„Sozialismus des 21. Jahrhunderts“- Autor Heinz Dieterich über Venezuela

(Montevideo, 6. Februar 2019, Comcosur).- Wenn man in Caracas irgendjemanden auf der Straße fragt, ob er oder sie weiß, wer Heinz Dieterich ist, kann es sein, dass die Person keine Antwort darauf weiß. Wenn man aber sein Buch „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ erwähnt, dann wird man sofort einen Namen zu hören bekommen: Hugo Chávez. Der verstorbene Präsident machte das von Dieterich entwickelte Konzept zu seinem eigenen und verhalf ihm zu weltweiter Aufmerksamkeit, als er es 2005 in einer Rede auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre, Brasilien, erwähnte. Aber die Beziehung zwischen dem deutschen Soziologen, der seit mehreren Jahrzehnten in Mexiko lebt, und dem Anführer der bolivarischen Revolution begann schon einige Jahre zuvor. Beide trafen einander im Dezember 1999, Chávez war bereits Präsident Venezuelas, Dieterich ein anerkannter linker Intellektueller, der schon ein Buch zusammen mit dem Intellektuellen Noam Chomsky veröffentlicht hatte. Die beiden standen seitdem in regem Austausch, bis sie sich im Jahr 2007 voneinander distanzierten. Diese acht Jahre des Kontakts gaben Dieterich einen tiefen Einblick in den Chavismus und seine Protagonist*innen, darunter auch Nicolás Maduro.

Aus dieser Perspektive heraus analysiert Dieterich im Gespräch mit BBC Mundo die Krise, welche ausgelöst wurde, als Maduro am 10. Januar seine zweite Amtszeit als Präsident von Venezuela begann. Er hatte die Wahlen im Mai 2018 gewonnen, was die Opposition allerdings bis heute nicht anerkennt. Die Krise wurde auch durch die Ernennung des Oppositionellen Juan Guaidó zum Interimspräsident vertieft, was die Regierungspartei wiederum als versuchten Putsch deutet.

Hugo Chávez hat sich von ihrem Konzept des Sozialismus des 21. Jahrhunderts begeistern lassen und hat es adaptiert. Wie bewerten Sie die Ereignisse der letzten zwei Jahrzehnte in Venezuela?

Hugo Chávez war engagierter Christ mit den Einschränkungen eines Berufssoldat. Als er in Kontakt mit der Welt kam, hat er schnell gelernt und versuchte strukturelle Reformen zum Wohle der Mehrheit umsetzen. Er hatte keinen Namen für dieses Projekt. Als wir uns trafen, erkannte er, dass der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ ein ganz neuer Weg ist, der sich von allen anderen gegenwärtigen politischen Ideen unterschied. Er passte das Konzept an und entwarf ein Modell, das bis 2010 funktioniert hat. Es basiert auf einem Barrel Öl, das 120 Dollar wert ist, und der Koexistenz mit der Bourgeoisie. Dieses Modell beginnt jedoch zu bröckeln, wenn sich die Weltwirtschaft verändert und keine notwendigen strukturellen Reformen für einen modernen Staat eingeleitet werden, der der Korruption Einhalt gebietet. Ohne für einen passenden politisch-ethischen Nachwuchs gesorgt zu haben und ohne den Aufbau einer Partei, die den politischen Prozess hätte fortführen können, übernimmt Maduro das Projekt Chavez und es fällt in sich zusammen. Es dreht sich nur noch darum, die Macht zu erhalten. Maduro verkennt die Signale der Realität, wie die Parlamentsniederlage im Jahr 2015, die unaufhaltsame Inflation oder die zunehmende Isolation des Landes. Wenn man die Parameter nicht versteht, die zeigen, dass das Modell schwer erkrankt ist und geändert werden muss, dann endet die Abwärtsspirale im gegenwärtigen Szenario: dem Abgang Maduros.

In der aktuellen politischen Krise in Venezuela haben Sie in Hinblick auf die USA vom „finalen Angriff des Imperiums“ gesprochen. Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht die Regierung von Donald Trump in dieser Situation?

