1. Juli: Veränderung und Bruch

(Mexiko-Stadt, 3. April 2018, la jornada).- Welche reellen Möglichkeiten auf eine Änderung des Wirtschaftsmodells eröffnen sich bei den kommenden Präsidentschaftswahlen? Keine. Beim Urnengang am 1. Juli steht das Ende des neoliberalen Modells in Mexiko nicht auf der Tagesordnung. Die Option, einen anderen Weg als den  Konsens von Washington einzuschlagen, ist nicht in greifbarer Nähe. Aus zwei unterschiedlichen Gründen. Erstens, weil keine/r der Präsidentschaftskandidat*innen einen postneoliberalen Weg als notwendig einfordert. Es gibt kein einziges Regierungsprogramm, welches eine solche Alternative unterstützt. Zweitens, weil seit  dem Zeitraum 1994-1996 eine Reihe gesetzlicher Riegel verabschiedet wurden, die das neoliberale Projekt juristisch absichern. Alle Anwärter*innen auf das erste Amt im Staate betonen, dieser gesetzliche Rahmen müsse respektiert werden.

Aus unterschiedlichen Motiven behaupten Freund*innen und Feind*innen von Andrés Manuel López Obrador [dem in allen Umfragen führenden „Links“-Kandidaten, Anm. d. Ü.] das Gegenteil. Sie sehen in ihm den Kandidaten, der mit dem Modell bricht. Ist das tatsächlich so? Nein. Sein „Alternatives Projekt der Nation“ will den Staat auf demokratische Weise zurückgewinnen und ihn zum Antrieb der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung des Landes machen. Das Projekt sieht vor, die Mexikaner*innen zu befragen, ob die Strukturreformen beibehalten oder verworfen werden sollen. Es kündigt an, der Haushalt werde wirklich ein öffentlicher sein und die Armen hätten Vorrang. Es nennt als zentralen Punkt die Korruptionsbekämpfung. Aber anders als in der Vergangenheit ist nicht mehr explizit von der Abschaffung des neoliberalen Wirtschaftsmodells die Rede.

Unter López Obrador sind keine grundlegenden Veränderungen zu erwarten

Doch auch wenn es keinen grundlegenden Bruch mit dem bisher verfolgten Entwicklungsmodell gibt, bedeutet es nicht, dass dieses Projekt für reine Kontinuität steht. Natürlich wird es Änderungen geben; aber das Wesentliche bleibt. Wo sind Modifikationen auszumachen? Zunächst ist da der zentrale Wahlkampfpunkt, die Verträge der öffentlichen Auftragsvergabe und die Regierungskonzessionen zu überprüfen. Laut dem Historiker Lorenzo Meyer sind diese das Herzstück der Politik. Vor allem geht es um die Verträge für den Bau des neuen internationalen Flughafens von Mexiko-Stadt und die Konzessionen für die Ausbeutung der Erdölfelder. Eine weitere Änderung hat mit der Bildungsreform zu tun. Obrador, Kandidat des Bündnisses „Gemeinsam schreiben wir Geschichte“ (Juntos Hacemos Historia) versprach schriftlich gegenüber den „Sozialen Fortschrittlichen Netzwerken“, dem Flügel der Elba Esther Gordillo nahestehenden Lehrer*innen, die Bildungsreform rückgängig zu machen und dem mexikanischen Kongress einen neuen Gesetzesentwurf zuzuschicken. Der strafende Ansatz der Lehrer*innenevaluierung soll wegfallen. Obradors Vorschlag berührt aber weder die Abfassung des [Bildungs-]Artikels 3 der mexikanischen Verfassung noch die Ausführungsgesetze zum Thema.

