Die Milícias von Rio de Janeiro sind zurück

(Rio de Janeiro, 22. Mai 2018, democraciaAbierta).- Ursprünglich haben die Milícias Gebiete gesichert, für Recht und Ordnung gesorgt und damit eine gewisse Legitimität erlangt. Aber sie haben sich in kriminelle, schonungslose Banden verwandelt, die mit  Drogenhändlern konkurrieren.

Mitte Mai 2008 wurden ein Journalist, ein Fotograf und ein Fahrer in Batán, einer Favela im Westen von Rio de Janeiro, entführt und gefoltert. Als dieser Vorfall öffentlich wurde, geriet das ganze Land in Rage und sorgte weltweit für Erschütterung. Das Team recherchierte dort für eine Reportage über die wenig bekannte Milícia der Stadt: Die selbst ernannten Wächter*innen, die mit der Waffe im Anschlag über die armen Gemeinden regierten. Im Unterschied zu den berühmt berüchtigten Drogenbanden, hatte die Milícia Ex-Soldaten, Polizisten, Feuerwehrleute und Gefängniswärter in ihren Reihen.

Heute beherrscht die Milícia wieder die Schlagzeilen. Dieses Mal sind es die Hauptverdächtigen im Fall des vorsätzlichen Mordes an Marielle Franco, der schwarzen Stadträtin von Rio de Janeiro, und ihrem Fahrer Anderson Gomes. Marielle war Beraterin des Kongressabgeordneten Marcelo Freixo im Bundesstaat Rio, der jetzt der Vorsitzende der linkspolitischen Partei PSOL (Partido Socialismo e Liberdade) ist, und sie hat die Milícia vor einem Jahrzehnt untersucht. Trotz ihrer heldenhaften Bemühungen die Macht der Gangster von Rio auszubremsen, ist die Milícia heute so stark wie nie.

Im Unterschied zu den Gruppen der „sozialen Säuberung und Vernichtung“ (Todesschwadronen ermorden arme und unterprivilegierte Menschen, Anm.d.Ü.), die es in Brasilien bereits seit Jahrzehnten gibt, beschränkte sich die Milícia zunächst darauf, Gangster zu vertreiben und die armen Stadtteile vor dem Drogenhandel zu schützen.

Entwicklung der Milicias

Es gibt einige Ungewissheiten darüber wann und wo die ersten Milícia-Gruppen entstanden sind. Einige Analyst*innen gehen davon aus, dass sie in den 1990er Jahren von Militärpolizisten gegründet wurden, die in Vierteln mit einer hohen Bandenpräsenz lebten. In den Nachrichten erschienen sie zum ersten Mal Anfang 2000, als die Medien eine Serie über ihre illegalen Aktivitäten, wie Schutzgelderpressung, veröffentlichten.

Die Milícia arbeitete niemals umsonst. Sie haben in den von ihnen kontrollierten Gebieten die Bewohner*innen und Unternehmen verpflichtet, eine monatliche Sicherheitssteuer zu bezahlen, um ihre alltäglichen Aktivitäten zu finanzieren. Zuerst war die Mehrheit der Anwohner*innen begeistert von dem Zuwachs der Milícia und in einigen Fällen kooperierten sie freiwillig. Mit der Zeit kippte die positive Zustimmung der Bevölkerung, nämlich als ihre schonungslosen Praktiken bekannt wurden. César Maia, Bürgermeister der Stadt von 2001 bis 2008, hat die Milícias als „das kleinere Übel“ beschrieben. Mit dem Anwachsen der Milícia erklärte Maia, dass diese eventuell zurückkehren und in jene Hand beißen könnte, die sie füttert.

