Philosoph über neue Verfassung – „Unaufhaltsamer Prozess“

(Santiago de Chile, 25. Juli 2022, Medio a Medio).- Dr. Javier Agüero Águila leitet den Fachbereich Philosophie an der Universidad Católica del Maule. Im Interview analysiert er die aktuelle Situation in Chile und erklärt, worum es am 4. September im Referendum über den neuen Verfassungstext gehen wird.

Wie bewerten Sie den Verfassungsentwurf, über den am 4. September abgestimmt wird?

Grundsätzlich handelt es sich natürlich um einen bislang beispiellosen Vorgang und Text. Der Verfassungstext und sein Kontext sind, um es kurz zu sagen, außergewöhnlich. Wir müssen im Hinterkopf behalten, dass die Verfassung von 1833 das Ergebnis eines Bürgerkriegs war, wodurch es zu einer starken konservativen Restauration kam. Die Beteiligung des Militärs war absolut entscheidend. Die Verfassung von 1925 war ihrerseits das Ergebnis eines Staatsstreichs, der Jorge Alessandri ins Exil trieb, und eines weiteren Staatsstreichs, der ihn einige Monate später wieder zurückholte. Wieder alles unter dem wachsamen Auge des Militärs. Die Verfassung der 80er… dazu kann man nur sagen, dass diese Verfassung keine gesellschaftliche Substanz besitzt, sie wurde ohne jegliche Legitimität und mit Panzern aufgezwungen.

Insofern hat dieser Text, „der Text“, große Bedeutung. Aber vor allem ist der Prozess, in dem er entstanden ist, außergewöhnlich. Eine souveräne Bevölkerung, die ihre Vertreter*innen wählt und ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt, ist meiner Meinung nach etwas so Besonderes, das man nicht den reaktionären und delegitimierenden Debatten überlassen darf, deren Ziel es ist, diesen Prozess zu sabotieren. Es ist ziemlich unglaublich, wie die traditionellen Eliten und die Oligarchie auf die mögliche Abschaffung ihrer Privilegien reagieren. Man kann von diesem Verfassungsvorschlag halten, was man will, aber es ist unbestreitbar der erste und einzige legitime in der Geschichte Chiles.

Was wissen Sie über die Arbeit des Verfassungskonvents? Wie schätzen Sie diese Arbeit ein?

Der Verfassungskonvent ist das Ergebnis eines noch nie dagewesenen Prozesses, der uns zwang, uns mit einem politischen Szenario auseinanderzusetzen. Ein Szenario, das wir noch nicht kannten und das weitab dessen liegt, an das wir gewöhnt sind. Nämlich, dass die wichtigen Entscheidungen und die Befugnisse in den Händen bestimmter Eliten liegen. In Chile wurde uns beigebracht, dass es bei Demokratie um Konsens geht, darum, mit allen Mitteln und unter Ausblendung aller ethischen Gesichtspunkte zu jenem neutralen Punkt zu gelangen, an dem die Politik selbst verschwindet.

Im Verfassungskonvent heban wir eine andere Kultur gesehen, eine, die dieser Tradition nicht folgt. Ich beziehe mich auf Auseinandersetzungen, auf das Freilegen wirklich unterschiedlicher Standpunkte. Und in dieser Hinsicht glaube ich, dass es ein zutiefst demokratischer Moment war, chaotisch wie jede Entdeckung, aber im Kern demokratisch und nicht unter der Fuchtel einer von den Mächtigen gekaperten Politik.

Ich will nicht sagen, es hätte keine Fehler gegeben, das wäre kurzsichtig und schon fast absurd. Man kann auch nicht behaupten, dass zum Beispiel die „Lista del Pueblo“ wirklich „das Volk“ gewesen wäre – selbst wenn es so gewesen wäre, würde ich mich nicht als Teil dieses Volkes betrachten. Man kann auch nicht behaupten, dass es keine Messerstechereien von beiden Seiten – natürlich spreche ich im übertragenen Sinne – gegeben hätte. Aber letzten Endes, so glaube ich, war der Verfassungskonvent doch ein guter Moment. Die Geschichte wird das beurteilen, wie immer und in jeder Gesellschaft, die eine so tiefgreifende Veränderung erlebt. Für mich und unter Berücksichtigung unserer gesamten Geschichte war es ein aufregender Schritt: Geschlechterparität, mit echter Beteiligung der indigenen Gemeinschaften, mit einer tiefgreifenden ökologischen Berufung und mit dem zu diesem Zeitpunkt fast „revolutionären“ Prinzip, mit dem die sozialen Rechte enorm an Boden gewannen. Nehmen wir das Wort „revolutionär“ hier im richtigen Maß und denken an Chile, ein Land, in dem eine „Oase“ für den subsidiären Staat und den Neoliberalismus geschaffen wurde, sodass sie sich ohne Einschränkungen austoben konnten.