Aber abgesehen vom politischen Willen, das neoliberale Modell zu modifizieren, besteht eine juristische Struktur, die die Änderung substantieller Aspekte verhindern soll. Es handelt sich nicht um einen einzelnen vorgeschobenen Riegel, sondern um einen Riegelkomplex. Ausgebrütet wurde er mit den Abgeordnetenkammern, die die Reformen verabschiedeten, den Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes, den Vorgehensweisen der Regulierungsorgane in der Wirtschaft sowie den Unterschriften unter die Freihandelsverträge. Der verabschiedete Gesetzesrahmen ist ein wahres Minenfeld. Ausnahmslos begünstigt er die großen Unternehmen, viele davon Multis, gegenüber den Regulierungskompetenzen des Staates. Dieser neue Gesetzesrahmen begann weder mit dem sogenannten Mexiko-Pakt [Dezember 2012] noch mit der Energiereform [2014]. Diese sind nur Teil des letzten Zyklus der neoliberalen Reformen.

Oberster Gerichtshof als Hüter des Neoliberalismus

Der Schlüsselmoment für diese juristische Brandschutzmauer war die Umstrukturierung des Obersten Gerichtshofes im Dezember 1994. Handstreichartig setzte Präsident Ernesto Zedillo damals die amtierenden Richter*innen ab und setzte das Gericht neu mit nur noch elf Mitgliedern zusammen. Wie es Miguel Angel Romero dokumentiert hat, konnte das neoliberale Projekt in Mexiko seitdem auf eine enorme juristische Schutzvorrichtung zählen. Wer es wagen sollte, die Stützpfeiler des freien Marktes infrage zu stellen, muss die „Zollstation“ passieren, die in letzter Instanz über die Verfassungsmäßigkeit möglicher Änderungen entscheidet. Und die Richter*innen haben ein ums andere Mal gegen die Interessen der breiten Bevölkerung gestimmt. Sei es bei der Indígena-Reform, dem Gesetz über die staatliche Sozialversicherungsbehörde (ISSSTE) oder dem Beschluss über die Verfassungskonformität der Lehrer*innenbewertung.

Das vielleicht klarste Beispiel der Rolle des Gerichtshofes ist die Diskussion über den Zinseszins im Gefolge der Finanzkrise von 1995 gewesen. Die Richterin Olga Sánchez Cordero (heute von López Obrador als Innenministerin vorgeschlagen) stimmte für die Legalisierung des Wucherzinses. Grundlegend sind ebenfalls die Riegel gewesen, die die ökonomischen Regulierungsorgane vorgeschoben haben. Statt den Wettbewerb zu fördern, haben sie in der Praxis die Marktkonzentration unterstützt und die Monopole gestärkt. Statt über eine wirkliche Autonomie zu verfügen, haben sie der Regierung eine außerordentliche Entscheidungsbefugnis eingeräumt.

Konzerne haben Druckmittel gegen die Regierungen

Die Unterzeichnung unzähliger Freihandelsverträge zwangen vor allem wegen der Investitionskapitel dazu, die nationale Gesetzgebung zu ändern. Das Land wurde einem „neuen unternehmerfreundlichen Recht“ unterworfen, wie es das Strategische Lateinamerikanische Zentrum für Geopolitik (Celag) ausgedrückt hat. Dieses Recht zielt darauf ab, den ausländischen Investitionen Sicherheit zu geben. Das I-Tüpfelchen bei diesem Verlust nationaler Souveränität ist der jüngste Beitritt Mexikos zur Vereinbarung über die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Staaten und Mitgliedern [sprich: Investoren] anderer Staaten (Ciadi-Abkommen). Mexiko hat auch akzeptiert, dass die zuständige Weltbankorganisation die Schlichterin bei NAFTA-Kontroversen spielt. Damit besitzen die multinationalen Konzerne, als Schlichtungstribunal getarnt, ein Druckmittel gegen die Regierungen, damit diese keine Unternehmensinteressen beeinträchtigen. Sich der Autorität des Schlichtungsorgans unterworfen zu haben, kommt einem Suizid gleich.

Ein neues Entwicklungsmodell zugunsten der Bevölkerungsmehrheiten anzugehen (und ich spreche nicht von Sozialismus) ist nicht machbar, solange dieses offen unternehmerfreundliche juristische Flechtwerk nicht aufgelöst wird. Doch im Rahmen der bevorstehenden Wahlen hat keine politische Kraft Vorschläge unterbreitet, dies zu tun.

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