Von der „Bürgerwehr“ zu mafiösen Netzwerken

Die Milícia dehnte ihre Macht und ihren Einfluss allmählich durch die stille Diversifizierung ihrer Einkommensquellen aus. Sie weiteten nicht nur die Erpressungen auf alle Arten von Unternehmen aus, sondern begannen auch Tarife für illegal angezapftes Fernsehen, Strom, Wasser und Internetverbindungen zu erheben. Einige Gruppen erhoben auch Gebühren für den informellen Nahverkehr, vertrieben Nachbar*innen, um die Grundstücke Immobilienmakler*innen zuzuschanzen und erleichterten den Zugang zu staatlichen Wohnprogrammen, wie Minha Casa Minha Vida (Mein Haus mein Leben). Mit der Zeit unterwanderten sie auch die städtische Polizei und gingen mit gezogener Pistole auf Stimmenfang.

Die Milícia war auch Gegenstand von detaillierten Forschungen lokaler Akademiker*innen. Ignacio Cano, Wissenschaftler an der bundesstaatlichen Universität von Rio de Janeiro UERJ (Universidad del Estado de Río de Janeiro), definiert sie als unrechtmäßige, bewaffnete Gruppen, zusammengesetzt aus Gesetzeshüter*innen, mit dem Hauptziel Geld zu machen. Eine andere Fachfrau, Michele Misse von der staatlichen Universität von Rio de Janeiro UFRJ (Universidad Federal de Río de Janeiro), bietet eine ähnliche Definition an und stuft sie als mafiöse Netzwerke ein, die die Bevölkerung unter dem Vorwand erpressen, ihnen Sicherheit zu garantieren, indem sie politische Errungenschaften des staatlichen Gewaltmonopols missbrauchen.

Anzeigen gegen die Milícia übersteigen die der Drogenbanden

Unter der schützenden Hand gut situierter Politiker*innen, breitete sich die Milícia wie ein Lauffeuer aus. Zuerst bauten sie ihre Macht in den Vierteln Itanhangá, Jacarepaguá und Campo Grande auf, aber sie dehnten ihren Einfluss schnell auf die gesamte Stadt und den Bundesstaat Rio de Janeiro aus. Heute leben zwei Millionen Personen in Gebieten, die von der Milícia kontrolliert werden, in elf Gemeinden, verteilt über die Metropolregion Rio de Janeiro. Die Anzeigen gegen die Milícia, die bei der Telefon-Hotline Disque Denúncia eingingen, überstiegen die gegen Drogenbanden. Zwischen 2016 und 2017 entfielen 65 Prozent der insgesamt 6.475 anonymen Anrufe auf Anzeigen gegen die Milícia.

Im Mai 2008 wendete sich das Blatt für die Milícias. Die ehemals als Hüter*innen der öffentlichen Ordnung gefeierten Milícias, waren nun selber wie die Drogenbanden und -mafias, die sie einst vorgaben zu bekämpfen. Eine parlamentarische Untersuchungskommission brachte den Umfang ihrer kriminellen Aktivitäten ans Tageslicht. In einer bis dahin beispiellosen Aktion wurden etwa 220 Mitglieder der Milícias sowie darin verwickelte Politiker*innen und Unternehmer*innen angeklagt und es wurden Empfehlungen für die von den Milícias kontrollierten Gemeinden herausgegeben, wie man ihre Macht zerstören kann. Doch wie es in Brasilien üblich ist, sind nur wenige dieser Empfehlungen wirklich angewendet worden.

Spezialeinheiten gegen das organisierte Verbrechen setzen auf Repression

Nach Angaben des Staatssekretärs für die öffentliche Sicherheit wurden seit 2006 mindestens 1387 Personen verhaftet, die mit der Milícia in Verbindung stehen, darunter Jerominho und Natalino, zwei besonders hervorstechende Anführer. Einige dieser Verhaftungen sind Ergebnis von Ermittlungen und Operationen, die von der Abteilung zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens DRACO (Departamento de Repressão e Combate ao Crime Organizado) und der von der Generalstaatsanwaltschaft gegründeten Gruppe GAECO (Grupo de Atuação Especial de Repressão ao Crime Organizado), die das gleiche Ziel verfolgen, durchgeführt wurden.

