Von Müll und Menschen

von Nils Brock

(Berlin, 02. Februar 2010, npl).- Die Plastiktüte steht in Mexiko bis heute für gesellschaftlichen Fortschritt, ist im Alltag steter Beweis doch irgendwie in der Moderne angekommen zu sein. Selbst auf Wochenmärkten wird Obst und Gemüse akribisch eingetütet – jedem Produkt sein Tütchen, Beutelchen oder Styropormäntelchen. Recycled wird kaum und so verursachen allein die Einkaufstüten in Mexiko jährlich 300.000 Tonnen Müll.

Doch zumindest in der mexikanischen Hauptstadt ist seit diesem Jahr Schluss mit der kostenlosen Verteilung herkömmlicher Plastiktüten. Nur noch biologisch abbaubare Einkaufsbeutel dürfen an die Kund*innen verschenkt werden. So will es ein neues Umweltgesetz. Doch die Meinungen an der Supermarktkasse sind gespalten. Während Hilfsangestellte die Einkäufe in hohem Tempo in die neuen Biotüten stopfen, streiten die Kund*innen über Sinn und Unsinn der Neuerung. „Das ist schon besser, nicht wahr“ meint ein Mann mit zerknittertem Anzug. „Die Tüten sind schneller abbaubar und verschmutzen so weniger die Umwelt.“ Doch sogleich hagelt es Kritik, die Tüten seien doch identisch mit den alten, Augenwischerei sei das alles. Eine Frau, deren Hausangestellte gerade die Einkäufe zum Parkplatz schleppen, resümiert energisch, dass es in Mexiko vor allem an Technologie fehle, „um das Recycling auch anzuwenden.“

Mexiko, eine Wegwerfgesellschaft auf Grund mangelnder Technologie also? Umweltingenieurin Neftalí Rojas von der staatlichen Universität UNAM sieht das ein bisschen anders und meint, dass größte Problem sei in Mexiko nach wie vor die Umwelterziehung. „Es fehlt an Bewusstsein. Hauptsache das eigene Haus ist sauber. Was vor der eigenen Türe mit dem Müll passiert, interessiert niemanden“, sagt Neftalí und fügt hinzu: „Die Stadtregierung gibt jetzt zwar Kurse an den Schulen, um über die Müllproblematik aufzuklären, aber früher gab es das nicht.“

Zum Müllberg trägt statistisch gesehen jedeR EinwohnerIn von Mexiko-Stadt täglich 1.5 Kilo bei. Ein New Yorker schafft das Doppelte. Und dennoch – für die mexikanische Metropole kommen so insgesamt satte 20.000 Tonnen am Tag zusammen – eine Menge die sich vergleichsweise nur mit dem Ozeanriesen Queen Mary II aufwiegen lässt.

Alarm schlägt man in Mexiko-Stadt jedoch erst, seit die 200 Fußballfelder große städtische Halde Bordo Poniente aus allen Nähten platzt. Vor fünf Jahren wurden die Einwohner*innen bereits dazu verpflichtet, zwischen organischen und anorganischen Stoffen zu trennen. Zusätzlich wurden Sammelbehälter für Batterien eingeführt. Und nun geht es auch den Plastiktüten an den Henkel. Dass alles seien gutgemeinte Ideen, sagt Neftalí. Doch oft vergehe bis zur tatsächlichen Umsetzung zuviel Zeit. „Das Abfallgesetz von 2004 zum Beispiel machte Mülltrennung zur Pflicht. Aber die Fahrzeuge der Stadtregierung waren gar nicht darauf vorbereitet, den Müll getrennt aufzunehmen“, erinnert sich Neftalí. „Und die Leute die mitmachen wollten, verloren schnell die Lust, als sie sahen, dass es gar nicht die nötige Infrastruktur gab.“

Inzwischen wurden zumindest viele Lastwagen der Müllabfuhr mit speziellen Sammelbehältern für organische Abfälle ausgerüstet. Voll werden diese jedoch nicht immer, erzählt Straßenfeger Miguel, denn es gäbe Leute die trennen und andere, die nicht trennen. „Die die das Problem verstehen, liefern mir bis zu drei Tüten ab. Papier, Pappe, Essensreste. Doch es gibt weiterhin viele Leute die alles zusammenschmeißen“, ärgert sich Miguel.

