Erwartungen gestern und heute – Bilanz eines Regierungsjahres

(Buenos Aires, 13. Dezember 2020, ANRed/poonal).- Als vor einem Jahr die konservativ-liberale Regierung des argentinischen Präsidenten Mauricio Macri (2015-2019) abgewählt wurde, waren die Erwartungen in weiten Teilen der Bevölkerung hoch. Von der neuen linksperonistischen Regierung unter Alberto Fernández erhoffte man sich eine Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Situation, denn die Regierungsjahre Macris waren von Rezession, Arbeitslosigkeit und eine Verschlechterung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen für die arbeitende Bevölkerung geprägt. Die Armut und Obdachlosigkeit waren angestiegen und mit der wirtschaftlichen Rezession auch die Inflation.

Inflation und steigende Armut

Die Inflation verschiebt das Einkommen in der Gesellschaft enorm. Die Mehrheit der Bevölkerung, die keinen Einfluss auf die Preise hat, verliert durch den Preisanstieg an Einkommen, während die Wenigen in der Gesellschaft, bei denen sich der Einfluss auf die Preise konzentriert, von einer Inflation profitieren. Letzteren ist es möglich, die Preise selbst festzulegen oder sie über den Weg der politischen Einflussnahme zu erhöhen. Immer wieder ist dies zu beobachten, wenn es beispielsweise zu einem Anstieg der Kraftstoffpreise kommt, von der die Ölkonzerne profitieren.

Die Inflation ist Teil der Klassenfrage, denn sie zeigt Machtverhältnisse auf, die sich durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln bestimmen. Für die Mehrheit der Bevölkerung, die von einem festen Einkommen wie Löhnen, Renten oder Sozialleistungen abhängig ist, ist das deutlich spürbar, da ihr Einkommen nicht an Preissteigerungen angepasst wird. Rezession und Inflation wurden durch die enorme und bewusste Verschuldung des Staates in der Regierungsperiode Macris aufrechterhalten. Ende 2019 konnte der Staat die Schulden schließlich nicht mehr bedienen; das Land war erneut zahlungsunfähig und stand vor einem Default.

Von der neuen Regierung erwartete die Bevölkerung vor allem, die Konzentration von Einkommen und Vermögen umzukehren und damit die Logik zu durchbrechen, durch die die Armut im Land gestiegen war. Ein Bericht der argentinischen Zentralbank im vergangenen Mai hatte diese Entwicklung hin zu einer starken Konzentration von Einkommen und Vermögen bestätigt. Er zeigte, dass von hundert Milliarden Dollar, die durch Kreditaufnahme ins Land flossen, etwa 86 Milliarden Dollar das Land gleich darauf wieder verließen. Der Bericht bestätigte damit die Kapitalflucht, die durch zentrale Investor*innen ausgelöst wird, die die Wirtschaft des Landes bewerten. Sichtbar wurde damit wiederum die finanzielle und wirtschaftliche Abhängigkeit des Landes von der vorherrschenden kapitalistischen Spekulation. Unerwartet brach dann die Coronapandemie aus, die verhinderte, das Problem von Grund auf anzugehen.

Coronavirus und Rezession

Die globale Coronapandemie hat die ungelösten Probleme weiter verschärft, die in Argentinien bereits existierten und schon durch die Auswirkungen der globalen Wirtschaftsrezession verstärkt worden waren. Die neue Regierung unter Fernández musste sich drei Monate nach ihrem Amtsantritt einer neuen und unvorhergesehenen Situation stellen, die zu der problematischen Ausgangslage noch hinzukam, die die Regierung Macris hinterlassen hatte.

Alle zwischenstaatlichen Organisationen weisen in ihren Analysen mehr oder weniger auf die gleichen globalen wirtschaftlichen Probleme hin, die bereits lange vor der Pandemie bestanden und auf die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2007 bis 2009 zurückzuführen sind. Der Präsident der US-Notenbank berichtete im August, dass die Wachstumsprognose für die globale Wirtschaft seit 2012 zurückgehe. Hatte man sich im Kampf gegen die Inflation in den letzten vier Jahrzehnten nach der Monetarismus-Logik Milton Friedmans gerichtet, strebt man nun eine kontrollierte Erhöhung der Preise an. Dies verdeutlichen die theoretischen Debatten der Liberalen, die mit ihrer Propaganda in den argentinischen Medien führend sind.

In Argentinien wird nicht investiert

Doch das alles ist nicht neu. Der globale Rückgang des Wirtschaftswachstums ist seit langem zu beobachten und es ist nicht abzusehen, dass die Probleme in Argentinien durch Investitionen aus dem Ausland gelöst würden. In Argentinien und in der Region wird nicht investiert, wie unter anderem die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) und die Welthandels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Vereinten Nationen (UNCTAD) berichten. Investitionen sind erst zu erwarten, wenn die Politik extreme Zugeständnisse im Hinblick auf die Strukturanpassungen machen würde, die in der Vereinbarung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) enthalten sind und vor allem von Großunternehmer*innen und von gewissen Kommentator*innen in den zentralen Medien gefordert werden. Bei den sogenannten Strukturanpassungen handelt es sich um reaktionäre Arbeits- und Rentenreformen. Investitiert wird also nicht in Argentinien, aber in den sogenannten entwickelten Industrieländern, wenn auch mit einer rückläufigen Tendenz im Vergleich zu den Vorjahren.