Unabhängig davon, ob der Verfassungsentwurf angenommen oder abgelehnt wird, hat in Chile ein unumkehrbarer, unaufhaltsamer Prozess begonnen, in dem die bis dahin Unsichtbaren beteiligt waren, und dort entscheiden konnten, wo sie immer ausgeschlossen waren.

Wie schätzen Sie die derzeitige Situation in Chile ein?

Ich glaube, es kann gar nicht anders sein. Wir stehen an einem Grenzmoment, in dem es möglich ist, den Schritt zu einer potenziell neuen Art des Miteinanders zu wagen. All dies könnte in Zukunft ein neues Land, eine neue Art des Zusammenlebens formen. Über Jahrhunderte hinweg war Chile in den Händen einiger weniger Familien, und alles wurde mit dem Rücken zum Volk entschieden. Wir müssen sehen, was dieses Wort („Volk“) heute in soziologischer oder sogar philosophischer Hinsicht bedeutet: Chile war ein Land, in dem Frauen historisch unterdrückt und von Entscheidungspositionen ausgeschlossen wurden; wo die Aneignung der indigenen Territorien legalisiert wurde, während ihre Diskriminierung fast als nationale Praxis patentiert wurde; wo der Rohstoffabbau und die brutale Ausbeutung unserer natürlichen Ressourcen unsere Wirtschaft prägten und wo Subventionen der Mechanismus waren, der den Zerfall eines Landes besiegelte. Um Nicanor Parra zu paraphrasieren: Chile dachte, es sei ein Land, war aber kaum eine Landschaft. Ich sehe ein unter seinen Eliten polarisiertes Chile, aber ich weiß nicht, ob die Polarisierung auf gesellschaftlicher Ebene so stark ist. Jedes Mal, wenn die Gesellschaft in diesem Land ernsthaft polarisiert wurde, das zeigt die Geschichte, endete dies in einer Katastrophe: 17 Jahre militärischer Wahnsinn, um nur ein furchtbares Beispiel zu nennen.

Glauben Sie, dass die notwendigen staatsbürgerlichen und historischen Lektionen gelernt wurden, um diesen demokratischen Prozess in Chile durchzustehen?

Ich denke, dass wir die schlimmste soziale und politische Krise des 20. und 21. Jahrhunderts überwunden haben. Chile ist ein zutiefst von Institutionen geprägtes Land. Ob es uns gefällt oder nicht: Wir klammern uns immer an die Institutionalität, um unsere unmittelbaren Wunden zu versorgen. Die neue Verfassung wird bereits auf der Straße verkauft, und das sagt viel aus. Jahrelang haben wir auch gesehen, wie der Wasserkodex verkauft wurde – und die Leute haben ihn gekauft! Hier verkauft man Gesetze und Menschen kaufen sie. Der Aufstand vom Oktober 2019 war gerechtfertigt und verständlich. Angesichts der Art und des Ausmaßes des Machtmissbrauchs kam er nur sehr langsam in Gang. Aber wir konnten nicht unser ganzes Leben lang auf der Straße bleiben und mussten dieser intensiven, verdichteten Stimmung eine Richtung geben, die es vielleicht schon seit Jahrhunderten gibt, die aber durch jahrzehntelangen neoliberalen Missbrauch beschleunigt wurde. Und so bekamen wir einen Pakt für ein Plebiszit über eine neue Verfassung. Dabei gewann das „Apruebo“, das Votum für die Erarbeitung einer neuen Verfassung, und zwar durch einen [extra dafür zu wählenden] Verfassungskonvent. Die gleiche Institution, in der heute auch Verleumder und Verleumderinnen sitzen und die hysterische Rechte sich die Haare rauft. Und ein Teil der sogenannten linken Mitte rekrutiert ihre alten Anhänger, um gegen das zu stimmen, was dort vor sich geht. Was ist da los?

