Spannungen vor dem Wahlkampf in Bolivien

(El Alto, 11. Februar 2019, npl).- In einer Ecke am Avaroa-Platz im Zentrum von La Paz steht ein Zelt, davor ein Banner mit der Aufschrift „Forum Meinungsfreiheit, für die Erneuerung der Demokratie!“, daneben sitzen einige Männer und Frauen, Gegner*innen von Evo Morales, in der Mittagssonne. Plötzlich kommt ein Dutzend Männer und Frauen, teilweise in Ponchos, Filzhüten und Polleras (lange Faltenröcke), Erkennungszeichen für Aymaras, der größten indigenen Bevölkerungsgruppe in La Paz. Einige tragen Westen, auf denen Fejuve EL Alto steht, der Verband der Nachbarschaftsvereinigungen. Sofort steigt die Spannung. Einer aus der Gruppe will ein Plakat mit der Aufschrift „Bolivien hat Nein gesagt!“ von einem Baum reißen, eine Frau von der Zeltgruppe interveniert und schreit „Hände weg!“, die Polizei muss einschreiten. Als sich die Lage etwas beruhigt, bezichtigen beide Gruppen die andere Seite, provoziert zu haben. Eine kleine Szene an diesem sonnigen Morgen, die einen Vorgeschmack darauf geben kann, was dieses Wahljahr für Bolivien an politischen Auseinandersetzungen bringen kann. Befürworter*innen und Gegner*innen der Kandidatur von Evo Morales bringen sich in Stellung.

Im Dezember 2018 hatte der oberste Wahlausschuss des Andenstaats endgültig die Kandidatur von Evo Morales Ayma und seinem Vize Alvaro García Linera zugelassen. Mit ihnen wurden acht weitere Gespanne, Präsident und Vize-Präsident, für die Wahlen im Oktober akkreditiert. Seitdem kochen die Gegner*innen von Evo Morales vor Wut. Direkt nach der Entscheidung traten mehrere Mitglieder der Comités Cívicos in verschiedenen Teilen des Landes in befristete Hungerstreiks.

Ein paar Meter weiter vom Wortgefecht gibt es eine kleine Ansammlung von Zelten. Hier verweigert Martha Yujra vom Gewerkschaftsverband COR aus El Alto seit dem 14. Januar die Nahrungsaufnahme, „wenn es sein muss bis zum bitteren Ende“ meint die Gewerkschaftsaktivistin, den sie möchte, dass die „Vaterlandsverkäufer und Verräter, die unsere Verfassung mit Füßen treten, verschwinden. Wir haben Goni rausgeschmissen und wir werden auch ihn rausschmeißen.“ Martha Yujra ist Gewerkschaftsführerin und sie hat sich trotzdem gegen Evo Morales gestellt. Während der gewerkschaftliche Dachverband COB sich im Streit um die Kandidatur von Evo Morales auf die Seite des Präsidenten gestellt hat, sprechen sich regionale Untergliederungen, wie die COR aus El Alto, gegen die Kandidatur von Evo Morales aus.

Kandidatur von Morales ist nicht verfassungskonform

Befürworter*innen und die Gegner*innen des Präsidenten stehen sich unversöhnlich gegenüber. Dabei steht eigentlich außer Frage, dass die inzwischen vierte Kandidatur von Evo Morales in Folge nicht verfassungskonform ist. Die unter Federführung der MAS, der Bewegung zum Sozialismus, ausgearbeitete Verfassung sieht nur die Möglichkeit von einer Wiederwahl vor. Wird Morales, der Kandidat der MAS, im Herbst gewählt, wäre dies die zweite Wiederwahl unter der neuen Verfassung. Um das möglich zu machen, setzte die Regierung am 21. Februar 2016 eine Volksabstimmung an. Mit einem Ja wäre die Verfassung geändert worden und eine weitere direkte Wiederwahl möglich gewesen. Eine knappe Mehrheit von 51 Prozent der Bolivianer*innen stimmte jedoch gegen die Verfassungsänderung und damit auch gegen eine neue Kandidatur von Evo Morales. Dieser hatte vor der Abstimmung verlauten lassen, er würde „die Klappe halten und gehen“ und sich Volkes Willen beugen.

Dieses Versprechen warf er allerdings nach der Abstimmung über Bord. Bereits im Sommer 2016 ließen die Cocabäuer*innen aus dem Chapare verlauten, dass sie das Ergebnis des Referendums nicht akzeptierten und brachten eine Unterschriftensammlung ins Spiel. Es sollten die Unterschriften von 20 Prozent der Wahlberechtigten gesammelt werden, um erneut ein Referendum zur Verfassungsänderung anzusetzen. Dazu kam es aber nie. Vielmehr dachte die Regierungspartei MAS laut darüber nach, die Verfassung mit der Zweidrittelmehrheit, die sie momentan noch im Parlament hat, zu ändern. Als weiteres mögliches Szenario galt eine Zeit lang der Rücktritt von Evo Morales kurz vor Ende der Amtszeit, um sich schließlich als ‚neuer Kandidat‘, der kein amtierender Präsident ist, zu präsentieren. Das alles war schließlich nicht nötig, weil am 28. November 2017 das Verfassungsgericht in einer weiteren Kandidatur von Morales keinen Verfassungsbruch sah. Das Gericht stellte fest, dass alle Kandidat*innen in Bolivien ein Recht auf ein unbegrenztes passives Wahlrecht hätten und erklärte den entsprechenden Verfassungsartikel 168 für nicht rechtmäßig. Die Opposition war entsetzt und sprach von einem Putsch.

