Poonal Nr. 290

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 290 vom 22. Mai 1997

Inhalt


BRASILIEN

BOLIVIEN

GUATEMALA

KUBA/SPANIEN

DOMINIKANISCHE REPUBLIK

ECUADOR

LATEINAMERIKA

MEXIKO

HONDURAS

URUGUAY

NICARAGUA


BRASILIEN

Kaufte Cardoso Abgeordnete für seine Wiederwahl?

(Brasilia, 15. Mai 1997, pulsar-Poonal).- Ein neuer politischer Skandal erschüttert die Regierung von Fernando Henrique Cardoso. Allem Anschein nach haben fünf Parlamentsabgeordnete jeweils über 180.000 Dollar erhalten, damit sie für eine Verfassungsänderung stimmten, die dem brasilianischen Präsidenten die Wiederwahl ermöglicht. Die Anklage wurde von der Tageszeitung „Folha de Sao Paulo“ veröffentlicht. Das Blatt enthüllte Details eines Telefongespräches zwischen dem Abgeordneten Ronivon Santiago und einer nicht identifizierten Person. In dem Gespräch gibt Santiago zu, für seine Stimmabgabe 188.000 Dollar erhalten zu haben. Präsident Cardoso ließ durch seinen Sprecher erklären, nie von den „Unregelmäßigkeiten“ gewußt zu haben und forderte den brasilianischen Kongreß auf, die Vorwürfe nachzuprüfen. Die Kirche hatte zuvor schon von „einen wahrhaftigen Stimmenkauf durch das Angebot von Posten, Gefallen, öffentlichen Aufträgen, Steuerbefreiungen und Hilfen für Finanzinstitutionen“ gesprochen. Auch die Zeitung „Jornal do Brasil“ berichtete Anfang dieses Monats, die Regierung verfüge über eine Liste mit 61 Abgeordneten, die ihre Stimme gegen persönliche Vorteile verkaufen. Die Oppositionsparteien fordern nun, den Abstimmungsprozeß über die mögliche Wiederwahl eines Präsidenten zu stoppen.

Gewerkschaften lehnen Freihandel ab

(Belo Horizonte, 16. Mai 1997, pulsar-Poonal).- Gewerkschaftliche Gruppen bezeichneten die Freihandelszone Amerikas (ALCA) in Belohorizonte als eine ungerechte und antidemokratische Entwicklung. Zur Begründung verwiesen sie darauf, daß innerhalb des Verhandlungsprozesses für die Gründung der ALCA in der brasilianischen Stadt ein Gewerkschaftsforum unerwünscht war. Regierungsfunktionär*innen und Unternehmer*innen aus 24 Ländern Amerika führten die entsprechenden Gespräche. Die Gewerkschaften wiesen die Art der Entscheidungsfindung zurück und sprachen von „willkürlichen“ Beschlüssen. Sie weisen darauf hin, daß mit der wirtschaftlichen Öffnung die Arbeitslosigkeit in Lateinamerika drastisch geklettert ist und auf der anderen Seite die dünne Oberschicht ihren Reichtum beträchtlich steigern konnte. Gegen ein Gewerkschaftsforum im Rahmen der Gespräche in Belo Horizonte hatten sich vor allem die offiziellen Delegationen der Dominikanischen Republik, Jamaica und Honduras ausgesprochen.

BOLIVIEN

Präsidentschaftskandidat und Ex-Diktator Banzer droht Klage

(Tarija, 15. Mai 1997, pulsar-Poonal).- Die Vereinigung von Angehörigen von Verhafteten, Verschwundenen und Märtyrern der Diktaturen geht weiter gegen Ex-Diktatur Hugo Banzer Suarez vor. Die Mitglieder kamen überein, einen Prozeß gegen Banzer anzustrengen, der jetzt als Kandidat der ADN für die kommenden Präsidentschaftswahlen aufgestellt ist. Sie wollen den Ex-Diktator wegen Menschenrechtsverletzungen vor den Interamerikanischen Gerichtshof in Costa Rica bringen. Unter seinem Regime verschwanden von 1970 bis 1977 mehr als 150 Menschen in Bolivien. Auf die Einladung für ein Forum über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Menschenrechte in Bolivien reagierte Banzer vor kurzem nicht. In einem Werbespot schrieb ihm die Vereinigung der Angehörigen von Verhafteten, Verschwundenen und Märtyrern Banzer die Verantwortung für zahlreiche Verbrechen zu. Dieser Spot war vom Nationalen Wahlrat zu Unrecht verboten worden. Inzwischen mußte der Wahlrat seinen Fehler eingestehen.

