Abkehr vom Wahlversprechen – Rousseffs Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik

„Wunschkandidat des Marktes“ ist neuer Wirtschaftsminister

Keine guten Zeiten für WirtschaftskommentatorInnen, die in der rechten Mainstreampresse seit Jahren den ökonomischen Niedergang Brasiliens predigen. Unisono verteufelten sie die Politik von Präsidentin Dilma Rousseff und waren fassungslos, als das Wahlvolk im Oktober nicht ihnen glaubte, sondern Rousseff eine zweite Amtszeit bescherten. Die Hetzte gegen „zuviel Staat in der Wirtschaft“ ging am Tag nach der Wahl unverändert weiter – bis Rousseff ihr neues Wirtschaftsteam vorstellte.

Mit Joaquim Levy wurde nicht nur ein „Wunschkandidat des Marktes“ Finanzminister. Sein Team hat freie Hand dabei, die Wirtschaftspolitik auf Kurs zu bringen, damit Investoren ihr Vertrauen in die brasilianische Ökonomie zurück gewinnen. Prompt kündigte Levy ein Sparpaket an, mit Kürzungen von Sozialleistungen und empfindlichen Einschnitten im Haushalt. Umgerechnet sechs Milliarden Euro sollen allein im Sozialbereich eingespart werden. Die KommentatorInnen sind ratlos, was sollen sie nun noch kritisieren? Gehässig bringt es Ilimar Franco in der Zeitung „O Globo“ auf den Punkt: „Wozu brauchen wir noch eine Opposition?“

Sparen, Steuern anheben und Subventionen einstampfen

Die Basis der regierenden Arbeiterpartei PT und die Gewerkschaften sind entsetzt. Just die Errungenschaften, die Rousseff im Wahlkampf am meisten verteidigte, stehen plötzlich zur Disposition: Die Schaffung von Arbeitsplätzen, ein akzeptabler Mindestlohn, Sozialpolitik und lenkende Eingriffe des Staates. Stattdessen soll das mickrige Wachstum mit Austeritätspolitik angekurbelt werden. Neben den Sparmaßnahmen werden die Zinsen noch weiter erhöht, Steuern angehoben, Subventionen eingestampft und das Wirtschaftsgeschehen entsprechend dem neoliberalem Dogma mehr sich selbst überlassen werden.

Natürlich müssten Sozialleistungen der Realität des Landes angepasst werden, sagt Rafael Marques, Präsident der Metallgewerkschafter im Dachverband CUT. „Doch die Form, wie die Kürzungen verkündet wurden, zwingt uns, dagegen vorzugehen“, so Marques. Der Gewerkschafter bezieht sich insbesondere auf Einschnitte beim Arbeitslosengeld. Bislang konnte ein Anspruch nach sechsmonatiger Beschäftigung geltend gemacht werden. Jetzt soll dies erst nach 12 oder 18 Monaten möglich sein. Auch bei der Witwenrente, Krankengeld sowie bei Lohnzusatzzahlungen wurden Einschnitte und schärfere Auflagen für den Bezug verkündet.

Angeschlagene Wirtschaft im Abwärtstrend

Fraglos ist die Wirtschaft des größten südamerikanischen Landes angeschlagen. Das Wachstum liegt nahe dem Nullpunkt, die Inflation seit Jahren bei über sechs Prozent und sie könnte in 2015 sogar auf acht Prozent klettern. Auch die Handelsbilanz verschlechtert sich seit Jahren und verzeichnete in 2014 erstmals seit über zehn Jahren mit minus vier Milliarden US-Dollar ein Defizit.

Gestritten aber wird über die Ursachen dafür, dass die Wirtschaft Brasiliens, die im ersten Jahrzehnt überdurchschnittlich boomte, seit 2011 schwächelt. Für die rechte Opposition und ihre Kommentatoren sind vor allem der starke Staat und das schwindende Vertrauen der Investoren Schuld. Ihre Kronzeugen sind (die oben zitierten) makroökonomische Indikatoren, die seit Jahren nach unten tendieren. Allerdings gelingt es ihnen nicht zu erklären, warum Brasilien zuvor – unter Präsident Lula da Silva und mit einer sehr ähnlichen Wirtschaftspolitik – so gut dastand.

Kurzsichtige Wirtschaftspolitik und fragwürdige Subventionen

Den offensichtlichsten Grund des Einbruchs erwähnen die vielzitierten ExpertInnen nur unter ferner liefen: Die weltweit sinkende Nachfrage nach brasilianischen Rohstoff-Exporten aufgrund der Finanzkrise sowie ihren stetigen Preisverfall. Genauso wie der Boom zu Beginn des Jahrhunderts ist der Einbruch jetzt nicht ohne externe Faktoren zu erklären. Erfolgreich nutzte die PT-Regierung anfangs den Geldsegen, um erfolgreiche Sozialprogramme aufzubauen und die Inlandsnachfrage durch eine expansive Lohnpolitik sowie die Schaffung von Arbeitsplätzen anzukurbeln.

Doch wie schon frühere Regierungen versäumte sie es, den Boom für notwendige Reformen zu nutzen: „Als die Rohstoffpreise hoch waren, hätte die nationale Industrie gestärkt werden müssen, um die Abhängigkeit von Erzen und Agrarprodukten zu vermindern“, analysiert der Wirtschaftswissenschaftler Carlos Drummont. Die kurzsichtige Wirtschaftspolitik war nicht der einzige Fehler während Rousseffs erster Amtszeit. Viel zu lange subventionierte sie Produkte wie Haushaltsgeräte oder – ökologisch besonders fragwürdig – Neuwagen, obwohl die Nachfrage schon längst erschöpft war. Auch versäumte sie es, mehr Geld in Bildung zu investieren oder das Steuersystem zu reformieren, das große Einkommen, Vermögen und Erbschaften weitgehend unbehelligt lässt.

Umstrittene Strategie

Die ökonomischen Probleme Brasiliens haben zahlreiche Ursachen, sowohl externe als auch Versäumnisse seitens der Regierung. Sparmaßnahmen, wie sie Finanzminister Levy unter Applaus der Rechten vorantreiben will, dürften ähnlich wie in Südeuropa kaum zu einer Besserung der Wachstumsschwäche führen. Drummond, Leiter der Wirtschaftsredaktion der Zeitschrift „Carta Capital“, betont: „Die Lösung unserer Probleme liegt gerade nicht in einer Rücknahme der antizyklischen Interventionen des Staates.“

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