Poonal Nr. 101

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 101 vom 12.07.1993

Inhalt


HAITI

LATEINAMERIKA/BRD


HAITI

Unklares Abkommen über Rückkehr Aristides

(Port-au-Prince, 6. Juli 1993, HIB-POONAL).- Der haitianische Präsident Jean-Bertrand Aristide hat das Abkommen mit Armeechef General Raoul Cedras, das er anfangs als nicht akzeptabel abgelehnt hatte, unter dem Druck der UNO und der USA unterzeichnet. Das Abkommen, das der UNO/OAS-Sonderberater Dante Caputo in New York zur Unterzeichnung vorlegte und das Die Rückkehr des noch im Exil lebenden Präsidenten vorsieht, birgt nach Ansicht von Aristide große Gefahren für Haitis Rückkehr zur Demokratie. Gegen die Einwände des haitianischen Präsidenten wurde eine massive Pressekampagne entfacht, die Cedras (einer der Hauptverantwortlichen des Putsches) als „vernünftige“ Person präsentierte und Aristide Unversöhnlichkeit unterstellte; öffentliche Stellungnahmen von US-Außenminister Warren Christopher bis hin zu UNO-Generalsekretär Boutros Ghali, die Aristide zur Unterzeichnung drängten, vermittelten den Eindruck, Aristide sperre sich gegen eine Lösung. Zahlreichen unabhängigen Quellen zufolge wurde Aristides Stab mitgeteilt, daß die UNO das Abkommen „mit oder ohne Sie“ vorantreiben würde.

Noch im vergangenen Monat hatte Aristide gesagt, daß er mit dem illegalen Regime erst reden würde, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt seien. Caputo und die US-Regierung hatten aber offensichtlich andere Vorstellungen und die „Verhandlungen“ geplant. Bereits am 23. Juni präsentierte der US-Beauftragte Charles Redman haitianischen Geschäftsleuten, die mit den Putschisten sympathisieren, das Abkommen mit der Aufforderung, es zu unterstützen. An dem Abkommen wurden daraufhin ein paar Veränderungen vorgenommen; und gemeinsam mit einem Zusatzabkommen zwischen Aristide und dem internationalen Vermittler begann damit eine neue Etappe in dem seit 21 Monate währenden Kampf um Aristides Rückkehr.

Im folgenden eine Zusammenfassung der wesentlichen Punkte und größten Risiken des Abkommens.

1. Das Abkommen enthält einen Appell zur „Normalisierung des Parlaments“, nachdem selbiges sich in eine Fraktion für die Demokratie und eine Fraktion für den Putsch gespalten hat. Letztere schließt dreizehn illegale Mitglieder ein, die bei den Scheinwahlen am 18. Januar gewählt wurden. Obwohl diese Wahlen von der ganzen Internationalen Gemeinschaft verurteilt worden sind, erwähnt das Abkommen an keiner Stelle, daß diese Leute vom Parlament ausgeschlossen werden müssen. Die illegalen Mitglieder beanspruchen weiterhin ihre Legitimität. Die Gefahr: die „Putsch- Fraktion“ kontrolliert mit den illegalen Mitgliedern das Parlament.

2. Aristide soll den Premierminister bestimmen.

3. Der von Aristide ernannte Premierminister muß vom Parlament bestätigt werden. Die Gefahr: Wenn die Nicht-Demokrat*innen das Parlament kontrollieren, können sie Aristides Regierungschef ablehnen und mit einer endlosen Verzögerungstaktik Aristide eine andere KandidatIn aufzwingen.

4. Das Embargo soll nach der Ratifizierung des Abkommens aufgehoben werden, obwohl Aristide sich dann noch außer Landes befindet – seine Rückkehr ist für den 30. Oktober geplant. Die Gefahr: Die Putschisten könnten viele Lebensmittel einlagern, wie gehabt zu ihren Geschäften zurückkehren und neue Verzögerungs- oder Ablenkungsmanöver einleiten.