Im letzten Jahr hat Donald Trump an Kraft eingebüßt, vor allem, da er die Midterm-Wahlen gegen die Demokraten verloren hat. Aber auch, weil es scheint, dass geheime Absprachen mit Russland nachgewiesen werden können, die Trump zum Wahlsieg verholfen haben sollen. Das könnte sehr bald in einem Impeachment-Verfahren gegen Trump enden. Er ist so geschwächt, dass er einen Erfolg braucht. Die Generäle haben das Kabinett verlassen und er bleibt zurück mit einer Truppe von Ideologen, die sehr gefährlich für den Weltfrieden sind, wie zum Beispiel der Nationalen Sicherheitsberater John Bolton oder der Außenminister Mike Pompeo. Diese Leute sehen, dass man in Lateinamerika einen einfachen Sieg davon tragen kann, denn das Regime von Maduro hat keine Kraft mehr. Sie sagen: „Wir nutzen das, um Maduro zu entfernen. Das kann ein großer Erfolg für die Demokratie sein und Trump wird der Verantwortliche dafür sein.“

So verschärfte sich die Politik gegen Maduro. Sie haben das Erdölunternehmen Citgo (eine Tochter des staatlichen venezolanischen Erdölunternehmens PDVSA mit Sitz in den USA, Anm.d.R.) beschlagnahmt, sie blockieren die Finanzierung und sie bedrohen das Land gemeinsam mit Kolumbien und Brasilien militärisch. Es ist völlig klar, dass es für Maduro keine Rettung gibt, denn Europa, die Vereinigten Staaten, Japan und die wichtigen südamerikanischen Länder schließen sich dieser Aggression an. Es ist ein so überwältigender Angriff, dass völlig klar ist, dass für Maduro keine Rettung besteht. Die venezolanischen Generäle wissen, dass sie ihn opfern müssen, denn Washington war so klug und hat ihnen eine Amnestie angeboten. Sie werden ihn entheben und ihm sagen, dass er für den Frieden und die Neugründung des Landes ins Exil gehen muss. Weigert er sich, werden sie ihn warnen, dass sie für seine Sicherheit nicht mehr garantieren können. Also wird er ein Flugzeug nehmen und wahrscheinlich nach Kuba fliegen.

Glauben Sie, dass die USA wirklich bereit ist, militärisch in Venezuela zu intervenieren?

Nein. Sie wissen, dass militärische Gewalt unnötig ist, denn es wäre ein Krieg zwischen Venezuela und der NATO. Die Generäle denken in militärischer Stärke, sie schauen, wie viele Panzer und Truppen der Feind hat und wie viele sie haben. Und auf dieser Grundlage entscheiden sie, ob sie verhandeln. Die venezolanischen Militärs wissen, dass Maduro verloren ist, weil niemand ihn unterstützt. Sie müssten einen Krieg führen, den sie militärisch nicht gewinnen können. Also werden sie sich fragen: „Sollen wir für Maduros Wanst sterben für den es keine Zukunft gibt? – Nein. Gleichzeitig sind die Militärs aber auch von der bolivarischen Idee überzeugt und werden die nationale Souveränität verteidigen.

Als der venezolanische Verteidigungsminister Vladimir Padrino López praktisch sagte, dass man Washingtons Angebot – also die Absetzung Maduros, Amnestie für das Militär und einen unblutigen Übergang – annähme, wurde damit gleichzeitig auch eine Bedingung gesetzt, nämlich dass Washington nicht militärisch eingreifen kann.

Padrino hat aber nicht gesagt, dass sie Maduro die Unterstützung entziehen werden…

Nein, aber wenn Sie die ganze Rede lesen und er darin sagt, dass die Streitkräfte die Menschenrechte, die Verfassung und die Demokratie stets achten, macht er damit auch deutlich, dass es für Washington keinen Grund gibt anzugreifen, weil das Militär seine institutionelle Rolle erfüllt hat. Damit hat er eine Botschaft ausgesendet: Maduro geht und wir haben eine friedliche Lösung ausgehandelt.

Es gibt Leute, die glauben, dass der Mangel an Medikamenten und Lebensmitteln und die Migrationskrise in Venezuela eine humanitäre Intervention rechtfertigen: Was denken Sie?

