„Die Gefahr der extremen Rechten bliebe auch unter Boric bestehen“

(Santiago de Chile, 3. Dezember 2021, El Irreverente/poonal).- Am 19. Dezember wählen die Chilen*innen ihren neuen Präsidenten. Zur Wahl stehen der linke Kandidat Gabriel Boric und der extrem rechte Kandidat José Antonio Kast, der in der ersten Wahlrunde leicht vorn lag. Sergio Grez, Professor für Geschichte an der der Universidad de Chile, ist der Meinung, dass es trotz der vielen Stimmen für Kast und der neuen Zusammensetzung des Kongresses keine reaktionäre „Flut“ im Land gibt. Außerdem argumentiert er, dass sich Boric „sehr anstrengen muss, um die Mehrheit der Bevölkerung zu erreichen, die mehr als 52 Prozent der Wählerschaft, die [in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen] nicht abgestimmt hat“.

Sergio Grez, der an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris in Geschichte promoviert hat und an der Universidad de Chile lehrt, analysiert im Interview die Ergebnisse der ersten Wahlrunde. Er warnt davor, dass die strukturellen Probleme des Landes nicht mit halbherzigen Maßnahmen gelöst werden können, wie sie Gabriel Boric vorgeschlagen hat. Noch weniger Lösungen sieht er jedoch in dem extrem nationalistischen, xenophoben, antikommunistischen und frauenfeindlichen Programm von José Antonio Kast.

Herr Grez, wie beurteilen Sie den Sieg von José Antonio Kast in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen? Welche Faktoren erklären diese „Überraschung“?

Die Tatsache, dass der Kandidat der extremen Rechten bei diesen Wahlen den ersten Platz erreicht hat, hat eine emotionale Wirkung. Dennoch muss gesagt werden, dass die Stimmanteile der „traditionellen“ Rechten insgesamt im Vergleich zu den Wahlen der vergangenen Jahrzehnte nicht wesentlich zugenommen haben. Kast hat Boric mit etwas mehr als zwei Prozent der Stimmen geschlagen, was im Hinblick auf die Stichwahl kein uneinholbarer Prozentsatz ist. Außerdem haben Kast mit 27,91 Prozent und [der rechte Präsidentschaftskandidat des jetzigen Regierungsbündnisses] Sichel mit 12,79 Prozent zusammen nur 40,7 Prozent der Stimmen bekommen. Selbst wenn also die Hälfte der für [den Drittplatzierten] Parisi abgegebenen Stimmen (6,39 Prozent) im zweiten Wahlgang an Kast fallen würde, käme der rechtsextreme Kandidat nur auf etwa 47,1 Prozent.

Es gibt also keine reaktionäre „Flut“, auch wenn es offensichtlich ist, dass die konservativsten Kräfte in der nationalen Politik wieder erstarken und wahrscheinlich ein neuer rechter Flügel entsteht. Dies wird in den Ergebnissen der Parlamentswahlen deutlich, bei denen der rechte Flügel sein bestes Ergebnis der vergangenen Jahre erzielte und einige verlorene Positionen zurückeroberte, ohne jedoch einen signifikanten Stimmenzuwachs zu erzielen. Der Aufstieg der Christlich-Sozialen Front von Kast in der Abgeordnetenkammer, die 15 Sitze errang, erklärt sich dadurch, dass die traditionellen Rechtsparteien Renovación Nacional (RN), Unión Demócrata Independiente (UDI) und Evopoli 11, 7 bzw. 2 Sitze verloren haben und von 72 auf 53 Abgeordnete geschrumpft sind.

Insgesamt verfügen die rechten Kräfte jetzt über 68 Abgeordnete (44 Prozent). Es handelt sich auch hier nicht um eine reaktionäre „Flut“, sondern um eine einfache Stimmenverschiebung zwischen den konservativen Parteien. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass es sich dabei um eine Radikalisierung eines erheblichen Anteils der rechten Wählerschaft bedeutet.

Und wie bewerten Sie das Wahlergebnis der linken Sektoren?

Im Gegensatz hierzu stellen die Wahlanalysten einen bedeutenden Erfolg der Linken im Abgeordnetenhaus fest, die in der nächsten Legislaturperiode von 33 auf 44 Abgeordnete anwachsen wird, darunter 37 von Apruebo Dignidad. Der große Verlierer dieser Wahl war die ehemalige Concertación, die in Nuevo Pacto Social („Neuer Sozialpakt“) umbenannt wurde und nur 37 Sitze erhielt, was erhebliche Einbußen gegenüber der letzten Wahl bedeutet. Die größte Überraschung und Veränderung im Abgeordnetenhaus sind die sechs Abgeordneten der Partido de la Gente [von Franco Parisi], die in der nächsten Legislaturperiode als „Scharnierpartei“ fungieren und je nach den Umständen das Gleichgewicht in die eine oder andere Richtung lenken kann. Im Senat liegen die rechten Parteien und die derzeitigen Oppositionsparteien mit jeweils 25 Abgeordneten gleichauf.