Die Geschichte kann äußerst ironisch sein. Und gerade Chile ist ein Land, in dem die Ironie ganze historische Kreisläufe bestimmt hat.

Ist das auch eine Zeit, in der die Geister der Vergangenheit wieder auftauchen?

Ja, wenn Sie mit Geistern die üblichen Bekannten meinen, ja. In Wahrheit glaube ich aber nicht, dass es sich um Geister handelt, sondern um Menschen aus Fleisch und Blut mit Interessen, die jedes Mal, wenn sie ihre Schatzkisten angetastet sehen und ahnen, dass sie ihre Vorherrschaft und Macht verlieren könnten, reagieren. Sie erfinden Euphemismen wie einen „dritter Weg“, „ablehnen, um zu reformieren“, „zustimmen, um zu ändern“ und so weiter…

Niemand ist der Meinung, dass ein Verfassungsfetischismus die allgemeine Stimmung beherrschen sollte – und schon gar nicht ich. Eine neue Verfassung ist keine Komfortzone, und auch am 5. September wird sich nichts ändern. Die Veränderungen, die eine Verfassung mit sich bringt, sind das Ergebnis einer langsamen kulturellen, sozialen und politischen Sedimentation und Gärung. Wir sollten eine gemeinsame Traumwelt vermeiden, in der wir im Falle eines „Ja“ alle Hand in Hand dem Sonnenuntergang entgegenlaufen, wo wir uns in einer einzigen großen Umarmung wiederfinden und singen, wir seien ein neues Land. Nein, so wird es nicht sein, und die Widersprüche werden sich wahrscheinlich noch verschärfen. Doch ich bin überzeugt, dass dies die beste Ausgangsposition ist. Wenn das „Nein“ siegt, ist der Rückschlag enorm, und vieles von dem, was geopfert wurde, wäre umsomst. Das Engagement vieler, die ihre Augen, ihr Leben, ihre Würde für das Entstehen eines neuen Chiles eingesetzt haben, wird wahrscheinlich Geschichte werden, wenn man bedenkt, dass ein neuer Prozess durch politische Winkelzüge und Verweigerungen gestoppt wird, ganz ohne Legitimität, wie ich finde.

Was halten Sie von den Fake News, die man täglich über diesen Prozess lesen kann?

Das gilt nicht nur für Chile. Das ist eine politische Taktik, die älter ist als der Wind und die es in der Menschheit gibt, seit die Politik das Regulativ für soziale und kulturelle Konflikte, für den Krieg ist. So kann man versuchen, den Gegner zu destabilisieren, ohne Streitkräfte einzusetzen. Das Neue in diesem Zusammenhang ist der Einfluss der sozialen Netzwerke, die die Fake News in ein gefährliches Geschütz verwandeln, wenn sie ungefiltert bleiben. Letztendlich kehren sie aber zu denen zurück, die sie verbreiten. Kast hat eine Präsidentschaftswahl verloren, weil er ständig als Lügner entlarvt wurde. Das ist nicht nur der Verdienst der Rechten, aber ganz gewiss ist es ein Mittel, das sie häufiger einsetzen, das ihnen so in den Kram passt.

Sind die Wahlumfragen vor dem 4. September ein zuverlässiger Indikator für den Ausgang der Abstimmung über die chilenische Verfassung?

Das glaube ich nicht. Ich vertraue auf die Arbeit der Sozialwissenschaften, die transversal und in einem knapp bemessenen Zeitfenster zum Einsatz kommen, um ein Meinungsbild zu erstellen. Die Meinungsumfragen der Meinungsforscher sind zunächst einmal immer rückblickend und veraltet. Soziale Prozesse sind unendlich viel komplexer, heterogener und tiefgreifender, als dass man sie mit ein paar tausend Telefonaten erfassen könnte.

Das kulturelle und politische Netzwerk, das derzeit in Chile geknüpft wird, ist so komplex, dass es sich auf der Ebene kollektiver Subjektivitäten bewegt, die kaum durch ein Bild erfasst werden können. Wir müssen über das Offensichtliche hinausblicken, es zumindest versuchen. Denn nur dann werden wir erkennen, dass wir uns in einem Moment großer Unbestimmtheit befinden.

Hoffen wir also, dass wir dieser Aufgabe gewachsen sind und uns nicht von Fallen, falschen Propheten oder Bluffs einschüchtern lassen. Ich habe Vertrauen.

Übersetzung: Pia-Felicitas Hawle

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