowie der politischen Verantwortung der Minister*innen, weil sie die Dekrete unterzeichnet hätten. Das betrifft die damalige Innenministerin Mercedes Cabanillas, weil sie ihrer politischen Führungsrolle nicht gerecht wurde, den ehemaligen Premierminister Yehude Simon, weil er keinerlei Schritte unternahm, um die Situation zu entschärfen, und Mercedes Araóz, weil sie nachlässig und fahrlässig handelte.

Parlamentsdebatte abgewürgt

Alle Berichte stimmen in dem Punkt überein, dass das Agieren der verantwortlichen Polizeiaktionen vor Gericht gehört. (Am Ende hat die ganze Härte des Gesetzes die beiden Generäle Muguruza und Uribe und vier weitere Polizisten getroffen, die wegen schweren Mordes sowie schwerer und leichter Körperverletzung angeklagt wurden). Es ist tragisch, dass die Berichte von Lombardi und Isla nicht mehrheitsfähig waren bzw. diese beiden Abgeordneten sich nicht haben einigen können. (Doch selbst wenn es den beiden gelungen wäre sich zu verständigen, hätte ihnen noch eine weitere Unterschrift gefehlt.) Die Diskussion eines dieser Dokumente hätte eine wirkliche Debatte zur Folge gehabt, eine scharfe und stechende, die mit beispielhaften Sanktionen geendet hätte statt mit der Farce, dass der Kongress alle Fehler, Mängel, Voreingenommenheiten, Meinungsverschiedenheiten und Lügen reproduziert, die den Konflikt vom 5. Juni 2009 ausmachten.

Lombardi fordert Sanktionen gegen PolitikerInnen

Die beiden Abgeordneten Lombardi und Isla waren von Beginn an mit der Untersuchung betraut und arbeiteten gemeinsam an dem Bericht – bis zu dem neuralgischen Punkt, der sie entzweite: Dabei handelte es sich um die strafrechtliche Verantwortung von einigen Mitgliedern der Regierung. An diesem Punkt ging Isla eben noch einen Schritt weiter, als er auch Präsident García für strafrechtlich verantwortlich erklärte, ebenso wie die Ex-Ministerin Cabanillas (wegen fahrlässiger Tötung) und die ehemalige Ministerin Aráoz (wegen der Vorspiegelung falscher Tatsachen). Es war ein gewagter Schritt, juristisch anfechtbar, auf jeden Fall aber mutig.

Ein Jahr später ging Lombardi vor die Medien, um zu verkünden, dass es nicht ausreiche, politische Verantwortung anzuerkennen, wenn dies nicht von einer verfassungsgemäßen Anklage oder irgendeiner Sanktion begleitet sei, wie etwa dem Verbot Ämter im öffentlichen Sektor zu bekleiden. Im Fall von Cabanillas erklärte er, sie habe völlig verantwortungslos gehandelt, als sie am Mittag des 5. Juni, drei Stunden vor dem Tod der Polizisten in der Station 6, dem Sender RPP (Radio Programas del Perú) erklärte, die Station 6 sei unter Kontrolle. Und dies ist nur eine von vielen Fehleinschätzungen, die das bedauerliche Agieren der damaligen Innenministerin während der Auseinandersetzungen kennzeichnen.

Strafrechtliche Verfolgung nur bei Polizei und Indigenen

Im Klartext: Die Härte des Gesetzes wird nur die verantwortlichen Polizisten des Einsatzes sowie die indigenen Führungspersönlichkeiten treffen, die den legitimen Protest in Verteidigung ihrer Territorien anführten. Derzeit liegt gegen 80 indigene Verantwortungsträger*innen ein Haftbefehl vor. Die Lage dieser Menschen ist unhaltbar, denn sie können aufgrund des Haftbefehls ihre Territorien nicht verlassen, können weder arbeiten noch ihre Produkte verkaufen, so dass Ernährung und Ausbildung ihrer Kinder in Gefahr sind. Am bedauerlichsten ist jedoch, dass jene, die nun beschuldigt werden, weder diejenigen sind, die am Ort der Auseinandersetzung, der Curva de Diablo (Kurve des Teufels), geschossen haben, noch sind es jene, die die Polizisten in der Station 6 ermordeten. Es sind die sichtbarsten und bekanntesten Führungspersönlichkeiten der Region, die den friedlichen Protest angeführt hatten und jene Indigenen nicht kontrollieren konnten, die sich für ein gewaltsames Agieren entschieden.

Der Fall Simón Weepiu

Am bekanntesten ist der Fall von Simón Weepiu. Ihm werden Entführung, Mord und schwere Körperverletzung vorgeworfen. Bei ihm handelt es sich um einen geistigen und Gemeindeführer (Apu), der mehr als 50 Tage in der Station 6 zugegen war. Er unterhielt gute Beziehungen mit den Arbeiter*innen und mit den Polizist*innen – bis die Station am 5. Juni von einer wütenden Menschenmenge gestürmt wurde, der viele Menschen aus dem Gebiet des Ober- und Mittellauf des Flusses Santiago angehörten, wie auch zahlreiche Personen, die niemand kannte. Simon Weepiu wurde ebenso wie Polizeikommandant Montenegro zu Boden geworfen, mit Füßen getreten und geschlagen. Die Menge ließ ihn mit blutverschmierter Hose auf dem Boden liegen. Ehe die Polizisten auf den Berg gebracht wurden, musste er aus der Station 6 fliehen, um sein Leben zu retten.

Nach den Geschehnissen von Bagua haben die Regierung und das Volk der Awajún ihre Beziehungen abgebrochen. Es sieht so aus, als sei ein irreparabler Schaden entstanden.

[Erstveröffentlichung bei: Justicia Viva. Veröffentlicht am 16. Juni 2011]

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