GUATEMALA

EU lobt Friedensprozeß

(Guatemala-Stadt, 15. Mai 1997, pulsar-Poonal).- Eine Abordnung der Europäischen Union bezeichnete den Friedensprozeß in Guatemala als ein „gutes Beispiel“ für die Beendigung von Konflikten in der Welt. Angeführt vom holländischen Entwicklungsminister Jean Pronk besuchten die Delegiert*innen ein Camp im Norden des Landes, in dem 153 ehemalige Guerilleros leben. Pronk betonte, die Europäische Union werde Guatemala weiter politisch beobachten, damit die Friedensentwicklung fortschreite und es vermieden werde, „daß die Leute sich getäuscht fühlen“. Die EU finanziert im Rahmen ihres Hilfsprogrammes für die Eigenständigkeit von Flüchtlingen, Rücksiedler*innen, Vertriebenen und Demobilisierten 28 Projekte in elf der 22 Provinzen des Landes. Die Gesamtsumme für diese Projekte beträgt 25 Millionen Dollar. Sie werden von der Regierung und europäischen Nicht-Regierungsorganisationen durchgeführt.

KUBA/SPANIEN

Streit um Einladung zu Ibero-Amerikanischem Treffen

(Havanna, 15. Mai 1997, pulsar-Poonal).- Die Geschäfte laufen gut, doch in der Politik entfernen sich Spanien und Kuba immer mehr. Einen neuerlichen diplomatischen Zusammenstoß gibt es jetzt. Das spanische Parlament organisiert die VIII. Konferenz der Vorsitzenden der Demokratischen Iberoamerikanischen Parlamente, die am 29. und 30. Mai dieses Jahres in Madrid stattfinden wird. Kuba ist dazu nur mit einem Beobachterstatus eingeladen, nicht dagegen wie bei früheren Gelegenheiten als Vollmitglied. Auf dieses Vorgehen der spanischen Regierungsmehrheit reagierte der kubanische Parlamentspräsident Ricardo Alarcón scharf, indem er die Einladung ablehnte. Kuba ist Gründungsmitglied der Iberoamerikanischen Gemeinschaft der Nationen. Die Liste von Verständnislosigkeiten, Kreditaufkündigungen, diplomatischen Krisen und persönlichen Angriffen, die die bilateralen Beziehungen seit dem Amtsantritt des konservativen spanischen Regierungschefes José Maria Aznar prägt, ist um einen Vorfall länger.

DOMINIKANISCHE REPUBLIK

Regierung fordert Europa zum Kampf gegen Sextourismus auf

(Montevideo, Mai 1997, comcosur-Poonal).- Die Dominikanische Nicht-Regierungsorganisation „Integración Juvenil“ hat Italien, Spanien und Deutschland aufgefordert, eine Kampagne gegen den Sextourismus von Europa in die Karibik zu starten. Auf einer Rundreise durch Europa erklärte die Vorsitzende der Organisation María Paulino, daß von den drei Millionen Minderjährigen in der Dominikanischen Republik mindestens 32.000 Kinder und Jugendliche sexuell ausgebeutet werden. Die Kunden für dieses Geschäft kommen überwiegend aus den drei genannten Ländern. Der Sextourismus hat zum Teil verheerende Auswirkungen. So wird beispielsweise für die Hafenstadt Puerto de Plata, ein Hauptziel für Tourist*innen an der Nordküste, geschätzt, daß etwa 60 Prozent der einheimischen Bevölkerung mit dem Hiv-Virus infiziert sind.

ECUADOR

Ein Schritt gegen die Korruption – Interview mit Napoleón Saltos

(Quito, 7. Mai 1997, alai-Poonal).- Am 17. April enthob das ecuadoreanische Parlament 13 Abgeordnete ihrer Ämter (Poonal berichtete; inzwischen sind vier weitere Abgeordnete abgesetzt worden). Dieser in der Geschichte des Landes einmalige Vorgang geschah im Rahmen der Korruptionsbekämpfung und angesichts des Drucks der Bürger*innen. Bei dieser Selbstreinigung des Kongresses spielte die Überprüfungskommission unter dem Vorsitz des Abgeordneten Napoleón Saltos von der Bewegung Pachakutik-Neues Land eine sehr wichtige Rolle. Osvaldo León sprach mit ihm. alai: Wie bewerten Sie die jüngsten Vorgänge?