5. Das Abkommen enthält einen Aufruf, die internationale Hilfe für Haiti wieder aufzunehmen, (unter anderem auch die „Modernisierung“ des Militärs), obwohl viele Stellen ihre Unterstützung unmittelbar an die Anwesenheit von Aristide geknüpft hatten. Die Gefahr: Die „technische Hilfe“ könnte eine verschleierte Präsenz ausländischer Streitkräfte bedeuten, etwa in Form von „Technikern“ oder „Ausbildern“. Aristide hat sich wiederholt gegen jedwede Form von Intervention ausgesprochen.

6. Die Putschführer sollen dem Abkommen zufolge amnestiert und „weitere Instrumente“ vom Parlament entlastet werden. Die Gefahr: Wenn die Putschisten das Parlament kontrollieren, können sie eine Generalamnestie für alle in den vergangenen 21 Monaten begangenen Verbrechen erlassen. Aristide und die Mehrheit der Haitianer*innen sind dagegen.

7. Noch unter der Befehlsherrschaft von Cedras soll eine neue Polizei geschaffen werden. Die Gefahr: Cedras könnte die Polizeieinheiten mit seinen Gefolgsleuten besetzen. Er hatte bereits mehrfach angekündigt, daß „seine“ Soldaten von einer Entlassung verschont bleiben und er sie beschützen werde.

8. Cedras soll am 29. Oktober in den „vorzeitigen Ruhestand“ versetzt werden, einen Tag vor der geplanten Rückkehr von Aristide. Die Gefahr: In den kommenden vier Monaten können Cedras und seine Verbündeten die repressiven Strukturen verfestigen.

9. Aristide soll am 30. Oktober oder früher, „wenn es möglich ist“, zurückkehren. Die Gefahr: Die Streitkräfte und ihre paramilitärischen Verbündeten können Ablenkungsmanöver einleiten und für Gewaltausschreitungen sorgen, wodurch die Rückkehr Aristides für unbestimmte Zeit verzögert werden könnte. Außerdem könnte der Nationale Sicherheitsrat eine „humanitäre“ ausländische Militärintervention anfordern.

Diese Einwände Aristides gegen das von Caputo vorgelegte Abkommen wurden auf bösartige und hinterhältige Weise in der Öffentlichkeit gegen den haitianischen Präsidenten eingesetzt. Das Abkommen und die Art und Weise, in der Aristide zur Unterschrift gezwungen wurde, veranschaulichen einen Mangel an Ethik seitens der UNO- Verhandlungspartner und insbesonderes des mächtigsten Mitglieds des UNO-Sicherheitsrats: der US-Regierung.

Gegner*innen und Anhänger*innen Aristides werten Abkommen als Erfolg

(Port-au-Prince, 5. Juli 1993, HIB-POONAL).- Zwei Tage nachdem Präsident Jean-Bertrand Aristide und Infanteriegeneral Raoul Cedras das Abkommen unterzeichnet haben, das die politische Krise in Haiti lösen soll, herrscht in der haitianischen Hauptstadt eine angespannte Stimmung.

Im gleichen Maße, in dem einige der Mitglieder der demokratischen Fraktion das Abkommen als Fortschritt für die Rückkehr Aristides betrachten, wird es auch im putschistischen Lager als Sieg aufgenommen. Tatsächlich wurde Cedras bei seiner Rückkehr aus New York am 3. Juli ein großer Empfang bereitet und von seinen Anhänger*innen mit einem Hupkonzert auf dem Weg vom Flughafen zum militärischen Hauptquartier begleitet. Cedras erschien triumphierend im staatlichen Fernsehen, wo er zynisch erklärte, daß in seiner Abwesenheit nicht ein einziger Schuß gefallen sei – in Wirklichkeit war die Repression extrem gestiegen.