Trotz der pessimistischen Aussichten im Hinblick auf die Entwicklung der Weltwirtschaft ließ der Rückgang der Coronainfektionen und der Todesfälle die Erwartung auf eine Erholung der Wirtschaft in der zweiten Jahreshälfte 2020 steigen, vor allem, da die Entwicklung eines Impfstoffs voranschritt und dieser in einigen Ländern bereits vorhanden ist. Doch im Winter 2020 erlitten die sogenannten entwickelten Länder einen Rückschlag und internationale Organisationen rieten den Regierungen, gut abzuwägen, ob sie die ergriffenen präventiven und unterstützenden Maßnahmen für die von der Krise am meisten betroffenen Sektoren überhaupt wieder aufheben.

Denn die Schwere der globalen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen auf die benachteiligte Bevölkerung hatte Ängste vor einem Kollaps und vor Konflikten mit ungewissem Ausgang geweckt. Es ist wahrscheinlich, dass der ehemalige US-Präsident Trump die Wahlen im November dieses Jahres verloren hat, weil er diesen Rat unberücksichtigt ließ, obwohl er staatlich stark intervenierte, als er die Geldmenge und die Staatsschulden erhöhte. Sein katastrophales Management der Pandemie und dessen wirtschaftliche Auswirkungen schmälerten die Wahrscheinlichkeit für den US-Präsidenten, wiedergewählt zu werden.

Nachdem Infektionen und Todesfälle infolge der Pandemie von April bis Juni ihren Höhepunkt erreicht hatten, erholte sich die Weltwirtschaft geringfügig. Doch der Ausbruch der zweiten Infektionswelle betrifft nun auch Länder, die in der ersten Phase der Pandemie noch bessere Ergebnisse verzeichnen konnten.

Ein Land voller Abhängigkeiten

In Argentinien erwartete man von der neuen Regierung, den Teufelskreis aus Rezession und Inflation zu durchbrechen. Doch dann kam die Coronapandemie. Auch wenn sich die Pandemie zunächst als externes Problem darstellt, ist sie ebenso ein internes; denn Argentinien ist Teil der globalen kapitalistischen Wirtschaftsordnung, und diese Dynamik aus Abhängigkeiten definiert die wirtschaftliche Ordnung im Land.

Die Logik der Pandemie kann nicht von dieser kapitalistischen Ordnung mit seinem Produktionsmodell, das die Arbeitskraft und natürliche Ressourcen unter die Ziele des Kapitals stellt, getrennt betrachtet werden. Argentinien ist als Teil dieser Wirtschaftsordnung abhängig von Import- und Exportpreisen, von den Zinssätzen an den globalen Finanzmärkten und von der Bewertung seines Länderrisikos. Diese Abhängigkeiten bestehen unabhängig von der Politik des Landes und determinieren die Gesamtheit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen. Es gibt keinen Wirtschaftszweig im produzierenden oder dienstleistenden Gewerbe, im Produktions- oder Zirkulationsprozess, der nicht von Fremdkapital dominiert ist.

Die Erwartungen der argentinischen Bevölkerung, dass sich mit der Fernández-Regierung etwas im Land ändere, wurden zunächst nicht erfüllt. Das Regierungsprogramm wurde am 10. Dezember 2019 verabschiedet, doch die Coronapandemie verzögerte den Zeitplan. Die ursprüngliche Agenda sah vor, zunächst das Thema der Staatsverschuldung zu lösen und dann Maßnahmen zu ergreifen, um die Probleme, die die Macri-Regierung hinterlassen hatte, anzugehen. Das Vorgehen, um die Staatsverschuldung zu lösen, war allerdings umstritten. Aus der Bevölkerung kam die Forderung, die Schuldenzahlungen an die privaten Gläubiger auszusetzen, sowie die Initiative, die Verschuldungssituation unter Beteiligung der Bevölkerung genau zu untersuchen und zu prüfen. Die Regierung beschloss schließlich ein Schnellverfahren, um mit den privaten Gläubigern Verhandlungen zu führen, die bis März abgeschlossen sein sollten.

Verhandlungen über Schuldenzahlungen verschoben

Doch die Verhandlungen verschoben sich, da sich sowohl die Auswirkungen der Pandemie verschärften als auch die Habgier der spekulierenden Gläubiger. Diese hatten sich bereits auf einen möglichen Zahlungsausfall besser vorbereitet. Die Verzögerung hatte ihren Preis, denn die Staatsschulden wurden indes weiter gezahlt und nur die Zahlungen weniger Fälligkeiten ausgesetzt. Darüber hinaus begünstigte man private Unternehmen mit vorzeitigem Schuldenerlass, was sich auf die Devisenreserven auswirkte. So erklärt sich zum großen Teil der Rückgang des Devisenbestands von 43,785 Milliarden US-Dollar am 12. Oktober auf 38,710 Milliarden US-Dollar am 9. Dezember 2020.