Saltos: Die Absetzung von 13 Abgeordneten wegen Korruption wäre nicht möglich gewesen, wenn durch die Mobilisierung vom 5. bis 7. Februar (als Abdalá Bucaram faktisch gestürzt wurde; die Red.) nicht die Bedingungen geschaffen worden wären. An erster Stelle steht, daß das Mandat und die Kraft der sozialen und zivilen Akteur*innen uns den ersten Schritt gegen die Korruption erlaubt haben.

alai: Warum forderte die Bevölkerung zuerst, den Abgeordneten die Verantwortung zuzuweisen und sie zu bestrafen, wenn die quantitativ größeren Schäden für den Staat in anderen Bereichen geschehen sind?

Saltos: Ich glaube, weil vor allem die fehlende Ethik in der Politik kritisiert wird. Diese erneuernde Kraft greift die Wurzeln an. Sie bleibt nicht nur an der Oberfläche des politischen Ereignisses, sondern richtet sich auf die Werte, die Ethik. Sie beginnt, eine bestimmte Politik zu fordern, die mit dem allgemeinen Interesse verbunden ist. Außerdem existiert eine Repräsentativitätskrise im Land. Dies betrifft vor allem die durch das Parteiensystem gewählten Gruppen. Sie werden kritisiert, wenn der Kampf gegen die Korruption geführt wird. Markenzeichen dieser Krise war der Hemdwechsel, der Verkauf des Bewußtseins und das Entstehen eines sogenannten „unabhängigen“ Teils. Aber in Wirklichkeit waren alle nur Politikhändler*innen, Händler*innen für den Meistbietenden. Dabei muß gesehen werden, daß Bucaram die Korruption nicht gepachtet hatte. Das Problem versteckter Ausgaben intensivierte sich während der Regierung von Sixto und Dahik (Präsident und langjähriger Vizepräsident von Bucarams Vorgängerregierung; die Red.). Das Agieren mit im Haushalt nicht angegebenen Geldern hat eine längere Tradition, mit Bucaram wurde aber der Höhepunkt erreicht. Schließlich möchte ich erwähnen, daß die Fähigkeit des Parlamentes zur Selbstreinigung auf dem Spiel steht. Die Korruption hat tiefe Wurzeln in ihrer Beziehung zur wirtschaftlichen und politischen Macht geschlagen. Auch wenn ein wesentlicher Schritt geschehen ist, so handelt es sich nicht um das Schlußkapitel. Es ist eine Tür, die sich für den Kampf nicht nur gegen die Korruption sondern auch gegen die Straffreiheit öffnet.

alai: Es soll Druck gegeben haben, das Vorgehen der Überprüfungskommission zu stoppen. Stimmt das?

Saltos: Ich würde sagen, es gab einen Druckversuch von Seiten der Regierung. Die Presse hat darüber berichtet, wie es vom Präsidentenamt, von Alarcón aus, den Versuch gab, die angeklagten Abgeordneten und die Parlamentarier*innen der Roldosistischen Ecuadoreanischen Partei (PRE) zusammenzubringen. Die Beschuldigung, eine neue Mehrheit sollte zusammengeschmiedet werden, ist nicht an den Haaren herbeigezogen. Doch da wurde sofort und energisch gehandelt, sowohl durch die Medien wie durch unsere Kommission, um das zu verhindern. Zum ersten Mal schafft es die Regierung nicht, in eine Aktion des Parlaments einzugreifen. Diesmal mußte die Autonomie respektiert werden. Ich glaube, das ist ein Zeichen demokratischen Regierens.

LATEINAMERIKA

Verbrechen ohne Sühne – Die Straffreiheit in Lateinamerika, Teil I

Nach wie vor belasten ungestrafte Verbrechen in der Vergangenheit und der Gegenwart die politische Entwicklung in Lateinamerika. Über konkrete Fälle hat POONAL in früheren Ausgaben häufig berichtet. Noticias Aliadas analysiert in einem umfassenden Report dieses Phänomen und gibt einen Überblick über die Situation in verschiedenen Ländern Lateinamerikas. Teil I der Serie führt in das Thema ein und behandelt die Situation in Mexiko. Die folgenden Teile, die wir in den kommenden POONAL-Ausgaben veröffentlichen, befassen sich mit der Lage in Mittel- und Südamerika.

