Argentinien: Der IWF und die Folgen – Teil 2

(Buenos Aires, Juni 2018, lavaca MU/poonal).- Die Verschuldeten – Der Dollar-Kredit zeigt im Großen was auf allen anderen Ebenen auch passiert: Das Land verschuldet sich, die Banken verschulden sich, die Unternehmen verschulden sich, die Bevölkerung verschuldet sich. Eine Studie, die Ende 2017 veröffentlicht wurde, gibt an, dass jeder Dritte im Jahr 2017 Schulden gemacht hat. Die Hälfte davon benötigte das Geld, um alltägliche Ausgaben und öffentliche Dienstleistungen bezahlen zu können. In einer Studie vom Zentrum für Metropolstudien (Centro de Estudios Metropolitanos), die das soziale Klima in der Metropolregion Buenos Aires* (Monitor del Clima Social) untersucht hat, gaben 76 Prozent der Befragten an, dass sie viel mehr oder etwas mehr Schulden haben als im Vorjahr. 36 Prozent gaben an, Schulden über ihre Kreditkarte angehäuft zu haben, 31 Prozent haben Schulden bei der Bank, neun Prozent bei einem Geldverleih und zehn Prozent bei einem Verwandten oder einer befreundeten Person.

Die, die am meisten unter den Schulden leiden, sind die Ärmsten in der Gesellschaft: Die Nachfrage nach dem Kredit-Programm „Argenta“ für Rentner*innen und Familienernährer*innen, angeboten von der Verwaltung für Soziale Absicherung ANSES (Administración Nacional de la Seguridad Social), steigt ebenfalls an. Allein im zweiten Halbjahr 2017 vergab die ANSES Kredite in Höhe von insgesamt 56 Mrd. Pesos (ca. 1,8 Mio. Euro). In den fünf Jahren zuvor (Juli 2012 bis Juni 2017) betrug das Gesamtvolumen der Kredite knapp 40 Mrd. Pesos (ca. 1,3 Mio. Euro).

Passend zu der Ausweitung und einem erleichterten Zugang zu den Krediten durch die Cambiemos-Regierung, werden die Argenta-Kredite stärker nachgefragt. In einem Bericht des Zentrums für Wirtschaftspolitik CEPA (Centro de Economía Política Argentina) steht, dass 60 Prozent der Personen, die Familiensozialhilfe beziehen, auch einen der ANSES-Kredite in Anspruch genommen haben. 66 Prozent dieser Kredite wurden dafür genutzt, um die in den letzten zwei Jahren (2016/17) gesunkene Kaufkraft auszugleichen. (…) Die angehäuften Schulden belaufen sich bei den Familien im Durchschnitt auf das fast dreifache des monatlichen Einkommens und in 20 Prozent der Fälle übersteigt die Rückzahlung die Möglichkeiten der Argenta-Kreditnehmer*innen.

Auch die Mittelschicht bezahlt. Laut Angaben der argentinischen Zentralbank sind die Hypothekarkredite um 7,2 Prozent gestiegen. 90 Prozent dieser Kredite werden mit UVAs (Unidad de Valor Adquisitivo) finanziert. Seit Bestehen dieses Instrumentes, sind mehr als 100 Milliarden Pesos als Hypothekarkredite in UVA vergeben worden. Die Zentralbank hat die Krediteinheit UVA geschaffen, die sich am Verbraucherpreisindex orientiert und sich damit auch der Inflationsrate anpasst. Das heißt der Zinssatz schwankt zwischen sechs und zehn Prozent und die Raten orientieren sich an der aktuellen Inflation. Das ist ein Detail, das entscheidend werden kann. Gambina gibt dafür ein Beispiel: „Mit der Abwertung des Pesos ist eine Wohnung, die hunderttausend Dollar wert ist, immer noch hunderttausend Dollar wert, aber für einen Dollar muss man 25 Pesos hinblättern und nicht mehr nur 17. Deswegen wenden sich viele Leute der Mittelklasse, die eine Wohnung kaufen möchten, an ihre Familien, um die nötigen Dollars zusammen zu bekommen.“

Wir wollen kassieren

Auch in den Privatunternehmen hat sich die Schuldensituation verändert. Seit Antritt der Cambiemos-Regierung im Dezember 2015 haben sich 44 Unternehmen mit etwa 11 Milliarden Dollar verschuldet. Etwa die Hälfte dieser Schulden (5,4 Mrd. Dollar) wurden im Jahr 2017 von 32 börsennotierte Unternehmen aufgenommen.