In der öffentlichen Meinung war es jedoch die Rechte, die in der ersten Runde gewann und bei den Wahlen Boden gut machte.

In der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen gab es, wie auch bei den Parlamentswahlen, keinen spektakulären Aufstieg der am meisten konservativen Kräfte, aber eine gewisse Radikalisierung innerhalb dieser Kräfte in Richtung der extremen Rechten. Obwohl Apruebo Dignidad die Wahlen vom 19. Dezember nun als eine entscheidende Konfrontation zwischen Faschismus (Kast) und Antifaschismus (Boric) darstellt, bin ich der Meinung, dass es im Interesse einer größeren konzeptionellen Klarheit notwendig ist, eine gewisse kritische Distanz zu dieser Behauptung einzunehmen.

Sicherlich würde ein möglicher Triumph des Bannerträgers der Rechten und der extremen Rechten eine Gefahr für die Mehrheit der Gesellschaft und einen Rückschlag für die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Rechte und Errungenschaften der Arbeiterklasse und der mittleren und unteren Schichten darstellen. Aber das würde nicht die Einsetzung einer „faschistischen“ Regierung bedeuten. Erstens, weil Kast und seine Partei keine Faschisten oder Neofaschisten sind, sondern Postfaschisten. Denn sie schlagen kein korporatistisches Modell oder ein Wirtschaftssystem unter starker staatlicher Kontrolle vor, wie es im klassischen Faschismus der Fall war, sondern die orthodoxe Anwendung des neoliberalen Modells. Eine politische Bewegung ist nicht notwendigerweise faschistisch, weil ihre ideologischen Merkmale extremer Nationalismus, Xenophobie, Antikommunismus, Frauenfeindlichkeit, Homophobie, Autoritarismus und Verachtung der liberalen Demokratie sind. Während diese Merkmale mit denen anderer rechtsextremer Bewegungen übereinstimmen, ist im Falle der Faschisten und Neofaschisten das korporatistische Staatskonzept ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal.

Andererseits wäre eine mögliche Kast-Regierung auf die Unterstützung oder zumindest die wohlwollende Neutralität anderer Fraktionen der Rechten, des Großkapitals, der Streitkräfte und des Staatsapparats im Allgemeinen angewiesen, was derzeit nicht gesichert zu sein scheint. Auch wenn die herrschenden Klassen während der Revolte große Angst hatten und begleitet von Drohgebärden regelmäßig ein gewisses Unbehagen äußern, brauchen sie im Moment keine „faschistische Diktatur“, um ihre Vorherrschaft und Kontrolle über die Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Ihre Drohungen und Gesten sind Teil einer taktischen Strategie, die darauf abzielt, die Positionen von Apruebo Dignidad zu zermürben, um die von ihrem Kandidaten vorgeschlagenen Reformen zu mäßigen und weiter einzuschränken.

Worüber sollten sich die sozioökonomisch weiter unten verorteten Schichten also Sorgen machen?

Wenn man auch die Entwicklung der Situation in Chile in den vergangenen Jahren betrachtet, sollten wir ebenso oder mehr über etwas anderes besorgt sein als über das Aufkommen einer „faschistischen Regierung“. Nämlich über den faschistischen Vormarsch in der gegenwärtigen Demokratie während der Regierungen der klassischen Rechten (Sebastian Piñera 1 (2010-2014) und Piñera 2 (2018-2022)) und unter den Regierungen der Concertación (Michelle Bachelet 1 (2006-2010) und Bachelet 2 (2014-2018). Es ist ein Vormarsch, der sich in repressiver staatlicher Politik, in der Verbreitung und dem Erstarken einer Kultur mit faschistischen Zügen und in dem besorgniserregenden Wachstum von Gruppen und Positionen der extremen Rechten, innerhalb und außerhalb der traditionellen Rechten, manifestiert.

