Cherán: Umweltanhörung des Ständigen Völkertribunals (TPP)

von Gerold Schmidt, Mexiko-Stadt

(Berlin, 25. November 2012, npl).- In der Kleinstadt Cherán fand vom 9. bis 11. November eine vorbereitende Anhörung des Ständigen Völkertribunals (TPP), Kapitel Mexiko, zum Thema Umweltzerstörung im Bundesstaat Michoacán statt. Die Veranstaltung war eng mit der Nationalversammlung der Umweltgeschädigten ANAA (Asamblea Nacional de Afectados Ambientales) verzahnt.

 

Illegaler Holzeinschlag und mutiger Widerstand

Die ANAA führte in Cherán parallel ihre bereits achte landesweite Versammlung durch. Dadurch bekam die Zusammenkunft einen wesentlichen breiteren Charakter, denn unter den weit über 500 Teilnehmern waren Vertreter von Gemeinden und Organisationen aus ganz Mexiko.

Der Landkreis Cherán war mit Bedacht gewählt. Er steht einerseits für eine verheerende Umweltzerstörung durch illegalen Holzschlag – in diesem Kontext schreckten die nach verbreiteter Einschätzung mit dem Drogenhandel verbundenen Hintermänner in den vergangenen Jahren auch vor Morden nicht zurück. Andererseits hat der mutige Widerstand der indigenen Purépecha-Bevölkerung, die sich seit April 2011 weitgehend selbst organisiert und schützt, Cherán weit über die Lokalgrenzen hinaus bekannt gemacht.

Neben den Bewohner*innen aus Cherán stellten die Vertreter*innen sieben weiterer Landkreise aus Michoacán ihre Fälle einer dreiköpfigen Expertenjury vor. Aus Costa Rica kam Silvia Rodríguez Cervantes, Professorin der Fakultät für Umweltwissenschaften an der Nationaluniversität in Costa Rica. Aus Kanada war der Forschungskoordinator des Polaris Institutes Richard Girard anwesend und aus Mexiko der Umweltwissenschaftler und Aktivist Víctor Manuel Toledo von der Autonomen Nationaluniversität Mexikos UNAM.

Problemfall Plantagenwirtschaft

Die Zeugnisse und Dokumente aus Lázaro Cárdenas, Morelia, Zacapu, Charo, Angangueo, Tangancícuaro und Paracho gaben ein erschreckendes Bild verschiedenster Umweltsünden im Bundesstaat – und waren dennoch nur ein kleiner Ausschnitt. So das Beispiel der Umweltverschmutzung durch den Stahlhersteller Arcelor Mittal im Landkreis Lázaro Cárdenas, oder der Vertreibung von indigenen Bauern und Bäuerinnen und die Zerstörung der einheimischen Agrarstruktur durch exportorientierte Plantagenwirtschaft in mehreren anderen Landkreisen.

Die Plantagenwirtschaft impliziert in Michoacán – und anderen Bundesstaaten – oftmals den exzessiven Einsatz giftiger Agrochemie. Die entsprechenden Produkte sind in vielen anderen Ländern verboten, werden aber beispielsweise von Herstellern wie Bayer und Monsanto in Mexiko verkauft. Zur Sprache kam in Cherán ebenfalls der Einfluss von in Michoacán produzierenden Papierunternehmen und der Verdacht, dass diese Firmen in die illegalen Holzkäufe verwickelt sind, die eine Hauptursache für die Entwaldung in Kommunen wie Cherán sind.

Staat garantiert Sicherheit der Bürger*innen nicht

Angesichts dieser Situation gestand das Expertenkomitee der Bevölkerung und vor allem den indigenen Gemeinden das Recht auf Selbstverteidigung zu. Andrés Barreda, Wirtschaftsprofessor an der UNAM und Mitglied der ANAA bezeichnete die Umweltzerstörung in dem Bundesstaat schlichtweg als „brutal“.

Die Falldarstellungen während der dreitägigen Versammlung wiesen ein sich wiederholendes Element auf: Das Interesse einzelner wirtschaftlich mächtiger Personen und Gruppen im Zusammenspiel mit dem organisierten Verbrechen bedeutet eine zunehmende Bedrohung für viele Kommunen. Die mexikanische Regierung scheint unterdessen nicht in der Lage oder willens, die Sicherheit ihrer Bewohner*innen zu garantieren. Das ExpertInnenkomitee wird die in Cherán vorgestellten Erfahrungen in einem Dokument zusammenfassen.

Dieses wird in dem für August 2014 vorgesehenen abschließenden Urteil des TPP zusammen mit den Ergebnissen anderer Anhörungen zur Umweltproblematik und weiteren sechs Themenfeldern berücksichtigt werden. Eine international und multidisziplinär zusammengesetzte Jury aus Wissenschaftler*innen und Expert*innen wird dann seine Meinung äußern, inwieweit der mexikanische Staat durch direkte Beteiligung bzw. Unterlassungen für die vielfältigen Menschenrechtsverletzungen im Land verantwortlich ist.