Für die kleinen und mittleren Unternehmen (pymes) gestaltet sich die Situation noch schwieriger. Seit Anfang 2018 haben die Überziehungskredite zugenommen. Die Zinsen dafür lagen im April noch bei 32 Prozent. Anfang Mai, als der Dollar die 24-Pesos-Marke überschritt, erreichten sie dann einen neuen Rekord von 80 Prozent. Ein beispielhafter Fall ist die Schuhindustrie: Seit 2016 hat die Importöffnung, der Verlust der Kaufkraft und der Anstieg der Lohnarbeitslosigkeit die Verkäufe und Gewinne geschmälert. 2017 wurden laut dem Nationalen Statistikamt INDEC 34,5 Millionen Paar Schuhe importiert, 53 Prozent mehr als im Jahr 2015. Die Gewerkschaft der Schuhindustrie (Unión de Trabajadores de la Industria del Calzado de la República Argentina) gibt an, dass in den letzten zwei Jahren etwa 8000 Menschen in dem Sektor entlassen wurden. Die Tarifazos stellen für die kleinen und mittleren Unternehmen eine der größten Belastung dar, weswegen sie mehr Kredite benötigen, zu immer schlechteren Konditionen (…).

Alejandro Olmos Gaona arbeitet gerade an einem neuen Buch über private und unternehmerische Schulden und warnt: „Es ist eine Tatsache, dass der IWF die Privatbanken immer unterstützt. Seit zwei Jahren gibt es viel politisches Gerede darüber, dass das hier bald alles zusammenbrechen wird und ich sage: Herrschaften, dass wird hier noch nicht explodieren, aus dem einfachen Grund, dass es Anleihen im Umfang von 120 Milliarden Dollar gibt, die das Finanzsystem zurückhaben will. Vielleicht werden sie keine neuen Kredite mehr vergeben, aber sie werden dafür sorgen, dass die laufenden Kredite abbezahlt werden. Und jetzt taucht der IWF auf und damit steuern wir auf eine unvermeidliche Krise zu, die diejenigen ausbaden werden, die sie immer ausgebadet haben. Während die Unternehmer*innen und Bänker*innen sich in Sicherheit gebracht haben.“

Schulden als Machtinstrument

Für Olmos ist die Geschichte der Schulden, die Geschichte von Argentinien: „Es gibt noch viele (…) Gesetze aus der Zeit der Diktatur, wie die Gesetzgebung für das Finanzwesen, für ausländische Investitionen oder die Zentralbank, ein Gesetz, das der Regierung erlaubt staatliches Eigentum zu veräußern. Und keine demokratische Regierung hat daran etwas geändert. Darüber hinaus gibt es auch das Gesetz 24.156 zur Finanzverwaltung, das der Exekutive erlaubt, Verhandlungen mit dem IWF, der Interamerikanischen Entwicklungsbank oder der lateinamerikanische Entwicklungsbank CAF zu führen, ohne dass dies durch den Kongress muss. Das ist das, was gerade in der Regierung passiert. Und das muss aufhören.“

In einem Buch von Lazzarato aus dem Jahr 2016 scheint es so als beschriebe er die argentinische Realität der letzten zwei Monate. Seine These zielt darauf ab, zu zeigen, dass die sogenannte Austeritätspolitik vor allem eine Steuerpolitik ist. Die Strategie, die dahinter steckt, ist die Umverteilung zu Gunsten der Reichen und Unternehmen über Steuern und Verschuldung. Im Buch heißt es: „Die sogenannte Austeritätspolitik ist in Wirklichkeit eine Politik des „Einbehaltens“: von den Steuern, über die Gehälter (Reduzierung des Nominallohns) und Sozialausgaben, vor allem im Bereich der Renten, bis hin zu Preiserhöhungen. Und zuletzt, aber deswegen nicht weniger wichtig, die Privatisierungen.“ Sein Fazit ist, dass die Regierungen staatliches Eigentum an Privatunternehmer*innen zu Schleuderpreisen verkaufen, um die Schulden zu begleichen. Lazzarato warnt auch davor, dass mit dieser Finanzsystem-Regierung nicht weniger auf dem Spiel stehe, als die Demokratie: „Das System der repräsentativen Politik -reduziert auf eine bloße Karikatur der „Bürger*innen-Beteiligung“- stellt weiterhin ein Hindernis für die Gouvernementalität der Krise dar. Das repräsentative System wird abgesetzt, den Parteien wird die Macht entzogen, das Parlament wird auf eine Kammer reduziert, die die Befehle der Institutionen des globalen Kapitalismus ratifiziert.“ Für Lazzarato sind die Schulden unendlich, unbezahlbar „weder durch einen politischen Befreiungsschlag und noch weniger durch eine Rückzahlung“, so der Autor. Wenn man die Schulden als ein Machtinstrument interpretieren würde, hieße das, dass man den Spieß umdreht und somit einfach „nicht bezahlt“, schließt Lazzarato.

So wurde in den letzten Jahrzehnten die Geschichte dieses Landes gemacht: Obenauf die politischen und makroökonomischen Entscheidungen und unten die Gesellschaft, die einzige, die den Lauf der Geschichte verändern kann. Die Partie hat schon begonnen, aber das Endergebnis steht noch nicht fest.

* Buenos Aires inkl. Vororte mit etwa 15 Mio. Einwohner*innen, was 37 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht

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