Ein Schleier über der Demokratie

Von Lucien O. Chauvin

(Lima, Mai 1997, noticias aliadas-Poonal).- Was können ein betuchter Architekt in El Salvador, eine Geheimdienstmitarbeiterin in Peru und ein schwarzer Mechaniker in Brasilien gemein haben? Nicht viel – bis auf die Tatsache, daß Ramón García Prieto, Leonor La Rosa und Jefferson Sanches Opfer gewalttätiger Verbrechen gewesen sind, deren Urheber sehr wahrscheinlich niemals bestraft werden. In Lateinamerika ist die Straffreiheit – die fehlende Bestrafung – weit verbreitet. Mit den Militärdiktaturen der 70er und 80er Jahre verknüpft, besteht die Straffreiheit unter den demokratischen und neoliberalen Regierungen der 90er Jahre fort. Die Mehrzahl der lateinamerikanischen Streitkräfte machte ihre Zustimmung für einen Übergang zur Demokratie in ihren Ländern von Amnestiegesetzen abhängig. Sie vertauschten Amenstie mit Amnesie in einem Versuch, die während der Diktaturen begangenen Menschenrechtsverletzungen dem Vergessen anheim fallen zu lassen. Aber dieser Versuch, die Vergangenheit aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen, funktionierte nicht. In Argentinien bleiben die Mütter von der Plaza de Mayo ein sichtbares Symbol für die Schrecken der Vergangenheit auch 21 Jahre nachdem die Militärs die Macht übernahmen und mehr als 30.000 Personen verschwinden ließen, bevor sie 1983 in ihre Kasernen zurückkehrten. Ihre wöchentlichen Demonstrationen erinnern daran, daß die Amnestiegesetze die Wunden nicht geschlossen haben. Im benachbarten Uruguay ist der Fall der 170 verschwundenen Uruguayer*innen während der Phase des „schmutzigen Krieges“ (1976-85) immer noch ein Thema auf den ersten Zeitungsseiten. „Wenn die Probleme nicht völlig gelöst werden, dann tauchen sie ein ums andere Mal wieder auf, bis sie chronisch werden“, sagt dazu ein politischer Beobachter, der Uruguayer Alfonso Lessa. Gleiches geschieht in Peru. Dort verabschiedete der Kongreß 1995 eine Amnestie, die von derRegierung des Präsidenten Alberto Fujimori vorbereitet wurde. Die Militärs, die dank dieser Amnestie frei kamen , sind heute erneut wegen Menschenrechtsverletzungen angeklagt. Leonor La Rosa, Mitarbeiterin des Armeegeheimdienstes, klagte im März Arbeitskolleg*innen an, die sie gefoltert hätten, weil sie der Presse angeblich Information über paramilitärische Gruppen in den Streitkräften zugespielt habe. Für Sebastián Brett von Human Rights Watch/Americas begründen die Amnestiegesetze einen Teufelskreis, der schwierig durchbrochen werden kann. „Wenn es darum geht, die Vergangenheit auszuwischen, entsteht die Gefahr, die Straffreiheit zu institutionalisieren“, meint Brett. Dies gilt vor allem für Zentralamerika, wo die Gewalt die jungen Demokratien in El Salvador und Nicaragua bedroht. Die Gewalttätigkeiten der Sicherheitskräfte halten in Lateinamerika an, weil die Verbrechen unter den Teppich gekehrt wurden. Ein Video aus jüngster Zeit zeigte Angehörige der brasilianischen Polizei in Sao Paulo, wie sie Verdächtige, darunter der erwähnte Jefferson Sanches, verprügeln. In Argentinien hat der brutale Mord an dem Fotojournalisten Luis Cabezas das Gespenst der Straffreiheit wieder aufleben lassen. In beiden Fällen sind mutmaßliche Täter festgenommen worden. Aber es besteht die Angst, daß es sich bei ihnen nur um die Sündenböcke der „Unantastbaren“ handelt. Zudem geht die Straffreiheit in Lateinamerika über die von Polizei oder Streitkräften begangenen Verbrechen hinaus. Korruption beherrscht den politischen und den wirtschaftlichen Bereich. Der Erzbischof von Tegucigalpa, Monseñor Oscar Andrés Rodríguez, versichert gar, „die Korruption ist das AIDS von Lateinamerika“. In einer Umfrage der deutschen Organisation „Transparenz International“ im Jahr 1996 gaben 23 Prozent der 10.000 befragten Lateinamerikaner*innen die Korruption als das Übel Nummer eins in ihren Ländern an. Die Organisation „Latinobarómetro“ befragte zum selben Thema mehr als 12.000 Personen in neun Ländern. Danach glauben 68 Prozent der Lateinamerikaner*innen, daß die Korruption in den letzten fünf Jahren gestiegen ist. „Die Strafe existiert nur für die Armen“, sagt der brasilianische Anthropologe Jorge de Carvalho. Er versichert, der kürzliche Mord an einem Indígenaführer der Pataxó in der Hauptstadt Brasilia sei deswegen möglich gewesen, weil die fünf jugendlichen Täter dachten, der soziale Status ihrer Familien garantiere ihnen die Straffreiheit. Sie irrten sich und kamen ins Gefängnis. Doch viele Brasilianer*innen zweifeln, ob der Fall nicht doch mit Straffreiheit endet. Die Umfrage von Latinobarómetro zeigt ein trauriges Panorama bezüglich des Vertrauens, das die Lateinamerikaner*innen in die Justiz und ihre gewählten Autoritäten haben. Von 12.675 Befragten äußerten nur 11 Prozent Vertrauen in die Richter*innen, gar nur 4 Prozent in die für das Parlament gewählten Abgeordneten. Seit 1993 wurden vier demokratisch gewählte Präsidenten wegen Korruption und Machtmißbrauch angeklagt und abgesetzt. Es handelt sich um den Brasilianer Fernando Collor de Mello, den Ecuadoreaner Abdalá Bucaram, den Guatemalteken Jorge Serrano und den Venezolaner Carlos Andrés Pérez. Nur der letztgenannte verbrachte einige Zeit im Gefängnis. Die anderen drei leben ein Luxusleben im Exil. Dagegen gibt es viele zumindest formal unschuldige Personen, die in den überbevölkerten lateinamerikanischen Haftanstalten einsitzen, oohne daß sie jemals von einem Gericht verurteilt worden sind. In Peru sind 90 Prozent der Haftinsassen niemals einem Richter oder einer Richterin vorgeführt worden. In Kolumbien, wo die Gefängnisaufstände inzwischen zum Alltag gehören, sitzt die Mehrheit der 40.000 Häftlinge ohne je einen Prozeß erlebt zu haben in den Gefängnissen ein, die für maximal 28.000 Insassen aus gerichtet sind. Kolumbien, das gewalttätigste Land in der Region, ist auch bei der straffreien Behandlung der Täter führend. Im vergangenen Jahr geschahen pro 100.000 Einwohner*innen knapp 90 Verbrechen. Von den Mordfällen konnten die Behörden etwa 3 Prozent lösen.