Das bedeutet, dass ein Sieg von Boric am 19. Dezember nur eine vorübergehende Erleichterung bedeuten würde, denn die Gefahr der extremen Rechten wird bestehen bleiben – insbesondere, wenn die wirtschaftliche und soziale Krise nicht bald gelöst wird. Wenn die Kräfte, die Boric unterstützen, die Wahl gewinnen und den Aufstieg der extremen Rechten aufhalten wollen, sollten sie sich nicht darauf konzentrieren, um bestimmte Nischen von rechten oder Mitte-Rechts-Stimmen zu kämpfen. Es hätte den Preis, dass sie ihr eigenes Programm kürzen, um es in den Augen der Konservativen „salonfähig“ zu machen, und dabei Gefahr laufen, linke Stimmen zu verprellen. Stattdessen sollten sie sich bemühen, die Mehrheit der Bevölkerung zu erreichen, die nicht zur Wahl geht und versuchen, sie auf der Grundlage konkreter, realisierbarer Vorschläge zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen zu überzeugen. Andernfalls steigt das Risiko eines reaktionären Rückschritts.

Inwieweit könnte der Ausgang der Präsidentschaftswahlen den Kampf der Basisbewegungen beeinflussen? Erleben wir einen historischen Wendepunkt, der uns in eine neue Phase der Bewegungen führen könnte?

Ohne die großen Unterschiede zu leugnen, die zwischen den Projekten der Kandidaten bestehen, die in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl aufeinandertreffen, schlägt keines der beiden Programme vor, das derzeitige Modell aus einer antikapitalistischen Perspektive zu überwinden. Im Fall von Kast ist dies so offensichtlich, dass es nicht notwendig ist, es zu analysieren. Über das Programm von Boric muss aber etwas sagen. Es wird häufig als anti-neoliberal dargestellt. Ohne es hier en detail zu analysieren, stellen wir jedoch fest, dass das Programm von Apruebo Dignidad, anders als etwa das Programm der Unidad Popular von 1970, keine antioligarchischen, antimonopolistischen oder antiimperialistischen Veränderungen vorschlägt, die es uns ermöglichen würden, den Weg zu künftigen antikapitalistischen Transformationen einzuschlagen.

Zweifellos leben wir in einer anderen Zeit und die Aufgaben von heute sind andere als die von vor einem halben Jahrhundert. Niemand kann vernünftigerweise behaupten, dass am Horizont der Sozialismus auf der Tagesordnung steht. Die Überwindung des Neoliberalismus und der Aufbau einer partizipativen Demokratie sind dringende Aufgaben, auf die sich eine solide Mehrheit der Bürger einigen kann. Wenn das Ziel der Überwindung des Neoliberalismus und des Aufbaus eines „sozialen, partizipatorischen und demokratischen Staates“ jedoch Realität werden und nicht nur Rhetorik bleiben soll, darf der anti-neoliberale Kampf nicht von dem anti-oligarchischen, anti-monopolistischen, antiimperialistischen und antikapitalistischen Kampf getrennt werden.

Enthält das Programm von Boric anti-monopolistische und antiimperialistische Aufgaben?

Die bloße Berufung auf Maßnahmen, die darauf abzielen, bestimmte monopolartige Praktiken einzuschränken, um einen stärker staatlich regulierten kapitalistischen Wettbewerb zu etablieren und Politiken für die Entwicklung eines „grünen Kapitalismus“ zu entwickeln, stellt keine konsequente und kohärente antimonopolistische Politik dar. Ähnliche Unzulänglichkeiten sind in Bezug auf die Beherrschung unserer Wirtschaft durch das imperialistische oder transnationale Kapital zu erkennen. Das Programm von Apruebo Dignidad sieht beispielsweise keine neue Verstaatlichung von Kupfer vor, dessen Reichtum für die Befriedigung der großen unbefriedigten sozialen Bedürfnisse unerlässlich ist.

Der Anti-Neoliberalismus dieses Programms beruht nicht auf tragfähigen Grundlagen, sondern ist vielmehr ein Bündel von Reformen – von denen viele gerecht und notwendig sind. Aber es wird in einer Sackgasse enden, ohne das erklärte Ziel zu erreichen. Denn die Reformen sind nicht Teil einer radikalen Perspektive, die notwendigerweise impliziert, auch vor großen Interessen nicht zurückzuschrecken, um die notwendigen Mittel zur Finanzierung sozialer Reformen zu erlangen.

Die Krise wird in Chile weitergehen, unabhängig davon, wer am 11. März 2022 die Präsidentschaft der Republik übernimmt. Denn die strukturellen Probleme können nicht mit einer Politik der halben Sachen gelöst werden. Man sollte sich nicht täuschen lassen: Es geht nicht darum, eine schnelle oder umgehende Lösung für die angehäuften Probleme zu finden – eine Angelegenheit, die zweifellos Zeit und Fortschrittlichkeit erfordert. Meine Beobachtung bezieht sich auf das Fehlen einer radikalen, wenn auch langfristigen Perspektive, die es ermöglichen würde, Teilaufgaben und Reformen mit einem Horizont der allgemeinen Transformation zu verbinden.

Übersetzung: Eva Schöck-Quinteros

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