Deformation der Rechte

Das ExpertInnenkomitee in Cherán bezeichnete die Fallbeispiele als Spiegel der Umweltverbrechen im ganzen Land. Es wies besonders darauf hin, dass der seit 1994 geltende Nordamerikanische Freihandelsvertrag (NAFTA) unternehmerische Praktiken begünstigt und gefördert habe, die die Umwelt und die Gesundheit der Bevölkerung schädigen.

In der Abschlusserklärung der ANAA heißt es wesentlich drastischer: „Die Institutionen des mexikanischen Staates verzerren und deformieren unsere Rechte bis zur Unkenntlichkeit. Sie setzen unsere Gegenwart und Zukunft aufs Spiel. Die Gewalt und die Kriminalität vernetzen sich mit dem Staat und seinen Kräften, um Schrecken zu verbreiten, zu zerschlagen, zu besetzen, zu plündern und Völker, Gemeinden und Städte zu vergiften.“

Wie zur Bestätigung dieser Aussagen war die Anhörung in Cherán von traurigen Ereignissen eingerahmt. Ende Oktober wurden im Bundesstaat Chihuahua der Bauernführer Ismael Solorio Urrutia und seine Frau Manuela Solís Contreras entführt und ermordet. Sie hatten sich unter anderem gegen die Umweltzerstörung durch das Minenunternehmen Cascabel im Besitz der kanadischen Muttergesellschaft Mag Silver engagiert.

Im Bundesstaat Guerrero wurden am 11. November die Leichen von Celso Chávez und Fortino Méndez gefunden. Die beiden jungen Campesinos gehörten der Organisation der Ökobauern von Petatlán und Coyuca de Catalán OCESP (Organización Campesina Ecologista de la Sierra de Petatlán) an, die sich seit Jahren gegen den Kahlschlag ihrer Wälder wehrt und wahren Säuberungswellen durch das organisierte Verbrechen ausgesetzt ist. Im Bundesstaat Jalisco gilt seit seiner Entführung am 23. Oktober der Nahua-Indigena Celedonio Monroy Prudencio als vermisst. Auch er ein Aktivist gegen illegalen Holzschlag, konkret in der Biosphäre Sierra de Manantlán. Drei Fälle für viele.

Der Fall Cherán

Der Landkreis Cherán befindet sich im Bundesstaat Michoacán inmitten einer Region, in der konkurrierende Drogenorganisationen wie „La Familia“ oder „Los Caballeros templarios“ (die Tempelritter) dem Staat schon längst das Gewaltmonopol streitig gemacht haben und die nicht kooperierende Bevölkerung drangsalieren. Im gleichnamigen Hauptort Cherán und umliegenden Siedlungen leben knapp 14.000 Menschen.

Weite Teile des Landkreises waren früher von Kiefern- und Eichenwald bedeckt. Doch innerhalb weniger Jahre reduzierte sich die Waldfläche von über 25.000 Hektar auf etwa 7.000 Hektar. Seit 2008 hat sich diese Tendenz noch einmal beschleunigt. Der Wald bedeutete eine Wasserreserve für die Flüsse Duero, Cupatitzio, Tzarárakua sowie den See von Pátzcuaro. Gleichzeitig diente die geordnete Forstwirtschaft als Einnahmequelle. Doch dann wurden Brände gelegt und der Wald im Anschluss abgeholzt oder die Bäume wurden direkt gefällt.

Selbstorganisation konnte Holzraub stoppen

Bis die Gemeinde sich organisierte. Nachdem keine der drei Regierungsebenen Unterstützung bot, nahmen die Bewohner*innen die Justiz in die eigenen Hände. Unter Führung der Frauen vertrieb die Bevölkerung im April 2011 die korrupte und untätige Lokalregierung einschließlich der Polizei. Sie gebot den Holzdieben Einhalt, sperrte die Zufahrten zum Ort mit Barrikaden aus Steinen, Sandsäcken, Holzstämmen und alten Autos, führte die traditionellen Wachrunden durch Gemeindemitglieder wieder ein und errichteten in jedem der vier Ortsteile nächtliche Feuer an den Straßenecken, an denen die ganze Nacht durch Wache gehalten wird. Im Februar 2012 wählte Cherán seinen „Obersten Kommunalrat“. Inzwischen ist diese Selbstverwaltung von den übergeordneten Regierungsebenen weitgehend akzeptiert.

Doch der Preis dafür ist hoch gewesen: Entführungen, Erpressungen und Morde. Fünf Gemeindemitglieder gelten als verschwunden, mehrere wurden ermordet, mehrere überlebten Schussattacken mit Verletzungen. Die jüngsten Morde an zwei Gemeindemitgliedern datieren vom Juli dieses Jahres. Auf der anderen Seite stehen der Rückgang des illegalen Holzschlags auf dem Territorium des Landkreises, Wiederaufforstungsanstrengungen in Eigenregie und eine Stärkung der traditionellen Gemeindestrukturen.

 

Weiterlesen:

Andrea Caraballo: Die Gemeinde Cherán und ihr Kampf um Autonomie | poonal 1005 | Juli 2012

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