Menschenrechtsverteidiger*innen und Kirchenleute aus ganz Lateinamerika sind überzeugt davon, daß die Straffreiheit eine der größten Bedrohungen für die Festigung der Demokratie in der Region ist. Fabiola Letelier, chilenische Fachanwältin in Menschenrechtsfragen und Schwester des 1976 ermordeten ehemaligen chilenischen Außenministers Orlando Letelier, glaubt, daß die Straffreiheit fortbesteht, weil die vergangenen Verbrechen nicht untersucht werden. Und wenn dies doch geschah, wurden die Täter*innen nicht bestraft. „Die Straffreiheit stellt den demokratischen Charakter der politischen Übergangsprozesse in Lateinamerika in Frage. Dort waren die Menschenrechtsverletzungen der 70er und 80er Jahre eine der grausamsten Perioden in der Geschichte unserer gewalttätigen Region“, schrieb Letelier. Die Mehrzahl der Kirchen in Lateinamerika hat ihre Stimme gegen die Straffreiheit erhoben. In Guatemala beispielsweise wird die katholische Kirche ihre eigene Version des „Wahrheitsberichtes“ über die Menschenrechtsverletzungen in dem Land während des bewaffneten internen Konfliktes veröffentlichen. Sie glaubt nicht daran, daß die Regierung die wirklich Verantwortlichen bestrafen wird. Die katholischen Bischöfe Uruguays haben die Beichte angeboten, um auf diese Weise dazu beizutragen, den Verbleib der Verschwundenen aufzuklären. In Peru erklärt der evangelische Pastor Rafael Goto über das dort gültige Amnestiegesetz: „Die Straffreiheit ist wie die Hefe, die alle Formen von Verbrechen braucht, um zu wachsen. Die nationale Versöhnung ist mit der Straffreiheit nicht vereinbar.“ Die Demokratie basiert auf der Gerechtigkeit. Solange die 400 Millionen Lateinamerikaner*innen nicht merken, daß die Justiz für alle gleich arbeitet, wird die Demokratie eine Worthülse bleiben, die nur für die anwendbar ist, die den Zugang zur wirtschaftlichen oder politischen Macht haben. Das führt zu einem alarmierenden Mangel an Respekt auf allen Ebenen und drückt sich in ständigen Menschenrechtsverletzungen aus. „Wo die Demokratie und die Anwendung der Gesetze schwach sind, wird das Verbrechen, ganz gleich welchen Ursprungs, welcher Art und welchen Inhalts, tendenziell nicht bestraft. Die Bürger*innen sind denjenigen an der Macht ausgeliefert“, schließt Goto.

