Wenn die Netze leer bleiben – Chiles Fischereikooperativen vor dem Aus

von Nils Brock, Santiago de Chile

(Berlin, 22. Dezember 2015, npl).- Wenn Washington Ribera von seinem Job auf dem Meer erzählt, dann sollten Romantiker*innen lieber weghören. „Wir fahren meist abends gegen 7 Uhr raus aufs Meer. Meist zu viert“, beginnt der 63-jährige Chilene seinen Bericht von der anstrengenden Tintenfischjagd. „Einer bleibt munter und sucht die Tintenfische. Dann geht die Jagd los, die ganze Nacht. Handarbeit, bei der man pitschnass wird.“ Eigentlich würde Ribera diese Schufterei gern jüngeren Generationen überlassen. Doch die gibt es hier in der Hafenstadt Valparaiso nicht. Heute Morgen wird vom Pier Caleta El Membrillo exakt ein Boot ablegen.

Die Schleppnetze lassen nichts mehr übrig

Ribera blinzelt einer Möwe nach und reibt sich die Hände an seinem schwarzen Pulli. Er wird heute nur am Ruder sitzen. Kollege Fernando Villar presst derweil seinen Körper in einen Neoprenanzug. Mindestens zwei Stunden im kalten Wasser hat er vor sich, um nach Muscheln und anderen Weichtieren zu suchen. Eigentlich sind die Wellen heute dafür viel zu hoch und die Gefahr groß, auf die schroffen Felsen geschleudert zu werden.

Aber so wie Washington muss auch Fernando mindestens zwei Mal in der Woche etwas aus dem Wasser holen, um Geld zu verdienen. „Früher war das Pier jeden Tag voll mit gefangenen Fischen“, erinnert sich Villar. Doch heute lassen uns die Schleppnetze der großen Schiffe nichts übrig und zerstören die Bestände.“ Eigentlich beginnen ihre Fanggebiete fünf Meilen vor der Küste, aber oft halten sie sich nicht daran. Fünfzig Prozent aller kommerzialisierten Arten sind inzwischen überfischt. Dem handwerklichen Fischfang droht das Ende.

Fehlende Kontrollen, Überfischung, drohende Altersarmut und Nachwuchsmangel – die Situation an Chiles 5.000 Kilometer langen Küste schreit geradezu nach einer Neureglung des Fischereisektors. Doch die gab es bereits im Jahr 2013 und sie machte alles nur noch schlimmer.

Der damalige Wirtschaftsminister Pablo Longueira versprach eine Modernisierung des Fischereigewerbes. Tatsächlich stellte er die Weichen für eine unerhörte Privatisierung des Meeres: Auf unbestimmte Zeit wurden die nationalen Küstengewässer an sieben Familien konzessioniert. Nach einigen Fusionen kontrollieren nun vier Unternehmen 92 Prozent des gesamten Fischereisektors.

Chiles Abgeordnete sind an industriellen Fangflotten beteiligt

„Ein Schweinerei ist das“, meint Schwester Gabriela. Seit 25 Jahren betreut die Mittfünfzigerin die mehr als 150 Mitglieder der Fischergewerkschaft von der Caleta EL Membrillo. Doch heute ist es noch zu früh, Hustensaft zu verschreiben oder Schürfwunden mit Jod auszupinseln.

Und so schaut die Krankenschwester ihrem in die Jahre gekommen Klientel bei einer morgendlichen Partie Billard in der Kantine zu und schimpft. „Wer macht das Fischereigesetz?“ fragt sie in die Runde und antwortet gleich selbst: „Der Kongress. Und wer ist dort vertreten? Eine Vielzahl von Abgeordneten die an Schleppnetzflotten beteiligt sind. Und wer konkret?“

Es ist ein offenes Geheimnis dass unter anderem die beiden ehemaligen Präsidenten Eduardo Frei und Sebastián Piñera oder auch der ehemalige Innenminister Andrés Zaldívar in den industriellen Fischfang investiert haben. Noch schlimmer aber findet Schwester Gabriela aktive Politiker und Politikerinnen, „die geschmiert werden“, um den Branchenführern Vorteile zu verschaffen.

