von Luiza Cilente und Vitor Munhoz, Rio de Janeiro
(Berlin, 19. Oktober 2009, npl).- Brasilien ist ein tropisches Land, bekannt für seine Naturschönheit. In ausgedehnten Bergketten sprießt die Vegetation, Sümpfe und Regenwälder bedecken große Teile des fünftgrößten Staates der Erde. Außer im trockenen Nordosten regnet es viel, an Süßwasser herrscht kein Mangel. Von Norden nach Süden durchziehen Flüsse des weite Land, von unzähligen Gebirgsbächen bis hin zum Amazonas mit all seinen Nebenarmen. Der Überfluss an Wasser wird in Brasilien auch zur Energiegewinnung genutzt. Achtzig Prozent des elektrischen Stroms wird durch Wasserkraftwerke produziert. Im ganzen Land sind über 400 solcher Staudämme mit ihren künstlichen Seen verteilt. Zahlreiche neue Anlagen sind derzeit im Bau. Es ist eine der billigsten Möglichkeiten, Energie zu gewinnen.
Wie in den meisten lateinamerikanischen Ländern wurde die Energiewirtschaft jahrzehntelang vom Staat kontrolliert. Nicht nur wegen ihrer strategischen Bedeutung – denn solch riesige Bauvorhaben in oft abgelegenen Gegenden waren zumeist nur auf Initiative der öffentlichen Hand realisierbar. Dies änderte sich zu Beginn der 90er Jahre. Auch der brasilianische Energiesektor wurde von der Privatisierungswelle erfasst. Wie in anderen Wirtschaftsbereichen auch wurde plötzlich das, was lange Zeit als öffentliches Gut oder gesellschaftlicher Reichtum angesehen wurde, als Ware gehandelt. Energiegewinnung diente von diesem Moment an dazu, Profit zu machen.
Die Folgen dieses Paradigmenwechsels ließen nicht lange auf sich warten. Innerhalb von zehn Jahren erhöhte die Nationale Energiebehörde den Preis für Strom um über 300 Prozent. Heute zahlen die Brasilianer*innen den weltweit fünfthöchsten Energiepreis. Und die Haushalte zahlen zehnmal mehr für ihren Strom als die Großabnehmer in der Industrie. Gleichzeitig werden tausende Familien von Ihrem Land vertrieben, da es von Stauseen überflutet werden wird. Die Erfahrung zeigt, dass sie entweder gar nicht oder nur unzureichend für ihren Verlust entschädigt werden.
Ein Beispiel ist das Wasserkraftwerk Manso, im westlichen Bundesstaat Mato Grosso. Vor zehn Jahren wurde mit dem Bau begonnen. Mindestens 1.000 Familien mussten wegziehen und die Hälfte von ihnen hat bisher keine Entschädigung erhalten. Das Aussterben von Fischen durch die Unterbrechung des Flusses hat zudem mehrere Dörfer in der Umgebung um ihren Lebensunterhalt gebracht. Für Dorival Gonçalves, Professor an der Bundesuniversität von Mato Grosso, ist es dieser Umgang mit den betroffenen Menschen, der die Stromgewinnung aus Wasserkraft so umstritten macht: „Diese Bauvorhaben sind für zahlreiche negative Auswirkungen verantwortlich. Und nach Abschluss der Bauarbeiten gibt es keinerlei Programme, die der Bevölkerung beim Umgang mit diesen Auswirkungen helfen“, kritisiert Gonçalves. Aus seiner Sicht geht es nicht um die Ablehnung des Baus von Staudämmen generell. Im Gegenteil, das System müsse weiter ausgebaut werden, aber „der soziale Nutzen muss besser verteilt werden, vor allem unter denjenigen, die unter den Bauvorhaben leiden“.
Mittlerweile sind Staudammopfer neben den Landlosen und den Obdachlosen zu einer der wichtigsten sozialen Bewegungen in Brasilien geworden. Sie besteht aus den Menschen, die in der Planung von Wasserkraftwerken und dem heutigen Energiewirtschaftsmodell nicht berücksichtigt werden. Sie sind nicht gegen Energiegewinnung, aber fragen, für wen und mit welchen Folgen Energie produziert wird. Ihr Motto lautet: „Wasser ist Energie, aber keine Ware“.
„Eine unserer Forderungen ist die Diversifizierung der Produktion elektrischer Energie“, erklärt Juceli Andrioli, Sprecher der landesweiten Bewegung der Staudammopfer MAB (Movimento dos Atingidos por Barragens). Der Umstand, dass mittlerweile rund 90 Prozent der Energieproduktion von Wasserkraftwerken geleistet wird, bringe schwerwiegende Auswirkungen für die Anwohner*innen mit sich und mache die Energieproduktion anfällig, so Andrioli. Deswegen hat die Bewegung der Staudammopfer der Regierung und den Bundesstaaten schon seit langem zahlreiche Alternativen vorgeschlagen. Der MAB–Aktivist zählt auf: „Eine Möglichkeit ist die Aufrüstung bereits vorhandener Anlagen, sprich ohne einen neuen Staudamm zu bauen, könnte die Energiegewinnung gesteigert werden. Eine weitere Alternative, die politischen Willen voraussetzt, ist ein Programm zur Einsparung von Energie. Eine andere Möglichkeit ist, den Verlust von Energie einzuschränken – wegen mangelnder Investitionen gehen fast 15 Prozent der produzierten Energie beim Transport verloren.“ All diese Maßnahmen seien billiger als der Bau neuer Stauwerke und würden die zur Verfügung stehende Energie steigern, schließt Andrioli.
In ganz Brasilien sind mittlerweile rund eine Million Menschen wegen des Baus von Staudämmen vertrieben worden. Und die Stauseen haben über 34.000 Quadratkilometer Land überflutet. Die multinationalen Konzerne, die von diesem Energiemodell profitieren, plädieren für immer neue und größere Investitionen. Auch die Regierung des ehemaligen Gewerkschafters Inacio Lula da Silva setzt auf Wachstum um jeden Preis und hält ökologische Bedenken für zweitrangig. Ein gewichtiger politischer Rückhalt für die Energiekonzerne Suez, Generel Electric und Votorantim.
Zweischneidige Energiespender – Wasserkraftwerke in Brasilien von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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