Die beiden großen Kirchen wollen enger zusammenarbeiten

(Quito, 12. Mai 1997, alc-Poonal).- Mitglieder der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz (CELAM) und seinem evangelischen Gegenpart, dem Lateinamerikanischen Kirchenrat (CLAI), kamen in Ecuadors Hauptstadt Quito zusammen. Dort wurden im Rahmen einer gegenseitigen Annäherung mit Blick auf das dritte Jahrtausend gemeinsame Veranstaltungen für dieses und das kommende Jahr vereinbart. Katholik*innen und Protestant*innen einigten sich unter anderem auf die Ausarbeitung von Materialien für die Friedenserziehung und ein Handbuch zur ökumenischen Ausbildung. Ebenso wollen die beiden großen Kirchen zusammen eine Studie über die soziale und wirtschaftliche Situation Lateinamerikas mit einem Schwerpunkt auf der Auslandsschuld durchführen und sich dazu gemeinsam äußern. Mitglieder des CLAI werden noch in diesem Jahr an mehreren von der CELAM organisierten Veranstaltungen teilnehmen. Im kommenden Jahr sind Seminare in Quito und Mexiko vorgesehen, die von beiden Kirchen vorbereitet werden.

MEXIKO

Die Hauptstadt der Straffreiheit

Von John Ross

(Mexiko-Stadt, Mai 1997, noticias aliadas-Poonal).- „Diese Stadt muß die Welthauptstadt der Straffreiheit sein“, sagt Lalo Miranda, während er an seinem kleinen Stand auf dem Markt Pino Suárez im alten Stadtkern Haare schneidet. Miranda ist ein echter „Chilango“, das heißt, er ist in der Hauptstadt geboren und aufgewachsen. Die täglichen Erfahrungen bestätigen seine Analyse. Gegenüber den Markteingängen fahren die Autos bei Rot ohne Angst vor (gesetzlichen) Strafen über die Kreuzungen. Die Verkehrspolizist*innen verlangen regelmäßig „mordidas“, Bestechungsgelder, in aller Öffentlichkeit. Trotz der ewigen Antikorruptions-Kampagnen der Regierung. Selbsternannte „Chefs“ vermieten „Plätze“ auf den öffentlichen Gehwegen und erzwingen von den Straßenhändler*innen anschließend noch Gebühren, weil sie die Polizei auf Abstand halten. Am anderen Ende der Machtskala besetzen die Politiker*innen die Stellen mit ihren Familienangehörigen, verkaufen Staatsunternehmen an ihre Anhänger*innen, berechnen Kommissionen für Regierungsverträge und rauben Gelder und Wahlen mit wenig Angst, gerichtlich belangt zu werden. Gedungene Mörder bringen politische Feinde um und tauchen in die Unterwelt ab, in der sich Polizisten und kriminelle Elemente vermischen. Wenige müssen jemals vor Gericht Rechenschaft ablegen. Und wenn die Justiz zugreift, erwischt sie nicht selten die Falschen, denen unter Folter Geständnisse abgepreßt werden. Die „Produktion von Schuldigen“ ist ein herausragendes Kennzeichen der mexikanischen Justiz. „Wenn es Korruptionsolympiaden gäbe, müßten sie hier stattfinden“, versichert Lalo Miranda und unterstreicht dies, indem er sich vor Abscheu mit einer dramatischen Geste die Nase zuhält. Die Kunden vertreiben sich ihre Wartezeit, indem sie die Zeitungen umblättern und ärgerlich die unendliche Folge von Skandalen kommentieren, die seit vergangenem Oktober die Schlagzeilen füllen. Einbezogen in die verschiedenen Untaten sind jetzt ein ehemaliger Bundesstaatsanwalt, zwei Sonderstaatsanwält e (beide flüchtig), zwei amtierende Gouverneure (die nach dem Verdacht der amerikanischen Drogenbekämpfungsbehörde die Drogenhändler*innen schützen) und der General, der die mexikanische Drogenbekämpfung leitete (zwei weitere Generäle außer diesem sind inzwischen verhaftet). Aber kein einziger Skandal wäre vollständig ohne die skandalöse Familie Salinas: der Ex-Präsident Carlos, sein inhaftierter Bruder Raúl und der gleichnamige Vater, der jetzt von seinem früheren Sekretär beschuldigt wird, der oberste Drogenboß Mexikos zu sein. „Ganz Mexiko ist Salinas“ seufzt Margarita López, während Miranda das Haar ihres Sohnes schneidet.