Die Beweislage gegen inzwischen mehr als zehn gewählte Volksvertreter*innen ist erdrückend, der unnötige Ausverkauf des Meeres selbst mit neoliberalen Floskeln kaum schön zu reden. Bereits im Mai versprach die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet Aufklärung und eine Revision des Gesetzes.

Doch dagegen läuft der Verband des industriellen Fischfangs SONAPESCA Sturm, allen voran ihr Präsident Francisco Orrega: „Die geplante Gesetzesänderung ist nicht nur verfassungswidrig sondern auch unnötig und ungelegen“, beschwerte sich Orrega unlängst in einem Rundfunkinterview.

„Hier versucht ein kleiner Sektor eine künstliche Debatte über das Fischereigesetz loszutreten und das alles, um die Interessen einiger weniger Organisationen von Kleinfischern durchzusetzen, die nur über eine sehr minoritäre Repräsentanz verfügen.“

Überfischte Küstengewässer – Besserung nicht in Sicht

Dass Fischer wie Ribera und Villar nicht in der Mehrheit seien können, wenn der industrielle Fischfang den Großteil aller Fangrechte besitzt, ist die eine Sache. Dass viele jüngere aber auch ältere Fischer bei den Schleppnetzflotten anheuern, weil ohne Radar an den überfischten Küsten nichts mehr zu holen ist, eine andere.

Und daran wird sich so schnell auch nichts ändern, meint Manuel Cisternas, Vorsitzender der Fischergewerkschaft von der Caleta El Membrillo. Die Wände seines Büros sind mit Fotos tapeziert, auf denen die dicksten Fänge zu sehen sind. Am häufigsten porträtiert: der Seehecht, in Chile merluza genannt.

„Leider ist der Seehecht heute eine extrem überfischte Art“, sagt Cisternas, „und doch sind die Fangquoten in diesem Jahr erneut erhöht wurden, von 19.000 auf 23.000 Tonnen.“ Die Fischergewerkschaften haben schon oft angeboten den Seehecht zu schonen aber die industrielle Konkurrenz sei nicht dazu bereit, ebenfalls die Fangquoten zu senken.

Stattdessen haben die Schleppnetzflotten inzwischen auch ein Auge auf die Tintenfische geworfen, mit den denen die kleinen Fischereikooperativen in den vergangen Jahren zumindest ihre Existenz retten konnten. Cisternas und die Vorsitzenden anderer Fischergewerkschaften entlang der chilenischen Küste drängen deshalb darauf, den Einsatz von Schleppnetzen endlich stärker zu regulieren. „Wir wollen, dass die Schleppnetze nicht länger für den Fang von Seehechten oder Tintenfischen genutzt werden, denn das ist alles, was uns noch bleibt.“

„Die sollen uns entschädigen“

Schwester Gabriela kennt diese Klagen aus ihren Sprechstunden. Es macht sie jedoch auch wütend, dass die Fischer der Caleta El Membrillo sich nicht energischer zur Wehr setzen. „Bis vor kurzem erhielten sie vom Staat wenigstens monatlich eine Art Sozialhilfe. Aber die haben sie gestrichen, “ sagt sie und nennt wie gewohnt auch gleich selbst den Grund dafür: „Weil sie nicht kämpfen. Andere Piers haben sich besser organisiert, dort bekommen sie weiterhin diese ökonomische Unterstützung.“

Doch die Fischer sind müde. Ja, es sei gut, dass die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen das chilenische Fischereigesetz prüfen wird. Und logisch, dass sie weiterhin jede Demonstration besuchen werden. Aber noch lieber würden Männer wie Ribera einfach in Rente gehen.

Im Rahmen einer Hafenreform wird ihr Pier im Jahr 2019 wohl ohnehin aus Valparaiso verschwinden und mit ihm der Fischfang. Ob er das Meer vermissen werde, will ich zum Abschied wissen?

Ribera runzelt die Stirn. „Die sollen uns entschädigen und ich gehe in Frieden. Ich bin 63 Jahre alt, ich hab nicht mehr viel Garn auf der Rolle. Für mich ist es Zeit etwas kürzer zu treten, ein bisschen auszuruhen. Die ganze Zeit auf oder unter dem Wasser zu sein, ich hab’s dir gesagt, ist ein mörderischer Job…“

 

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