Rafael Puente, in der ersten Regierung von Evo Morales noch Staatssekretär und 2008 für kurze Zeit Präfekt in Cochabamba, sieht den moralischen Verfall der Regierung in der politischen Kultur verankert. „In der Geschichte Boliviens“, so Puente, „war es immer so, dass sich andere Leute am Staat bereicherten. Jetzt, so dachten 2006 viele an der Basis der MAS, sind wir dran. Das war gewissermaßen der genetische Defekt der Bewegung zum Sozialismus, die Funktionäre und die sozialen Bewegungen interpretierten den Staat nicht anders als das alte Establishment“. Zu Beginn seiner Amtszeit stellte sich Morales noch gegen diese Position. „Ich erinnere mich an eine Sitzung 2009, bei der Evo einem Kandidaten klar sagte: ‚Genossen, der Prozess des Cambios gehört allen‘“, meint Puente, „diese Meinung änderte Morales 2010, als die MAS die Wahlen mit 64 Prozent gewonnen hatte“. Seitdem beanspruchte auch er die Macht alleine für sich und seine Partei, alle wären regelrecht berauscht gewesen von der Macht, so der Jesuit.

TIPNIS-Straßenprojekt wurde zum Knackpunkt für die Regierung

Die einsetzende Klientelpolitik führte in den darauffolgenden Jahren dazu, dass auch Teile der Basis von Evo Morales auf Distanz gingen. Ein Knackpunkt, vielleicht der Wichtigste, war der Konflikt um den Bau einer Straße durch den Nationalpark TIPNIS. Hier zerbrach 2011 der Pacto de Unidad (Der Einheitspakt) zwischen den wichtigsten indigenen Dachverbänden, Campesino-Organisationen, Cocaleros und dem Frauenverband Bartolina Sisa. Der Einheitspakt war eine wichtige Säulen des Projekts des Cambios. In der Folge erlitt die Regierung Morales ihre erste schwere Niederlage. Die Mobilisierungen der indigenen Bewohner*innen von TIPNIS führten dazu, dass das geplante Straßenprojekt auf Eis gelegt wurde. Die Regierung erließ ein Gesetz zur Unantastbarkeit des TIPNIS. Vor allem relevante Teile der indigenen Verbände CIDOB und CONAMAQ stellten sich auf die Seite der Bewohner*innen des Nationalparks.

Im Herbst 2018 wurde das Gesetz, das die Unantastbarkeit des TIPNIS festschreibt, aufgehoben. Morales ist hier ein Getriebener der Interessengruppen, in deren Hände er sich nach 2010 gegeben hat. Eine der wichtigsten sind die Cocaleros aus seiner Heimatregion, dem Chapare, deren Verbandspräsident er bis heute ist. Diese wollen, neben dem brasilianischen Ölriesen Petrobras, auf jeden Fall, dass die Straße durch den TIPNIS gebaut wird. Auch in diesem Fall wird wenig Rücksicht auf die Verfassung genommen, die die Autonomie der indigenen Bevölkerungsgruppen festschreibt. Die Regierung hat demnach kein Recht, ohne die Zustimmung der Indígenas auf ihren Territorien Straßen zu bauen.

Die Basis ist zersplittert, die Opposition auch

Zurück auf dem Avaroa-Platz: Die Zersplitterung der Basis zeigt sich auch hier. Während auf der einen Seite eine Gruppe von indigenen Aymaras sich mit dem Comité Civico, das sich mehrheitlich aus der weißen Mittel- und Oberschicht rekrutiert, ein Wortgefecht liefert, unterstützt die hungerstreikende Martha Yujra die Forderungen der Opposition. Sie ist, wie die anderen aus El Alto, Gewerkschafterin und eine Aymara mit der traditionellen Pollera. Eigentlich eine typische Anhängerin des Präsidenten. Jetzt sagt sie: „Evo hat die Frauen in Pollera verraten, er hat sich als Wolf im Schafspelz entpuppt“.

Die rechte Opposition hat es geschafft, das Misstrauen in die Regierung zu säen und Morales hat mit seinem Klammern an die Macht – um jeden Preis – seinen Anteil an dieser Entwicklung. Bisher gab es innerhalb der indigenen Bewegung, den Campesin@s und Arbeiter*innen immer eine gewisse Distanz zu den oppositionellen Comités Cívicos. Die Tricksereien der Regierung haben diese Distanz kleiner werden lassen. Das hat dazu geführt, dass Carlos Mesa, neoliberaler Präsidentschaftskandidat, zu einem ernstzunehmenden Gegner geworden ist. Damit er das auch bleibt, versucht die Opposition nun, ihre Zersplitterung zu überwinden, denn bisher gibt es acht Gegenkandidaten zu Evo Morales. Bleibt dies so, ist ein Sieg des amtierenden Präsidenten wahrscheinlich. Am 17. Januar haben sich die Comités Cívicos und fünf der acht Gegenkandidaten in Santa Cruz getroffen, um über eine gemeinsame Strategie zu beraten. Sollte es gelingen eine Koalition zu schmieden, wäre der Wahlausgang im Oktober weitaus offener. Julio Prado, Herausgeber der Wochenzeitung ‚El Cuidadano‘ ist skeptisch, ob das gelingt. „Die Opposition verfolgt bisher kein eigenes Projekt, sie interessieren sich nur für ihren eigenen Vorteil“, meint der Journalist, „und die acht Kandidaten haben ganz unterschiedliche Interessen. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass eine Koalition zustande kommt“.

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