Im Völkerrecht gibt es keine humanitäre Intervention. Es gibt nur eine Intervention als Mandat des UN-Sicherheitsrates und das wird nicht geschehen. Die Lösung ist – Maduro geht, es wird ein Termin für demokratische Wahlen festgelegt, eine demokratische Übergangsregierung wird gebildet und es wird eine Art Marshall-Plan mit 50 oder 60 Milliarden Dollar zur Unterstützung der Bevölkerung aufgestellt. Das Ausmaß der Tragödie besteht darin, dass alles wieder aufgebaut werden muss und große Mengen an Lebensmitteln und Medikamenten sofort versandt werden müssen, aber nichts davon erfordert eine militärische Intervention. Es muss ein Abkommen zwischen allen Kräften – China und Russland einbezogen, denn sie haben 80 Milliarden US-Dollar in Venezuela investiert – getroffen werden. Möglicherweise unter Aufsicht der UNO, so wie es Mexiko und Uruguay vorgeschlagen haben.

Welche langfristigen Folgen, meinen Sie, hat das große „Engagement“ der USA in Venezuela?

Wir sehen eine Politik der Rückeroberung Lateinamerikas durch die neokonservative Gruppe, die derzeit die Politik im Weißen Haus bestimmt. Die Vereinigten Staaten sind dabei, den Krieg im multipolaren System zu verlieren. Sie akzeptieren nicht, dass die Zukunft der Menschheit nicht nur von ihnen, sondern auch von der Europäischen Union, China und Russland entschieden wird. Sie verharren in der Vorstellung des amerikanischen Jahrhunderts und denken, dass sie die Dinge weiterhin kontrollieren könnten und das ist nicht möglich. Also verfolgen sie eine Politik, in der Lateinamerika mit seinen Ressourcen, seinem Zugang zur Antarktis usw. eine zentrale Rolle zugeschrieben wird, um im Wettbewerb mit China nicht zu verlieren.

Der verstorbene Präsident Chávez – wie auch der von ihm erwählte Nachfolger Maduro – hat ständig von Souveränität gesprochen. In Ihrer Analyse zeichnen Sie jedoch ein Szenario, in dem das Schicksal Venezuelas von Großmächten wie den Vereinigten Staaten, Russland und China mitentschieden wird: Wie kommt es dazu?

Pepe Mujica, der ehemalige Präsident Uruguays, sagte, dass, wenn ein Land so viel Öl wie Venezuela besitzt, Selbstbestimmung und Souveränität fast nicht zu verwirklichen sind. Er hat Recht. Alle unsere Länder sind Teil großer Einfluss- und Kontrollsphären. Russland hat Einfluss, die Vereinigten Staaten haben ihn und China auch. In diesen Sphären sind es die Großmächte, die die Politik bestimmen. Lateinamerika ist nur ein einfacher Handlanger in diesem System und Venezuela wird wegen des Öls ein bevorzugtes Ziel für die Politik von Washington sein. Sie wollen verhindern, dass ihre großen Rivalen China und Russland, die Kontrolle über diese großen Ölreserven in ihrem Hinterhof gewinnen. Dies ist der strategische Hintergrund für alles, was wir in Venezuela sehen.

Die Kritiker*innen sagen, dass das große Engagement der internationalen Gemeinschaft in Venezuela notwendig war, weil die Regierung Maduros keine freien und fairen Wahlen zugelassen hat, die zu einer Lösung der Krise geführt hätten.

Ich glaube das ist teils richtig und teils falsch. Die Parlamentswahlen von 2015, welche die Opposition gewann, waren demokratisch akzeptabel. Später dann wollte Maduro diese Ergebnisse nicht anerkennen. Es war aber auch nicht hilfreich, dass die Opposition ankündigte, ihn in sechs Monaten aus dem Amt zu fegen. Angesichts dieser Polarisierung handelt Maduro machiavellistisch. Er nutzt die gesamte Macht der Exekutive, bildet eine Allianz mit dem Obersten Gerichtshof und blockiert alles, was die Opposition in der Legislative erreicht hat. Das taten sie mit großem Erfolg. Ich würde sagen, dass es seit 2015 keinen demokratischen Raum mehr gibt, um den Willen der Bevölkerung zuverlässig erheben zu können. Denn die Regierung hat die Abstimmungsergebnisse offensichtlich mit antidemokratischen Mitteln beeinflusst, mit Lügen und Unterdrückung.

Wie bewerten Sie Mexikos Rolle in dieser venezolanischen Krise?