Im demokratischen Lager herrschte indes weitgehend Konsens, daß Aristide mittels öffentlichen und privaten Drucks gezwungen worden war, das Abkommen zu unterzeichnen. US-Außenminister Warren Christopher etwa hatte das Abkommen als „goldene Gelegenheit“ bezeichnet. Die Mitglieder von Aristides Stab erhielten zahlreiche Anrufe von US-Kongreßabgeordneten, Diplomat*innen und Angehörigen der UNO und der OAS, die sie drängten, das Abkommen zu unterstützen. Ein Mitglied des Stabs von Aristide teilte mit, man habe gedroht, das Embargo aufzuheben, wenn sie nicht unterzeichneten.

Aristide soll Spekulationen zufolge zwei Zusatzabkommen unterschrieben haben, die Garantien für seine persönliche Sicherheit enthalten und ihm den Zugriff auf die staatlichen Kommunikationsmedien sichern. Dies wurde aber bislang nicht offiziell bestätigt.

Die bestehende Unklarheit über die Abkommen hat in der Bevölkerung zu Ernüchterung und pessimistischen Erwartungen geführt – ein Ergebnis, aus dem in erster Linie die Gegner Aristides Kapital schlagen können.

LATEINAMERIKA/BRD

Fonds für die indigenen Völker: „Ein Werk später Gerechtigkeit“

(La Paz/Bonn, Juni 1993, APIA-POONAL).- Der Fonds zur Entwicklung der indigenen Völker Lateinamerikas und der Karibik, der vom damaligen bolivianischen Präsidenten Jaime Paz Zamora beim Iberoamerikanischen Gipfeltreffen 1991 in Mexiko vorgeschlagen und 1992 in Madrid unter der Beteiligung 17 lateinamerikanischer Staaten sowie Spanien und Portugal konstitutiert wurde, hat kürzlich auch die deutsche Regierung und Presse beschäftigt. Bei seinem letzten Deutschlandbesuch hat der bolivianische Präsident „seinen“ Fonds in Bonn und bei der Gouverneursversammlung der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID) in Hamburg vorgestellt. In diesen Gesprächen zwischen Lateinamerikaner*innen und Europäer*innen sei jedoch ein unzureichendes Wissen über die sozialen und politischen Ursachen, die diesen Fonds notwendig machen, hervorgetreten.

Der Fonds hat seinen Sitz in La Paz, Bolivien. Dort arbeitet bereits ein „Technisches Sekretariat“ und führt Evaluierungsstudien für zukünftige Entwicklungsprojekte des Fonds durch. Zwischenzeitlich erhöhte sich die Anzahl der Signatarstaatendes Fonds von 19 auf 20; nachträglich unterzeichnete auch Peru. In Bolivien wurde der Konstituierungsvertrag sogar in nationales Recht überführt.

SPD fordert Beitritt Deutschlands

Im Deutschen Bundestag bereiten SPD-Politiker*innen einen Antrag, vor in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, ebenfalls dem Fonds beizutreten. Sie begründen dies mit der politischen Dimension des Fonds und seiner vorrangigen Notwendigkeit für ein neues politisches Bewußtsein in Lateinamerika als Voraussetzung für die Achtung der Menschenrechte und der Rechte der originären Völker des Kontinents. Mit dieser Begründung waren auch Spanien und Portugal dem Fonds beigetreten.

Zum Präsidenten des Fonds wurde der bekannte mexikanische Soziologe Rodolfo Stavenhagen ernannt, der lange Zeit – neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit – auch der Mexikanischen Akademie für Menschenrechte vorstand. Stavenhagen ist überzeugt, daß der Fonds nur dann etwas für die vordringliche soziale Verbesserung der Indigenas bewirkt, wenn er von den verantwortlichen Politiker*innen als ein „Werk später Gerechtigkeit“ angenommen und in seiner politischen Dimension und Notwendigkeit für den Kontinent erkannt wird.

500 Jahre nach der ersten europäischen Invasion seien die indianischen Völker des Kontinents immer noch Opfer schlimmer Menschenrechtsverletzungen, von der politischen und sozialen Diskriminierung bis hin zum Völkermord. Es werde ihnen weiterhin verweigert, worauf jedes Volk nach den Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen ein Recht hat: das Recht auf Selbstbestimmung. Es werde ihnen sogar geraubt, was für ein Volk das Teuerste sei: die Identität. Damit begründet Stavenhagen die von den Menschenrechten ausgehende politische Dimension des Fonds.