Mit einem lauten „Basuraaaaaaa“ oder einer bimmelnden Glocke kündigen Straßenfeger*innen wie Miguel ihr Kommen an. Hinter dieser Bezeichnung versteckt sich in Mexiko ein Heer meist unbezahlter Arbeitskräfte, die für ein Trinkgeld die Abfälle von Privathaushalten in Handkarren oder rollenden Mülltonnen mitnehmen. Recycling ist für sie nichts neues, denn mit dem Weiterverkauf von Materialen lässt sich seit jeher ein bisschen Geld machen. Papier, Pappe, Aluminium, Glas, Plastikflaschen, Alteisen – meist gibt es dafür nur ein paar Pesos. Doch Jahrzehnte lang war das nachträgliche Aussortieren des Hausmülls der einzige Weg auf dem Rohstoffe überhaupt wiederverwertet wurden – Recycling als informelle Überlebensstrategie.

Dass die Stadtverwaltung nun auch etwas zur Aufbereitung des Megamüllbergs beitragen will findet Miguel eigentlich nicht schlecht. Doch Maßnahmen, wie das Verbot, biologisch nicht abbaubare Plastiktüten zu verschenken, überzeugen den Straßenfeger nicht so recht, „denn seit sie keine von den Dingern mehr verschenken, kaufen die Leute eben Tüten für den Müll.“ Denn die neuen Tüten seien längst nicht so strapazierfähig wie die alten, erklärt Miguel. Wer keine herkömmlichen Plastiktüten kaufe, verlange deshalb häufig doppelt so viele Biotüten im Supermarkt, „aus Angst die Biodinger könnten reißen.“

Eine Patentlösung seien die Biobeutel keinesfalls, sagt auch Umweltingenieurin Neftalí Rojas. Sie drängt darauf, Zuhause zu kompostieren, auch wenn der Platz dafür oft knapp sei. Die Stadtverwaltung ihrerseits muss jedoch auch in der Lage sein, diese gut sortierten Reststoffe zu verwerten. Aus diesem Grund forschen Neftalí Rojas und ihre Student*innen auch in den Mülltonnen der einzelnen Barrios, um für die städtische Müllabfuhr genauere Recyclingpläne zu erstellen. Schon jetzt ist klar: Allgemeines Ärgernis in allen Stadtteilen sind und bleiben die Plastikbeutel. Und deshalb habe die Einführung der biologisch abbaubaren Variante irgendwo doch ihre Berechtigung, meint Neftalí.

Weitere Killer in der Recyclingkette sind vor allem Batterien, Handyakkus und Elektroschrott. Denn sie alle produzieren auf offenen Halden giftige Sickerstoffe. Und das Recycling von Babyzelle und Co. kostet mehr als die daraus gewonnenen wieder verwertbaren Materialen. Ein weltweites Problem, für das man in Mexiko-Stadt jedoch eine smarte Lösung gefunden hat. Denn seit dem Jahr 2007 können die Einwohner*innen der mexikanischen Hauptstadt ihre Batterien und Akkus in eine Art hohle Litfaßsäule einwerfen. Über 200 dieser Sammelbehälter haben private Unternehmen mit Genehmigung der Stadtverwaltung aufgestellt. Über die Vermietung der Werbeflächen wird die Aufbereitung der leeren Energiespender finanziert. Francisco Calderón Córdova von der städtischen Umweltstaatsanwaltschaft ist immer wieder aufs Neue begeistert von diesem Konzept. „Die Batterien sind ja fast der einzige Giftmüll, der in Mexiko-Stadt anfällt“, sagt Calderón Córdova stolz. „Das Programm hat erfolgreich eine Kooperation von Unternehmen, Bürgern und Regierung angeregt. Wir brauchen ökologisch verantwortliche Unternehmen.“

