Proteste in El Estor – Bergbau-Konzern ignoriert Gerichtsbeschluss

(Guatemala-Stadt, 26. Oktober 2021, pressenza).- Am 24. Oktober wurde in der nordöstlichen Gemeinde El Estor, Izabal, ein 30-tägiger Ausnahmezustand verhängt. Für die Bevölkerung bedeutet das: Beschränkung der Handlungs- und Bewegungsfreiheit, des Versammlungs- und des Demonstrationsrechts. Außerdem können Verhaftungen ohne Haftbefehl durchgeführt werden. Der Beschluss wurde von der Regierung gebilligt und vom Kongress ratifiziert. Zuvor hatten Maya-Q’eqchi-Gemeinden drei Wochen lang gegen ein internationales Bergbauvorhaben protestiert: „Fénix“ ist ein Projekt des Unternehmens PRONICO (Procesadora de Níquel de Izabal), das zum russisch-schweizerischen Großkonzern Solway Investment Group gehört. Das Abbaugebiet betrifft die Gemeinden Cahabón, Panzós, El Estor und Senahú und soll 250 km² umfassen ‑ zwölfmal mehr, als nach guatemaltekischem Recht zulässig ist. Nach Angaben des digitalen Mediums Prensa Comunitaria handelt es sich um die größte Bergbaulizenz in Mittelamerika.

Verfassungsgericht stellt Unregelmäßigkeiten fest

Indigene Behörden und Bewohner*innen von El Estor hatten sich vor zwei Jahren an das Verfassungsgericht gewandt, das daraufhin die Aussetzung der vom Energie- und Bergbauministerium erteilten Lizenz anordnete. Im Juni 2020 wurde das Urteil bestätigt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass das Ministerium die freie Konsultation und Information im Vorfeld nicht durchgeführt habe, die nach der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation vorgesehen ist. Die ILO-Konvention 169 regelt „das Recht der indigenen Völker auf Beteiligung an der Formulierung, Umsetzung und Bewertung von Plänen und Programmen zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungen, von denen sie unmittelbar betroffen sind“. Außerdem war die ebenfalls obligatorische Umweltverträglichkeitsstudie nur für einen sehr kleinen Teil des 247,9 km²-Projekts durchgeführt worden. Entsprechend erhielt das Bergbauministerium die richterliche Anordnung, den Geltungsbereich der Lizenz auf die 6,29 km² einzugrenzen, wo die Umweltverträglichkeitsprüfung stattgefunden hatte. Dazu ordnete das Verfassungsgericht an, die Konsultation der Bewohner*innen des betroffenen Gebiets innerhalb der nächsten 18 Monate stattfinden zu lassen.

Brutale Unterdrückung

Sechzehn Monate später scheinen die Beschlüsse des Gerichtshofs nur wertloses Papier: Die Tochtergesellschaft des russisch-schweizerischen Konzerns hat ihre Tätigkeit zwischenzeitlich ungehindert fortgeführt, und das Bergbauministerium lehnte es ab, die Q’eqchi und ihre Institutionen einzubeziehen und die Konsultationen durchzuführen. Also begannen die Gemeinden vor drei Wochen mit ihrem friedlichen Protest und hinderten die Fenix-Lastwagen an der Durchfahrt, um die Auflagen des Gerichts durchzusetzen und ihre Gebiete vor den zerstörerischen Auswirkungen des Minenprojekts zu schützen. Am 22. und 23. Oktober gingen Hunderte Polizisten und Militärs mit massiver Gewalt gegen die Protestierenden vor und griffen Journalist*innen an, die über die Vorfälle berichteten. Die Ombudsstelle für Menschenrechte (PDH) verurteilte das Vorgehen der Sicherheitskräfte und forderte Präsident Giammattei und den Bergbauminister auf, „die Auflagen des Verfassungsgerichts strikt einzuhalten“.