Rechte der indianischen Völker ein internationales Thema

Die Menschenrechte der indianischen Völker, die während vieler Jahre ignoriert und mißachtet worden seien, seien heute ein internationales Thema, vor allem dank der organisatorischen Anstrengungen der Indigenas selbst, die mit ihrem Kampf und ihrer Beharrlichkeit die Öffentlichkeit alamiert hätten, sagte Stavenhagen.

Die Verneinung des „Anderen“, das heißt der „Indigenas“, ihrer Kultur und ihres Menschseins, sei ein Kennzeichen der europäischen Eroberer. Und diese Verneinung des Anderen bilde die Basis für die Herrschaft der Kolonialisatoren und für die Unterdrückung der Indianer*innen, sagte der Fonds-Präsident. Die Verneinung des Anderen sei die erste und folgenreichste Verletzung der Menschenrechte, die mit der Ankunft der europäischen Eroberer angefangen habe. Der Gedanke der zivilisatorischen und universalistischen Aufgabe des Christentums und des Abendlandes sei seitdem vorhanden. Dieser Anspruch sei bis in den „Kalten Krieg“ hinein und bei einigen „Entwicklungsprojekten“ für die „Dritte Welt“ bis heute erhoben worden, um Eroberungs- und Hegemoniestrategien zu verschleiern, so Stavenhagen in dem von ihm herausgegeben und in Mexiko erschienenen Sammelwerk „Indianisches Recht und Menschenrechte in Lateinamerika“.

Herrschende Meinung: Indígenas sind Hindernis für nationale Entwicklung

Während der vergangenen Jahrhunderte und in den neuen republikanischen Gesellschaften war die Situation der Indianer*innen durch ihre Stellung in den wirtschaftlichen Strukturen bestimmt. Dasselbe gilt für das Bild, das die regierenden Eliten und ihre Intellektuellen von ihnen hatten, welches sich in der Ideologie der Nation und des Staates niedergeschlagen hat. Dieses von den herrschenden Schichten – den weißen Nachkommen der Europäer*innen – übernommene Konzept betrachtet die meisten Indianer*innen als ein Hindernis für die nationale Integration und Entwicklung und folglich als eine Bedrohung für den legitimen Platz, den die nationalen Machtgruppen unter den zivilisierten Nationen zu haben glauben. Aus diesen Gründen ist ihr Konzept der Kultur in Lateinamerika so angelegt, daß die indigenen Kulturen nicht existieren, daß sie nur einer Vergangenheit angehören und daß ihre Spuren auf natürliche Weise verschwinden werden. Also sei „das Beste, das eine moderne Regierung tun kann, ihr Ende zu beschleunigen“, schreibt Stavenhagen, um das menschenrechtswidrige Denken und Handeln dieser Machtgruppen zu kennzeichnen.

Der unermüdliche Kampf der Indigena-Organisationen und ein neues politisches Bewußtsein in der Gesellschaft und Politik Lateinamerikas begannen Änderungen hervorzurufen, die Rechte der indigenen Völker werden langsam anerkannt. Noch ist es ein weiter Weg, aber der „Indigene Entwicklungsfonds“ ist ein Beispiel für die Bemühungen einiger Politiker*innen, die kollektiven Rechte anzuerkennen, die auch ethnische oder indigene Rechte genannt werden können. Diese kollektiven Rechte treten zu den individuellen Menschenrechten, alle Menschen und Ethnien haben auf ihre Durchsetzung ein Recht. Änderungen in einigen politischen Verfassungen und neue nationale Gesetzesinitiativen, in denen einige Rechte der indigenen Gemeinschaften anerkannt werden, sind andere Beispiele dafür, daß die Ignoranz gegenüber den ethnischen Gruppen nicht mehr ungebrochen ist.

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