Kommentar: Der Chavismus ist nicht die Regierung, er ist ein politisches Subjekt.

(Venezuela, 16. Mai 2018, Desafío Constituyente).- Wir haben genug Zeit damit vertan darüber zu diskutieren, ob man Nicólas Maduro unterstützen muss oder nicht.

Bei den Anti-Chavist*innen findet man nicht die leiseste Spur einer Lösung für die dringlichsten Probleme der venezolanischen Gesellschaft – keine Analyse, die in die richtige Richtung geht. Ideen gibt es natürlich und auch Diagnosen, die vielleicht mal nützlich sein können. Aber um auf dem richtigen Weg zu sein, bräuchte es eine Analyse, die zumindest einige Hinweise auf die Kräfte gibt, die zur Lösung der Probleme beitragen könnten. Doch es bleibt bei Lippenbekenntnissen und guten Absichten. Und eben durch das Fehlen irgendeiner Stoßrichtung, versagen all die Analysen und Entwürfe verschiedenster Szenarien und eröffnen Raum für sogenannte „Perspektiven“, wie die von Michael Penfold, der folgendes schreibt:

„Jede Anstrengung politische Szenarien für Venezuela zu entwerfen, sieht sich mit der Schwierigkeit der Vorhersage konfrontiert. Der Grund dafür ist, dass weder die Regierung noch die Opposition die relevanten Variablen in keinem Fall unter Kontrolle haben.“ *1

Echt? Sind wir an dem Punkt angekommen, dass wir uns auf solche Analysen einlassen?

Der Chavismus hat die Pflicht nach Lösungen zu suchen

Was wirklich besorgniserregend ist, ist eine gewisse Tendenz zu verkennen, nämlich dass der Chavismus -also die Subjektivierung der ökonomisch benachteiligten Bevölkerung- nicht nur die Möglichkeit, sondern vielmehr die historische Pflicht hat, weiterhin nach Lösungen zu suchen, die den Konflikt zu seinen Gunsten löst – auf demokratische Weise.

Dafür müssen die eigenen Kräfte und ihre Eigenschaften erkannt werden, damit deutlich wird, dass -auch wenn der Chavismus nicht die Regierung ist- es einfach keine Option ist, dass die Regierung in den Händen der Anti-Chavisten ist. Denn dies würde einen unschätzbaren Vorteil für die Eliten bedeuten.

Die nicht enden wollenden Diskussion, um das Für und Wider der Unterstützung für Nicolás Maduro ist aus folgenden Gründen so unverständlich und unfruchtbar: Weil die Verantwortung und die Pflicht auf dem Subjekt des Chavismus ruht und nicht auf dem Präsidenten. Weil weder Maduro noch sonst irgendjemand an seiner Stelle -alleine oder mit seiner Regierung- die Fähigkeit hätte irgendein Problem zu lösen und es ihm auch gar nicht zusteht. Weil wenn es so wäre, dass seine Regierung oder Teile davon, sich entscheiden dem Großteil der Bevölkerung den Rücken zu kehren, der Chavismus die Aufgabe hat, dem einen Riegel vorzuschieben, bis sich das Blatt wieder zu seinen Gunsten wendet. Weil es das Szenario einer anti-chavistischen Regierung, die die unterprivilegierten Schichten mit offenen Armen empfängt, noch nicht mal in Ansätzen gibt.

Der Chavismus ist nicht die Regierung, er ist ein politisches Subjekt

Der Chavismus ist nicht die Regierung, er ist ein politisches Subjekt, das über die Regierung hinausgeht. Dass der Anti-Chavismus dieses Detail in seiner Analyse außen vorlässt ist nachvollziehbar: Damit die Politik -ihre historische Relevanz- verschwindet, muss das Subjekt verschwinden. Aber dass man im Chavismus selbst der gleichen Praktik verfällt, ist sehr verwirrend.

Fünf Jahre nach dem Sieg von Nicólas Maduro steht die Mehrheit der sogenannten Marxist*innen in der Bringschuld: Sie waren bisher nicht in der Lage eine Analyse der Situation des Klassenkampfes innerhalb der Regierung zu realisieren. Dass in den fünf schwierigsten Jahren der bolivarischen Revolution die Wahrnehmung der Regierung als etwas Abstraktes, als eine reine Formalität überwiegt, sagt viel darüber aus, wohin der Irrweg führen kann.