Menschenrechtsorganisationen reagieren empört

Nach den polizeilichen Übergriffen vom 23. und 24. Oktober und der Ausrufung des Ausnahmezustands wurde neben den Schikanen gegen Protestierende und Journalisten die Razzia in den Räumlichkeiten des Gemeinschaftsradios Xyaab‘ Tzuultaq’a und des Büros der Q’eqchi‘-Ombudsstelle besonders scharf kritisiert. In den sozialen Netzwerken macht Rechtsanwalt Jordán Rodas darauf aufmerksam, dass Pronico seine Tätigkeit illegal fortsetzen kann – mit Unterstützung der Regierung, die die Lastwagen des Unternehmens schützt, während die Sicherheitskräfte den Druck auf die Bevölkerung und Journalisten erhöhen und mit Tränengasbomben gegen friedliche Demonstrant*innen vorgehen. Das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Menschenrechte in Guatemala reagierte besorgt und mahnte zum Dialog. Der guatemaltekische Staat sei verantwortlich für die Einhaltung der Menschenrechte, es sei seine Aufgabe, das Recht auf Leben zu schützen und freie und friedliche Versammlungen zu ermöglichen. Die guatemaltekischen Menschenrechtsverbände CDH (Convergencia por los Derechos Humanos) und UDEFEGUA (Unidad de Protección a Defensoras y Defensores de Derechos Humanos Guatemala, deutsch: Einheit zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen in Guatemala) drückten ihre Solidarität mit dem Widerstand der Q’eqchi aus, das sich „gegen Extraktivismus und Plünderung wehrt und das Leben im Izabal-See und in der Gemeinde El Estor verteidigt“. „Hintergrund des Protests ist die Abweichung von den Bestimmungen der ILO-Konvention 169“, erklärten UDEFEGUA-Sprecher*innen und riefen die guatemaltekische Gesellschaft dazu auf, „die Gewalt öffentlich zu verurteilen und ihre Solidarität mit dem Widerstand der Menschen in El Estor zum Ausdruck zu bringen“.

„Man fühlt sich wie im Krieg“

Auch das Bäuer*innenkomitee CUC (Comité de Unidad Campesina) zeigte sich empört: „Die Lage in El Estor ist in der Tat besorgniserregend. Die Repression und der Belagerungszustand sind extreme Maßnahmen. Man fühlt sich wie im Krieg“, so CUC-Direktor Carlos Barrientos. „Das Gerichtsurteil wurde nicht umgesetzt, und die Gemeinden und Teile der Bevölkerung, denen es darum geht, ihre Gebiete zu schützen, werden nicht zur Konsultation eingeladen. Stattdessen wird der Weg für die Durchfahrt der Lastwagen mit Blut und Feuer freigemacht, damit das transnationale Unternehmen weiterarbeiten kann Was hier geschieht, ist ein Skandal.“ Die Situation sei ohnehin konfliktbeladen: Guatemaltekische Oligarchien und transnationale Investor*innen hätten in den letzten Jahrzehnten die unkontrollierte Ausweitung von Monokulturen und die schnelle Umsetzung von Energie- und Rohstoffprojekten gefördert. Die so genannte „Allianz der Korrupten“ habe die Institutionen fast gänzlich unter ihre Kontrolle gebracht, und Menschenrechtsverteidiger*innen würden zunehmend kriminalisiert und mit repressiven Maßnahmen überzogen. „Unsere Regierung zieht es vor, bei sozialen Unruhen den Ausnahmezustand auszurufen und Proteste zum Schweigen zu bringen, und das durchaus mit schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, statt den Dialog zu suchen. Die internationale Gemeinschaft muss ihre Stimme erheben, die Konsultationen einfordern und gegen die Repression und den Belagerungszustand in El Estor protestieren. Die Menschen, die unter der Gewalt leiden, brauchen unsere Solidarität“, so der Direktor des Bäuer*innenverbands CUC.

Guatemala blutet aus

Dem jüngsten Bericht von Global Witness „Last Line of Defence“ zufolge ist Guatemala nach wie vor eins der gefährlichsten Länder der Welt für Menschen, die für ihr Land und für das Fortbestehen von Gemeingütern kämpfen. Allein im letzten Jahr wurden 13 Menschenrechtsverteidiger*innen getötet; damit steht Guatemala weltweit auf Platz vier der Länder, in denen Menschenrechtsverteidiger*innen ihre Arbeit mit dem Tod bezahlen. Im Jahr 2020, dem ersten Jahr der Amtszeit von Präsident Giammattei, wurden in Guatemala 1055 Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger*innen, 15 Morde und 22 Mordversuche angezeigt. Allein zwischen Januar und Juni 2021 registrierte die UDEFEGUA 551 Übergriffe. „Wenn sich dieser Trend fortsetzt, wird 2021 hinsichtlich der Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger*innen, Organisationen und Gemeinden in Guatemala das neue Rekordjahr“. 45% der Angriffe richteten sich gegen Männer, 42% gegen Frauen und weitere 14% gegen Organisationen und Gemeinschaften. Der Initiative UDEFEGUA zufolge ist der Quasi-Gleichstand bei Männern und Frauen eine neue Entwicklung.

Übersetzung: Lui Lüdicke

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