Unternehmer*innen als Umweltengel? Der einzige Haken bei der Sache ist, dass es Sammelbehälter nur dort gibt, wo auch die Werbeflächen lukrativ zu vermieten sind. In vielen Stadtvierteln landet ein Großteil der Batterien so immer noch auf der größten Müllhalde der Welt. Alles was bis hierher nicht getrennt wurde, wird auf dem Borde Poniente ein letztes Mal durchgesehen – in Handarbeit. Pepenadores werden die über 100.000 Menschen genannt die in Mexiko auf Mülldeponien leben und arbeiten. Ein Heer von ihnen empfängt jeden Müllwagen. Dick vermummt und mit Säcken bestückt, trennen sie das Brauchbarste vom Übriggebliebenen. Ein Broterwerb, bei dem niemand alt und schon gar nicht reich wird. Denn mafiöse Müllunternehmer*innen organisieren die Arbeiter*innen und verkaufen die Wertstoffe für ein Zehnfaches weiter. Die 16-jährige Cristina beschreibt ihren Arbeitstag wie folgt. „Du stehst auf, frühstückst und kommst so um Sieben zum arbeiten und bleibst bis zum späten Nachmittag. Wenn du erst am Nachmittag kommst, bleibst du bis früh um vier. Schichtarbeit. Jeder sammelt bestimmte Materialien, die einen Pappe, die anderen PET-Flaschen. Ich sammle ein bisschen von allem“, erzählt Cristina. Nein, ewig hier arbeiten, dass will sie nicht. „Ich würde gern Studieren, ein möglichst kurzer Studiengang, damit die Ersparnisse reichen. Und wenn daraus nichts wird, würde ich auch auf einem Recyclinghof arbeiten.“

Wann die übervolle Müllhalde hier zumacht, dass weiß keiner so genau. Auch die Grundsteinlegung des lange angekündigten Recyclinghofs ist weiterhin unklar. Fest steht jedoch eins: Ein grundlegender Wandel im Recyclingsystem bedroht viele Müllsammler*innen und Straßenfeger*innen in ihrer Existenz. Eine wirklich nachhaltige Recyclingstrategie müsse deshalb auch diese Arbeiter*innen einbeziehen, findet Umweltingenieurin Neftalí Rojas und hofft „dass die ersten die sie einstellen Müllsammler sein werden. Deren Wissen ist wichtig, um Recyclingzentren aufzubauen. Klar wird man auch gut ausgebildete Techniker brauchen. Aber die Müllsammler darf man nicht außen vor lassen.“

Inzwischen gibt die Stadtverwaltung jährlich knapp zwei Millionen Euro für kostspielige Recyclingstudien aus. Umweltingeneurin Neftalí Rojas befürchtet, dass ein Großteil dieser Untersuchungen in Schubladen verschwinden und am Ende Geld für den Bau der Recyclinghöfe fehlen könnte. Und Straßenfeger Miguel ist erstaunt, dass die Regierung von Mexiko-Stadt so vollkommen an denen vorbei plant, die wie er den täglichen Müllberg bewegen. „Die Abkommen werden anderswo getroffen“, sagt er. „Ich persönlich würde mich einfach über einen Arbeitsvertrag freuen, also eine Festanstellung. Ich habe immer damit gerechnet, aber auch nach zehn Jahren hab ich keinen.“

Der Müllberg als Spiegel der Gesellschaft: Für die meisten Bewohner*innen von Mexiko-Stadt ein verdrängtes Ärgernis, für Umweltingenieur*innen wie Naftelí Rojas eine große Herausforderung. Für die Stadtregierung alles eine Frage von Gesetzen und Recyclingtechnologien. Für Umweltschützer*innen ein Albtraum – und für Zehntausende die einzige Einkommensquelle.

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