Im Schoße des Chavismus haben wichtige und tiefgreifende Veränderungen stattgefunden, Erschütterungen, und die Regierung ist heute, wahrscheinlich wie nie zuvor, ein Kräftefeld, ein Austragungsort für heftige Auseinandersetzungen. Aber weit davon entfernt auf die Umstände zu reagieren, indem bspw. über die Veränderungen berichtet wird, Meilensteine wahrgenommen werden, Stärken und mögliche Allianzen erkannt und Prioritäten für den Kampf festgelegt werden.

Der Einladung der Realität folgen, um sie zu transformieren

Unsere Analyst*innen sind Opfer der Nostalgie, sie sehnen sich nach den guten alten Zeiten, wo der Chavismus das war, was er nicht mehr sein kann. Sie beschweren sich über einen Sozialismus, der keiner mehr ist, empören sich über einen Madurismus, den es gar nicht gibt. Sie geben sich der Kontemplation hin, während sie versuchen uns davon zu überzeugen, dass sie erbarmungslose Kritiker*innen sind.

Auch wenn uns die harte Realität bedrückt, ist es auch so, dass nur die Realität uns befreien kann und zwar dann, wenn wir ihrer Einladung folgen und sie transformieren. Die Akteur*innen der Transformation sind schon da, z.B. die Arbeiter*innenschaft der verstaatlichten, besetzten, wiedergewonnenen Fabriken und der Unternehmen in strategisch wichtigen Wirtschaftssektoren; die Landbevölkerung, die Landwirtschaft auf verstaatlichten Böden betreibt und die Genoss*innen. Allesamt Protagonist*innen des am weitesten fortgeschrittenen politischen Experiments der bolivarischen Revolution.

Widerstand gegen die konservativsten und korruptesten Kräfte des Chavismus

Die Liste könnte fortgeführt werden, aber was haben die bisher Genannten gemeinsam? Aktuell widerstehen sie dem Angriff der konservativsten und korruptesten Kräfte des Chavismus. Diese setzen auf das Scheitern der Initiativen und ziehen, wenn sie es für nötig halten, auch Streitkräfte hinzu. Derweil schmieden sie auch Allianzen mit dem Bürgertum, wobei es ihnen egal ist, welche negativen Auswirkungen dies auf die ohnehin geplagte Wirtschaft hat. Hinzu kommen vielfältige Verbindungen zu verschiedenen mafiösen Strukturen, die der Präsident Maduro am 1. Mai 2018 öffentlich verurteilte und die das Informationsportal La Tabla detailliert darlegt hat: Schmuggel und Schwarzmarkt (Lebensmittel, Treibstoff, etc.), Anlagen im Parallel-Dollar-Geschäft, Bargeldhandel, vergünstigter Import von Lebensmitteln mit nur scheinbar eigenen Devisen, usw.

Sind die Akteur*innen der revolutionären Transformation auch darin verstrickt? Wie ist ihr Verhältnis zu den revolutionären Kräften inner- und außerhalb der Regierung und zu der Bevölkerung im Allgemeinen?

Die versammelte Intelligenz, Energie, Lebendigkeit, die mit dem Aktivismus verbunden ist, ist notwendig, um diese Fragen zu beantworten und hilft uns unsere Apathie loszuwerden. Denn für das was gerade passiert stehen wir -verdammt noch mal- nicht.

*1 Michael Penfold. Las incertidumbres de la realidad política venezolana. Prodavinci, 15 de abril de 2018. https://prodavinci.com/las-incertidumbres-de-la-realidad-politica-venezolana/

*2 Reinaldo Iturriza López. Contra la pereza política. 9 de abril de 2018. https://elotrosaberypoder.wordpress.com/2018/05/03/contra-la-pereza-politica/

*3 Maduro: ¡Tenemos que ganar el 20-M para hacer que respeten el control de precios! Alba Ciudad, 1 de mayo de 2018. http://albaciudad.org/2018/05/maduro-tenemos-que-ganar-el-20-m-para-hacer-que-respeten-el-control-de-precios/

*4 La Tabla. [@latablablog]. (2 de mayo de 2918, 11:17). TOP 5 de las mafias económicas: 1) Mafia de marcadores del dólar paralelo 2) Mafia del contrabando de combustible y derivados de petróleo 3) Mafia del tráfico de efectivo 4) Mafia de la importación de alimentos a tasa paralela con supuestas “divisas propias” 5) Mafia del Dicom . Recuperado de https://twitter.com/latablablog/status/991698315162025988

 

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