Zwei Regierungsperioden zuvor leitete der Rechtsprofessor Samuel del Villar die gescheiterte „moralische Erneuerung“ des Präsidenten Miguel de la Madrid. Er zog sich von dieser Kampagne zurück, weil „es keinen wirklichen Willen gab, mit der Straffreihei t Schluß zu machen“. Del Villar ist anders als Miranda nicht so bereit, alle Mexikaner*innen als korrupt zu verurteilen. „Daß alle Welt korrupt ist, ist eine Theorie derer, die korrupt sind, um ihr Handeln zu rechtfertigen“, sagt er. Der Anwalt stimmt zu, daß der Kreislauf von Korruption und Straffreiheit durchdringend ist. Aber er argumentiert, das Problem beginne oben. „Die Korruption in Mexiko hat eine vertikale Struktur.“ So beginnt sie beispielsweise bei der Polizei auf der Stufe der Kommandanten, die ihren Untergebenen befehlen, zu erpressen oder sogar Drogen zu verkaufen. Die Chefs streichen den größten Teil dieser Einnahmen ein. Diese Befehlsposten sind traditionell an die Meistbietenden verkauft worden. Für Del Villar ist der wahre Räuber die regierende Revolutionäre Institutionelle Partei (PRI), die er für die „Degenerierung und die Abwertung des Justizsystems“ verantwortlich macht. Der aktuelle mexikanische Bundesstaatsanwalt beklagte vor nicht allzu langer Zeit, die mexikanische Rechtsprechung befinde sich „in der schwersten Krise seit ihrer Existenz“. Einen zentralen Moment für das Fortbestehen der Korruption sieht del Villar in den Präsidentschaftswahlen von 1988, bei denen der Oppositionskandidat Cuauhtémoc Cárdenas offenkundig den PRI-Anwärter Salinas an den Wahlurnen schlug, ihm der Sieg aber anschließend bei der gefälschten Stimmenauszählung gestohlen wurde. „Die Regierung brach ihr Versprechen gegenüber der Bevölkerung und verlor jegliche Kontrolle. Während der Salinasjahre war alles käuflich und die Justiz bildete keine Ausnahme“, erklärt del Villar, heute Mitglied der linksoppositionellen Partei der Demokratischen Revolution (PRD). Eine krasse Korruption, wie sie nun im Überfluß zum Vorschein kommt, blieb unter einem Berg wohlwollender Berichterstattung verborgen, mit der die nationale und internationale Presse Salinas überhäufte. Sechs Jahre lang war der Ex-Präsident das Paradebeispiel für die „Unantastbarkeit“.

Ein Grundproblem ist zudem der Mechanismus für die Berufung der Richter*innen. Diese werden von einem Justizrat ausgewählt, dessen Mitglieder sich nur gegenüber dem Präsidenten verantworten müssen. So werden politische Günstlinge auf hohe Posten gehieft und ein System der Vetternwirtschaft zementiert. Wie können sich die geschädigten Bürger*innen gegen diesen Teufelskreis von Korruption und Straffreiheit verteidigen? Für den Rechtsprofessor del Villar ist die Lösung in erster Linie politisch. Die Macht müsse der PRI in legitimen Wahlen aus den Händen gerissen werden. „Nur die Legitimität kann das Vertrauen in die Herrschaft des Gesetzes wieder herstellen“, erklärt er. Der Friseur Miranda hat auch ein Rezept, die Straffreiheit zu bekämpfen. „Wenn wir die Dinge hier ändern wollen, dürfen wir uns nicht alles gefallen lassen, müssen wir aufhören, mordidas zu zahlen, aufhören die PRI zu wählen. Vor allem dürfen wir keine Angst mehr haben.“