Die Verhandlungen mit dem IWF haben sich aufgrund des Regierungswechsels in den USA auf das Jahr 2021 verschoben. Ein Kredit des IWF an die Regierung Macri, für den sich der scheidende US-Präsident Trump eingesetzt hatte, und der den höchsten IWF-Kredit an Argentinien bislang darstellt, hatte Ungereimtheiten hervorgerufen. Der Kredit war seinerzeit nicht vom argentinischen Parlament genehmigt worden und wurde nachträglich bei einer internen Untersuchung des IWF stark kritisiert. Die US-Regierung wollte mit dem Kredit die argentinische Regierung unter Macri begünstigten, wobei es sich aber nicht nur um einzelne Privatgeschäfte zwischen den beiden Unternehmer-Präsidenten Macri und Trump handelte. Die Kreditvergabe muss vor dem Hintergrund einer US-Außenpolitik betrachtet werden, die eine Einmischung in der Region Lateinamerika und Karibik, konkret in Venezuela, verfolgt. Diese Komplizenschaft des IWF mit der Regierung des Präsidenten Macri wurde durch einen Brief von aktuell amtierenden Senator*innen Argentiniens an den IWF offenbar. Die Senator*innen verlangen vom IWF Aufklärung über die Kreditvergabe und fordern, Kredite nicht an die Kondition sogenannter Strukturanpassungen zu binden, mit dem der IWF Druck und Einfluss auf die Wirtschaftspolitik des Landes ausübt.

Ein Jahr später

Die ursprüngliche Agenda der amtierenden Regierung, der Zentralbankbericht und der Brief der Senator*innen an den IWF zeigen, dass die Staatsverschuldung ein zentrales Thema in der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Debatte ist. Ende 2020 ist abzusehen, dass sich die Staatsverschuldung weiter stark auf die Lebensrealitäten in Argentinien auswirkt. Die Armutsrate von ca. 45 Prozent und eine Arbeitslosigkeit von 13 Prozent machen den Ernst der aktuellen Lage mehr als deutlich. Eine Analyse der Universidad Católica Argentina (UCA) deutete darauf hin, dass ohne die massiven unterstützenden Maßnahmen, die der argentinische Staat aktuell ergreift, die Auswirkungen auf die Bevölkerung noch bedrohlichere Ausmaße annehmen und die Armutsrate bei über 50 Prozent liegen würde.

Die Regierung unter Alberto Fernández hat die Preise für Lebensmittel und für Güter wie Benzin, Gas und Elektrizität auf dem Stand von März bis Jahresende eingefroren, um den Auswirkungen der Inflation Einhalt zu gebieten und noch größeren sozialen Problemen vorzubeugen. Um in der Coronakrise auch den Zugang zu Kommunikation für die Bevölkerung zu sichern, hat sie ebenfalls die Tarife für Mobilfunk, Internet und Kabelfernsehen eingefroren. Des Weiteren wurde eine sogenannte solidarische Steuer verabschiedet, mit der die wohlhabendsten Bürger*innen eine einmalige Abgabe von bis zu 3,5 Prozent auf ihr Vermögen im Inland und bis zu 5,3 Prozent auf ihr Vermögen im Ausland entrichten sollen, um die Maßnahmen in der Coronakrise mitzufinanzieren. Diese Steuer betrifft in Argentinien rund 12.000 Einwohner*innen mit einem Vermögen von mehr als 200 Millionen Pesos (rund zwei Millionen Euro). Die Steuer soll vor allem kleinen Unternehmen, sozial schwachen Bevölkerungsschichten und der medizinischen Versorgung zugute kommen, hat am Ende aber doch eher einen freiwilligen Charakter. Gleichzeitig hat man aber die Einkommenssituation der Gesamtbevölkerung verschlechtert, insbesondere die der Renter*innen. Eine Anpassung der Rentenzahlungen straft die ältere Bevölkerung, der es mit der geringen Rentenleistung nicht möglich ist, für ihre Grundbedürfnisse aufzukommen.

Das neue Jahr lässt die Erwartungen der argentinischen Bevölkerung auf Veränderung wieder steigen, vor allem erwartet sie, dass ihren Grundbedürfnissen Rechnung getragen wird. Doch solange die grundlegende Problematik, also die Frage, wie kapitalistische Strukturen überwunden werden können, nicht gelöst ist, scheint Argentinien noch meilenweit davon entfernt, den Erwartungen der mehrheitlich verarmten Bevölkerung gerecht werden zu können.

Übersetzung und Ergänzungen: Katharina Greff

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