Die Menschen in Mexiko unterstützen die Estrada-Doktrin, die seit den 1930er Jahren ihre traditionelle Außenpolitik regelt. Sie besagt, dass ein Land die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates, die Selbstbestimmung der Völker, respektieren muss. Präsident Andrés Manuel López Obrador nutzte diese Doktrin, um sich nicht der Erklärung der Lima-Gruppe anzuschließen. Das war richtig, meiner Meinung nach. Das begünstigte den Frieden, weil es die Dynamik des „Wir-müssen-Durchgreifen“ etwas abbremste, die aus Washington über Guiadó ausgetragen wurde. Denn das zeigte, dass nicht die ganze Welt diese Bedrängung unterstützte.

Der Vorschlag zusammen mit Uruguay – also dass die UNO sich in den Konflikt einmischen solle und dass man verhandeln müsse – war eine strategische Lösung. Nur ein kranker Geist kann eine gewalttätige Lösung einer ausgehandelten Lösung vorziehen. Und jetzt glaube ich, dass es die Möglichkeit zu ernsthaften und echten Verhandlungen gibt.

Sie haben vorgeschlagen, dass die staatliche Ölgesellschaft PDVSA in einem eventuellen Übergangsprozess von Ex-Minister Rafael Ramírez geleitet wird, aber er wurde von der Regierung Maduros wegen schwerer Korruptionsverbrechen angeklagt.

Wir müssen sehen, ob diese Anschuldigungen einem gerechten Gerichtsverfahren standhalten. Aber es stimmt, es gibt diese Anschuldigungen, und das ist eines der Probleme in Venezuela. Es wird sehr schwierig sein, Menschen zu finden, die eine reine Weste haben, sei es auf der einen oder der anderen Seite. Es bräuchte eine kollektive Führung, die die technischen Fähigkeiten und die internationale Erfahrung besitzt, um eine Organisation wie die PDVSA zu leiten, und gleichzeitig unter öffentlicher Aufsicht steht, so dass es zu keiner Veruntreuung von Mitteln kommen kann.

Das Gleiche gilt für die Streitkräfte: Wer wird dort während des Übergangs Entscheidungen treffen? Denn sie sind der Garant dafür, dass der Übergang möglich wird.

Die Korruption, die es an so vielen Stellen gegeben hat, zuerst in der Vierten Republik (bevor Chávez 1998 Präsident wurde), dann unter Maduro und sogar teilweise unter Hugo Chávez. Das ist ein Problem, was auf den Tisch kommen wird. Aber ich denke, in einem demokratischen Klima gibt es Mechanismen, um Lösungen zu finden.

Wenn es einen Abgang Maduros geben würde, wie sehr würde sich das auf die regionale linke Bewegung auswirken, die unter anderem von Chávez, Evo Morales und Rafael Correa geleitet wurde?

Das ist eine große Krise und zugleich eine große Chance. Wir werden in aller Offenheit über diese Situation diskutieren müssen. Für dieses Desaster sind Staaten, Regierungen und auch Intellektuelle aus der „linken Ecke“ mitverantwortlich. Es ist klar, dass die kubanische Regierung Maduro unterstützt hat, weil sie wirtschaftlich davon profitierte. Wie jede Regierung handelt sie im Sinne des Staates. Das ist nachvollziehbar. Auch gab es viele Intellektuelle, die sich Linke nennen, die eine unheilvolle Rolle gespielt und ordentlich abkassiert haben. Eine kleine Mafia von Akademikern, die diese Prämien unter sich aufgeteilt haben und Lobreden auf Maduro und einen Prozess, der zum Tode verurteilt ist, hielten. Es ist seit Jahren abzusehen, dass es ohne die notwendigen Reformen katastrophal enden wird, so wie das Regime von Gaddafi oder Saddam Hussein. Und sie haben nichts gesagt, weil sie gerne in 5-Sterne-Hotels in Caracas wohnen, wo man ihnen alles bezahlt hat. Jetzt hört man nichts mehr von ihnen, weil sie wissen, dass sie Komplizen dieser Katastrophe sind, für die das gesamte venezolanische Volk bezahlen wird.

Das Interview führte Ángel Bermúdez

Übersetzung: Pia-Felicitas Hawle

CC BY-SA 4.0 „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“- Autor Heinz Dieterich über Venezuela von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert