Was steckt hinter dem Bandenkrieg?

(New York, 21. Juli 2022, insight crime).- Während Gewalt und Morde in ganz Haiti in die Höhe schnellen, ist das Armenviertel Cité Soleil in der Hauptstadt Port-au-Prince zum jüngsten Schlachtfeld zweier gut bewaffneter und gut vernetzter Bandenbündnisse geworden.

Nach wochenlangen heftigen Kämpfen mit mehreren hundert Todesopfern votierten die Vereinten Nationen am 16. Juli einstimmig dafür, den Verkauf von Kleinwaffen und Munition an Haiti zu verbieten, obwohl ein vollständiges Embargo für alle Waffenverkäufe abgelehnt wurde. Der UN-Sicherheitsrat forderte die Mitglieder auf, „den Transfer von Kleinwaffen, leichten Waffen und Munition an nichtstaatliche Akteure, die an bandenmäßiger Gewalt beteiligt sind oder diese unterstützen, zu verbieten“.

Die meisten momentanen Kämpfe in Haiti sind auf einen langwierigen Konflikt zwischen zwei Bandenverbänden zurückzuführen: Der „G9 und Familie“ (G9 an fanmi – G9), die mit der regierenden haitianischen Tèt Kale-Partei (Parti Haïtien Tèt Kale – PHTK) verbunden ist, und der rivalisierenden Bande G-PEP, die von den politischen Gegner*innen der PHTK unterstützt wird.

Armenviertel Cité Soleil Brennpunkt der Kämpfe

Während große Teile der Hauptstadt betroffen sind, war das südlich gelegene Stadtviertel Cité Soleil, lange Zeit eine Hochburg der G-PEP, ein zentraler Brennpunkt der jüngsten Kämpfe. Ihre Bewohner*innen werden seit Anfang Juli durch die ständigen Schießereien im Viertel praktisch als Geiseln gehalten. Aus einem von Ärzte ohne Grenzen veröffentlichten Bericht geht hervor, dass Tausende von Menschen durch die Gewalt eingeschlossen sind, ihre Häuser nicht verlassen können und keinen Zugang zu Wasser, Strom, medizinischer Versorgung oder funktionierenden Toiletten haben. Nach Angaben des Nationalen Netzwerks zur Verteidigung der Menschenrechte in Haiti (Réseau National de Défense des Droits de l’Homme – RNDDH) wurden allein in Cité Soleil etwa 89 Menschen getötet, wobei diese Zahl wahrscheinlich noch steigen wird.

„Die Gemeinde hat keine Polizisten, kein Gericht. Der Staat muss zurückkommen, wir müssen Projekte durchführen, um diesen jungen Menschen, die sich gegenseitig umbringen, Alternativen zu bieten“, so der Bürgermeister von Cité Soleil, Joël Janéus, gegenüber Le Nouvelliste.

Enge Verbindungen zwischen Banden und politischen Parteien

In Haiti gibt es seit langem enge Verbindungen zwischen Banden und politischen Parteien. Diese politischen Verbindungen haben den Banden Schutz geboten und ihnen durch „Verträge“ mit der Regierung direkten Zugang zu Finanzmitteln verschafft, während sie im Gegenzug oppositionelle Bewegungen unterdrückt und die soziale Ordnung in den verarmten Vierteln aufrechterhalten haben.

Im Laufe des vergangenen Jahres haben die wichtigsten Bandenverbände des Landes ihre Rolle als faktische Herrscher in den ärmeren Gebieten gefestigt und gleichzeitig Erpressungen und Entführungen ausgeweitet, um ihre Einnahmen zu steigern. Die rivalisierenden politischen Parteien sind bestrebt, diese Kontrolle für Wahlerfolge auszunutzen, doch angesichts der ausgeprägten Schwäche des Staates, die sich durch die Ermordung des ehemaligen Präsidenten Jovenel Moïse noch verschlimmert hat, sind solche Erfolge schwieriger zu erreichen.

G9 wurde von Präsident Moïse unterstützt

Die G9 unter der Führung von Jimmy Chérizier alias „Barbecue“ genoss unter dem ermordeten Präsidenten Moïse die Unterstützung der PHTK. Barbecue brach 2021 die Beziehungen zur PHTK allerdings ab, weil er durch seine Vorherrschaft über weite Teile von Port-au-Prince eine große Anzahl von Wahllokalen kontrollieren konnte, insbesondere in Gebieten wie Martissant und Lower Delmas. Das genaue Ausmaß der staatlichen Unterstützung für die G9 ist unklar, obwohl das RNDDH am 13. Juli berichtete, dass die G9 vom Nationalen Ausrüstungszentrum (CNE) „schwere Maschinen für die Zerstörung von Häusern und das Graben eines Durchgangs“ als Unterstützung für ihre Kämpfe erhalten hat.

Aber auch Barbecues Hauptkonkurrent, Gabriel Jean-Pierre alias „Gabriel“ ist nicht untätig geblieben. Der Anführer des rivalisierenden G-PEP-Bündnisses hat sich zuvor eine gewisse Unterstützung der politischen Opposition gesichert. Außerdem hat er sein Bündnis um die Bande 400 Mawozo erweitert, die die Kontrolle über zahlreiche wichtige Gebiete in der Umgebung der Hauptstadt übernommen hat.

Fusion von G-PEP und 400 Mawozo

Nachdem ihr Anführer im Mai 2022 an die USA ausgeliefert wurde und 400 Mawozo unter dem Druck von Polizeirazzien stand, scheint sich die Bande auf der Suche nach einer zuverlässigen neuen Führung an Jean-Pierre gewandt zu haben. Eric Calpas, ein Bandenforscher in Haiti, erklärte gegenüber InSight Crime, dass dieser Zusammenschluss durch den Zustroms neuer Mitglieder und Einnahmen auch der G-PEP zugute kam.

„Gabrielles Gruppe war eher eine politische Gang mit einer starken Verbindung zu Lavalas“, erklärte Calpas. Damit bezog er sich auf die politische Bewegung Lavalas, die heute als Organisation des kämpfenden Volkes (Òganizasyon Pèp Kap Lité – OPL) bekannt ist. Die G-PEP steht zwar nach wie vor in enger Verbindung zu den Oppositionsparteien, doch ist unklar, inwieweit sie heute materielle oder finanzielle Unterstützung von diesen erhält.

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