Einige der Anstrengungen, die gegen die Milícias unternommen wurden, wurden als potentiell gefährlich und kontraproduktiv kritisiert. Nehmen wir den Fall der kürzlich durchgeführten Operation im April 2018, die mit der Verhaftung von 159 mutmaßlichen Milícia-Mitgliedern endete, die auf einer Party in Santa Cruz im Westen der Stadt waren. Mehr als 40 Polizeibeamte waren an der nächtlichen Razzia beteiligt, aber nicht nur der Anführer der Milícia konnte fliehen, sondern auch 138 Verdächtige mussten in den darauffolgenden Tagen aus Mangel an Beweisen auf freien Fuß gesetzt werden. Weder die regelmäßigen Polizeirazzien, noch die groß angelegten Aktivitäten der Gemeindepolizei (wie die Einheiten der Befriedungspolizei UPP (Unidade de Polícia Pacificadora)), konnten das Vorrücken der Milícia stoppen.

Die öffentliche Sicherheit befindet sich im freien Fall

Es gibt Hinweise darauf, dass sich das Problem der Milícias verschärfen könnte. Die Anführer der Milícia, die 2008 verurteilt wurden, haben ihre Strafe abgesessen und sind wieder auf freiem Fuß. Einige von ihnen wenden sich wieder kriminellen Vereinigungen zu, die heute wirtschaftlich und politisch stärker sind als je zuvor. Weit davon entfernt sich zu verkleinern, haben sie sich mittlerweile von 41 auf 88 Gemeinden ausgeweitet. Außerdem gibt es Anzeichen für eine erneuerte Sympathie der Bevölkerung gegenüber bestimmten Gruppen von Milícias, besonders dort, wo das Vertrauen in die Militär- und Zivilpolizei erschüttert ist. Der Sektor der öffentlichen Sicherheit in Rio de Janeiro befindet sich im freien Fall: sein Haushalt hat sich in den letzten zehn Jahren -die Gehälter abgezogen- auf fast Null reduziert.

Die Milícia scheint auch einige Lektionen gelernt zu haben. Die Mehrheit der Anführer*innen vermeidet es politische Ämter zu übernehmen und hält sich eher im Hintergrund. Trotzdem beeinflussen sie weiter die politische Ausrichtung. So unterstützen einige Milícia-Gruppen die Wahl ihrer bevorzugten Kandidat*innen. In der von Milícias kontrollierten Gebieten, gibt es einen regen Handel mit Wählerstimmen. Oft kassieren die Milícias eine Gebühr von den Politiker*innen, die auf ihren Gebieten ihre Wahlkampagne durchführen möchten. Und während die Polizei sich darauf konzentriert die verschiedenen Drogenbanden, wie Comando Vermelho, Amigos dos Amigos und Terceiro Comando Puro, in Schach zu halten, weitet die Milícia weiterhin ihren Einfluss aus.

Auch wenn die Milícia sich in der Vergangenheit streng gegen die Drogenbanden gestellt hat, ist sie heute auch in das Drogengeschäft involviert. Angezogen von exorbitanten Gewinnmargen, arbeiten einige Milícia-Mitglieder Hand in Hand mit den Drogenhändlern, Verkauf und Transport inklusive. 2015 entdeckte die Polizei eine Drogenladung mit dem Emblem einer großen kriminellen Gruppe, daneben das Emblem, das von der größten Milícia-Gruppe verwendet wird. Daher ist es nicht überraschend, dass es Spannungen zwischen kriminellen Gruppen und Milícias gibt. Es geht um die Vorherrschaft in den Vierteln Praça Seca, Jordão, Carobinha, Morro do 18 und Fubá, wo im kleinen Stil mit Kokain gedealt wird.