HONDURAS

Indígenas und Regierung einigen sich

(Tegucigalpa, 15. Mai 1997, pulsar-Poonal).- Die fast 3.000 Indígenas der Chorti haben die Hauptstadt verlassen und sind in ihre Region zurückgekehrt. Zuvor hatten sie eine Vereinbarung mit der Regierung unterschrieben. Darin wird ihnen zugesichert, daß sie kurzfristig Landrechte für 2.000 Hektar bekommen sollen. Mittelfristig sollen sie über weitere 5.000 Hektar verfügen können. Die Regierung sagte zu, ein Indígena-Gesetz zu verkündigen, das sie schützt. Außerdem soll eine Untersuchung über den Mord an zwei Führern der Chorti durchgeführt werden. Diese wurden im vergangenen April umgebracht. Eine Kommission aus Mitgliedern von Menschenrechtsorganisationen und Delegierten der katholischen Kirche wird die Vereinbarungen überwachen. Arbeiter*innen und Campesino-Organisationen aus verschiedenen Regionen des Landes hatten in den vergangenen Tagen die Anliegen der Chorti unterstützt und ihre Bereitschaft erklärt, aus Solidarität ebenfalls in die Hauptstadt zu marschieren. Der Protestzug der Chorti war der fünfte Marsch von honduranischen Indígenas nach Tegucigalpa in jüngerer Zeit, um so Land, Gerechtigkeit und soziale Rechte zu fordern.

URUGUAY

Gewerkschafter im Knast

(Montevideo, 15. Mai 1997, pulsar-Poonal).- Ein Richter hat den Vorsitzenden der Gewerkschaft der staatlichen Sozialversicherungsbehörde, Adolfo Bertoni, zu sechs Monaten Haft verurteilt. Bertoni war wegen Diffamierung angeklagt. Er hatte versichert, ein Bankberater hätte die Erfüllung des Tarifvertrages davon abhängig gemacht, daß die Gewerkschaft von einer Untersuchung in einem Arbeitsstreit ablasse. Die Gewerkschaft der Sozialversicherung wird vom Dachverband „Einheitzentrale“ als einer der Stützpfeiler der uruguayischen Gewerkschaftsbewegung angesehen. Bertoni war in den vergangenen Jahren die stärkste Führungspersönlichkeit in seiner Organisation. Mit dieser steht er an der Spitze einer Kampagne für eine Unterschriftensammlung, die ein Volksbegehren erreichen will. Mit diesem hoffen die Unterstützer*innen, eine Verfassungsänderung durchzusetzen, die private Rentenversicherungssysteme verbietet. Das Urteil gegen Bertoni ist in gewisser Weise ebenfalls ein Schlag gegen die Kampagne. Die Gewerkschaft will nun auch Hilfe bei ausländischen Kolleg*innen suchen. Vorerst muß ihr Vorsitzender nicht in Haft, da derzeit das Berufungsverfahren läuft.

NICARAGUA

Familiengesetz stößt auf Widerstand

(Managua, 9. Mai 1997, alc-Poonal). Tausende Nicaraguaner*innen haben vor dem Parlamentssitz gegen einen Gesetzesentwurf protestiert, der Grundlage für die Schaffung eines Familienministerium sein soll. Auf Spruchbändern stand unter anderem „In Nicaragua und überall werden wir den Machismo begraben“. In einem Dokument, das den Abgeordneten überreicht wurde, wird eine umfassende landesweite Beratung gefordert, um einen neuen Gesetzesentwurf auszuarbeiten. Gegen das aktuelle Projekt wenden sich Frauenorganisationen verschiedener Strömungen. Die Vorsitzende der Kommission für Frauen, Kindheit, Jugend und Familie im Parlament, Dora Zeledon, verlangt beispielsweise statt der Gründung eines Familienministeriums eine Diskussion über ein Familien- und Kindergesetzbuch. Dazu ist bereits im vergangenen Jahr ein Entwurf eingereicht worden. Die Frauenorganisationen vermuten hinter der Regierungsidee, ein Frauenministerium einzurichten, die Absicht, das Nicaraguanische Fraueninstitut zu entwerten. Über dieses haben die Frauen im Land wichtige soziale Erfolge erzielt. Die Kritik richtet sich unter anderem darauf, daß eheliche Kinder als Schüler*innen bevorzugt werden sollen. „Was wird mit den Kindern von alleinerziehenden Müttern passieren“, fragt Teresa Chavarria, eine der Persönlichkeiten in der Frauenbewegung. Und die Frauenrechtlerin Vilma Solorzano weist das beabsichtigte Gesetz zurück, weil es die alleinerziehenden Mütter herabwürdige.

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