Die Geldquellen versiegen lassen

Die Strafverfolgung als Mittel der Eindämmung der Milícias funktioniert nicht. Auch wenn die Stärkung der Abteilungen wie DRACO und GAECO grundlegend wichtig ist, wäre es effizienter die Herkunft der finanziellen Mittel der Milícias in den Fokus zu nehmen. In Zusammenarbeit mit der Polizei, der Staatsanwaltschaft und des Geheimdienstes, sollten die staatlichen Ordnungshüter*innen die Geldströme nachverfolgen, um so der Milícia zu verunmöglichen, sich durch das illegale Anzapfen öffentlicher Dienstleistungen, das organisierte Verbrechen, die Erpressung und natürlich den Drogenhandel zu finanzieren. Dazu müsste man mit den Unternehmen, die öffentliche Dienstleistungen zur Verfügung stellen, zusammenarbeiten, den Telekommunikations- und Kabelanbietern -um den Service des Anschlusses und der Wartung vertraglich zu regeln- und natürlich mit den organisierten Gruppen der Zivilgesellschaft.

Die lokalen Behörden sollten, wenn sie die räuberische Macht der Milícias eindämmen wollen, ihre Kräfte verdoppeln, um die Kontrolle über die Gebiete zurück zu gewinnen. Das bedeutet marginalisierte Viertel, die von der Milícia kontrolliert werden, mit grundlegenden Dienstleistungen auszustatten. Den sozialen Zusammenhalt stärken in Gemeinden, die von der Gewalt traumatisiert sind und es ist eine unerlässliche Bedingung, das Vertrauen in die Regierung aufzubauen, um die Macht der Milícia-Gruppen zu schwächen. Das wird Zeit kosten. Und es bräuchte einen klaren Plan mit realistischen Zielen. Und das wichtigste: Es bräuchte einen Plan, der weit über den der Repression hinausginge.

Chronologie der Milícia

1990er Jahre – Milícia-Gruppen entstehen

2005 – Medien berichten über Milícias im Westen von Rio de Janeiro

2006 – Im Dezember kam es zu einer Angriffsserie auf Polizeieinheiten und Autobusse in Rio durch Drogenbanden, als Vergeltungsmaßnahme gegen die Milícia

2007 – Félix dos Santos Tostes wird während einer Auseinandersetzung über Rio das Pedras ermordet, die Stadträte Francisco da Cruz (Nadinho) und Jerônimo Guimarães Filho (Jerominho) werden verhaftet.

2008 – Im Mai wird ein Team von „O Dia“ von Mitgliedern der Milícia in Batán entführt und gefoltert. Das führt zur Einrichtung einer parlamentarischen Untersuchungskommission, um die Milícias zu untersuchen

2009 – Im Mai wird Ricardo da Cruz Teixeira alias Batman nach sieben Monaten auf der Flucht verhaftet. Im Juni wird Nadinhos aus Rio das Pedras ermordet.

2010 – Die Generalstaatsanwaltschaft gründet GAECO, eine Spezialgruppe gegen das organisierte Verbrechen, um Verbrechen im Umkreis der Milícia strafrechtlich zu verfolgen.

2012 – Im September verabschiedet die Bundesregierung ein Gesetz, das die Milicia verbietet. Bei den Wahlen verlieren die Mitglieder der Milícia an politischer Macht.

2013 – Der ehemalige Militärpolizist und einer der Anführer der Milícia „Liga da Justiça“ Toni Ângelo Souza Aguiar wird verhaftet.

2014 – Der ehemalige Militärpolizist Marcos José de Lima Gomes alias Gão wird verhaftet. Die Medien veröffentlichen Reportagen in denen Milícia-Mitglieder und Drogenhändler bei ihrer Zusammenarbeit gezeigt werden.

2015 – Im August wird unter der Führung der Militär- und Zivilpolizei eine Operation im Westen von Rio durchgeführt, um die Aktivitäten der Milícia bei dem staatlichen Wohnungsprogramm Minha Casa Minha Vida zu beenden.

2016 – In mindestens sechs Fällen von Morden an Politiker*innen bzw. politischen Kandidat*innen wurde eine Verstrickung der Milícias festgestellt.

2017 – Im April wurde Carlos Alexandre da Silva Braga (Carlinhos Três Pontes), der mutmaßlich Verantwortliche für die Annäherung der Milícia „Liga da Justiça“ an die Drogenbanden, von der Polizei ermordet.

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